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|Lawine am Mölltaler Gletscher 2019 mit einer verschütteten Person
von Eike Roth
28. Mrz 2021 - 16 min Lesezeit

Die Lawinenkunde – Das geheimnisvolle Wesen

Ungekürzt: Eike Roth stellt in diesem Leserbrief zur bergundsteigen Ausgabe #113 zwölf Argumente zum Thema Lawinenkunde in den Raum. Da uns nur leidenschaftliche Debatten weiterbringen, wollen wir euch seine Sicht der Dinge keinesfalls vorenthalten.

Eike Roth, der Autor des Fachbuches „Lawinen. Verstehen. Vermeiden. Praxistipps“ (Rother 2013), hat die bergundsteigen Ausgabe #113 genau unter die Lupe genommen. In mehreren Beiträgen ging es um verschiedene Ansätze in der Lawinenkunde. Teilweise stehen diese im Widerspruch. Das gibt natürlich Stoff für Diskussionen.

Eine gekürzte Version des Leserbriefes ist im „Dialog“ des bergundsteigen #114 zu finden, hier alle 12 Argumente im vollen Umfang.

(Nachtrag April 2021: Die Antwort auf Roth’s Argumente von Wolfgang Behr und Jan Mersch gibt es hier.)

1. Gültigkeit der Gefahrenstufe für den Einzelhang

Ein altes Thema. Darf man aus der Gefahrenstufe (GST) des Lawinenlageberichtes (LLB) eine Aussage für den Einzelhang ableiten? Drei Zitate: „Die GST gilt nicht im Einzelhang, so viel ist mal sicher. Das ist der Haken an der Sache.“ (p. 49), „Die Auslösewahrscheinlichkeit lässt sich eigentlich nicht über die Stufe abschätzen.“ (p. 50) und „Die GST ist im Einzelhang nicht anwendbar.“ (p. 51). Ursache ist angeblich, dass der LLB nur den Mittelwert einer großen Region angibt und dieser Mittelwert nichts über einen konkreten Einzelhang aussagt. Ersteres stimmt, letzteres m. E. nicht. Hierzu gleich mehr. Vorab: Ob ein Hang hält oder nicht, kann man prinzipiell nicht exakt angeben, sondern nur als Wahrscheinlichkeit. Eine solche kann man aber immer dann auch für den Einzelhang angeben, wenn man einen Mittelwert für die ganze Region hat. Das sei nachfolgend gezeigt:

Nehmen wir eine große Region gemäß LLB. Diese habe 1200 potenzielle Lawinenhänge. Davon seien 1000 stabil und 200 instabil, wir wissen nur nicht, welche. Wir haben also eine fiktive GST, derzufolge im Mittel jeder sechste Hang instabil ist.

Zur Veranschaulichung betrachten wir 1200 zufällig geworfene Würfel. Ein Sechser möge einem instabilen Hang entsprechen, alles Andere einem stabilen. Die mittleren Wahrscheinlichkeiten sind dann bei den Hängen und bei den Würfeln gleich. Aber bei den Würfeln wissen wir, dass auch bei jedem einzelnen Würfel, den wir willkürlich herausgreifen, die Wahrscheinlichkeit für sechs Augen genau ein Sechstel beträgt. Das gilt auch für die Lawinenhänge: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein willkürlich herausgegriffener Hang instabil ist, ist genau so groß wie die mittlere Wahrscheinlichkeit für alle 1200 Hänge! Die Information, die wir über die mittlere Wahrscheinlichkeit haben (also die GST), die sagt uns nicht nichts für einen Einzelhang aus, sondern sie gibt uns auch für jeden beliebig herausgegriffenen Einzelhang die Wahrscheinlichkeit an, mit der dieser instabil ist! Was wir für den Mittelwert wissen, das gilt auch für jeden Einzelhang (solange wir über diesen Einzelhang nicht mehr wissen). Das ist m. E. ein Grundgesetz der Statistik.

Was passiert bei Zusatzinformationen? Zunächst nehmen wir an, dass einige Würfel gezinkt sind: Unter den 1200 Würfeln gibt es nicht 200 Sechser, sondern 400. Wir haben daher eine neue mittlere Wahrscheinlichkeit. Aber das ändert nichts an der Gesetzmäßigkeit: Auch die neue mittlere Wahrscheinlichkeit gilt wieder exakt gleich auch für jeden einzelnen Würfel: Die Wahrscheinlichkeit für einen Sechser beträgt jetzt jeweils ein Drittel.

Nächste Zusatzinformation: Nur rote Würfel sind gezinkt. Dann ist die Wahrscheinlichkeit für einen Sechser bei einem beliebig herausgegriffenen Würfel höher als 1 in 3, falls wir ihn als roten Würfel erkennen können, sie ist kleiner bei jeder anderen Farbe und weiterhin genau ein Drittel, wenn wir die Farbe nicht erkennen. Noch präziser könnten wir die Wahrscheinlichkeit angeben, wenn wir z. B. auch die Gesamtzahl der roten Würfel wüssten. Jede Zusatzinformation bringt uns ein Stück weiter.

Analog ist es bei den Lawinen: Die Basisinformation des LLB gibt uns auch für jeden Einzelhang exakt die gleiche Information, wie wir sie für den Mittelwert der ganzen Region haben! Und mit jeder Zusatzinformation, die wir für einen bestimmten Hang bekommen (und verstehen!), können wir die Wahrscheinlichkeit in diesem Hang genauer angeben. Solange wir aber nichts Anderes wissen, ist es statistisch vollkommen berechtigt, die GST des LLB auch zur Beurteilung des Einzelhanges einzusetzen! Das ist genauso zulässig, wie mit der GST ein „geeignetes Tourengebiet“ auszuwählen.

Ergänzung: Nach p. 45 hätten 85 % der Todesopfer der letzten sieben Winter vermieden werden können, wenn eine probabilistische Methode (konkret die SnowCard) konsequent mit der GST für den Einzelhang angewendet worden wäre! Und auf p. 92 wird von einer ganz anderen Untersuchung berichtet: Die Hangneigung und die GST sind die entscheidenden Einflussgrößen auf das Lawinenrisiko. Theorie und Erfahrung bestätigen übereinstimmend die Berechtigung, einen Einzelhang nach dessen Steilheit und der GST zu bewerten! In meinen Augen können wir die Diskussion über die Verwendbarkeit des LLB auch für den Einzelhang beenden.

Lawine am Mölltaler Gletscher 2019 mit einer verschütteten Person, die überlebt hat. Foto: busarchiv

2. Trennschärfe der GST

Abb. 2 auf p. 49 zeigt schematisch die Häufigkeitsverteilung der Schneedeckenstabilität. Auffällig ist die Kurve für GST 1: Ein scharf ausgeprägtes Maximum knapp oberhalb der „mittleren“ Stabilität und mittelhohe Werte rechts davon. Die Kurven für GST 2 bis 4 haben demgegenüber viel breitere und deutlich weiter links liegende Maxima und bei guter Stabilität sind sie untereinander fast gleich, aber weit unter der von GST 1. Die Kurven für GST 2 und 3 überlappen sich so stark, dass es, dem Text zufolge, keine „Trennschärfe“ gibt bzw. die Kurven „zu ähnlich für die Beurteilung eines Hanges“ sind. Ob ein bestimmter Hang „gefährlicher ist als ein anderer“, kann „die Stufe nicht mehr abbilden“. Für eine hinreichend sichere Beurteilung braucht man an gut 80 % der Tage (bei GST 2 und 3) „ein anderes Werkzeug als lediglich die Zahl, die Gefahrenstufe allein“. Auch in Abb. 3 steht, dass bei den mittleren Stufen „die Statistik nicht hilft“.

Diese Aussagen stehen m. E. klar im Widerspruch zu den schon erwähnten guten Ergebnissen der SnowCard (p. 45). Ist der Verlauf der Kurven in Abb. 2 durch Messungen quantitativ belegt, oder nur „schematisch“ wiedergegeben? Bei den problembehafteten GST 2 und 3 würde schon ein kleines Auseinanderrücken der Maxima die Überlappung stark verkleinern und die Trennschärfe erheblich verbessern. Es würde auch die Auffälligkeit beseitigen, dass sich diese beiden Kurven noch im aufsteigenden Ast der GST 3 schneiden, während alle anderen Schnittpunkte bereits im absteigenden Ast aller jeweils höheren GST liegen. Hier wären nähere Informationen willkommen.

3. Gefahr und Risiko

Ausgehend von der unzureichenden Trennung dieser beiden Begriffe im alltäglichen Gebrauch wird gut herausgearbeitet, dass das Risiko immer aus zwei Komponenten besteht, der Wahrscheinlichkeit, dass eine Lawine abgeht und den Konsequenzen, wenn sie abgeht. Stets müssen beide betrachtet werden: „Das Risiko ist die Kombination aus Gefahr und Konsequenz“ (p. 50).

Die „Wahrscheinlichkeit“ wird mit der „Gefahr“ gleichgesetzt, z. B. auch im Namen der GKMR-Methode. Zur Quantifizierung der Gefahr wird die GST des LLB genommen. Als Begriffspräzisierung ist das natürlich zulässig. Aber auf p. 51 steht: „Auch mit den sogenannten strategischen Methoden der 1990er-Jahre beurteilen wir erst einmal nur die Gefahr“ (also die Auslösewahrscheinlichkeit). Das scheint mir ein Missverständnis zu sein: Die strategischen (= probabilistischen) Methoden verwenden zwar die GST als zentrale Größe, aber sie richten sich dabei gerade nicht nach der Wahrscheinlichkeit, sondern nach dem Risiko. Ihr Maß ist die Zahl der beobachteten Todesfälle, da sind die Konsequenzen bereits mit dabei. Das ist ja gerade ihr Vorteil gegenüber den analytischen Methoden, die zunächst nur die Stabilität der Schneedecke (die Auslösewahrscheinlichkeit) untersuchen und dann anschließend noch die Konsequenzen mit berücksichtigen müssen. Siehe hierzu auch Ziff. 5.

In der Technik ist das Risiko präzise das Produkt aus der Wahrscheinlichkeit und den Konsequenzen. Die GKMR-Methode (p. 48 ff) ist da deutlich weicher: Bei den Gefahren (= Wahrscheinlichkeit) und bei den Konsequenzen werden nach unscharfen Kriterien jeweils vier Plus oder Minus vergeben und dann in wenig formalisierter Form gegenseitig aufgerechnet. Zum endgültigen Risikowert tragen dann noch „Maßnahmen“ bei, deren quantitative Berücksichtigung auch nicht streng geregelt ist. Das Ergebnis unterliegt daher einem beachtlichen subjektiven Bewertungsspielraum. Das ist nicht nur bei Anfängern problematisch, sondern auch bei Experten, siehe Ziff. 6.

Lawinenunfall Sulzkogel, Nördliche Stubaier Alpen, 2950 m, Südosthang 40°, Gefahrenstufe 3, 3 Tote
Foto: Rudi Mair, Patrick Nairz, Tyrolia-Verlag

4. Sammelpunkte überbewertet?

Die GKMR-Methode kennt vier mögliche „Konsequenzen“ (p. 55). Eine davon ist das Vorhandensein von Sammelpunkten. Es soll möglichst nur einer und nicht gleich die ganze Gruppe verschüttet werden. Die Vorteile sind klar. Aber ist es wirklich berechtigt, einen Menschen einem Risiko auszusetzen, das man für mehrere Menschen meint, ausschließen zu müssen? Ist das Risiko einer Verschüttung nicht auf jeden Fall so groß, dass man es auch dann vermeiden muss, wenn nur einer davon betroffen ist? Sollte das Nutzen von Sammelpunkten nicht besser einfach als Standard-Verhalten betrachtet werden, das unabhängig von allem Anderen im Zweifelfall immer einzuhalten ist, ähnlich wie Entlastungsabstände?

5. Probabilistisch versus analytisch

Welche Methode die „beste“ ist, richtet sich auch nach dem Nutzer. Die Bergführerausbildung z. B. dauert Jahre. Da kann man jede Methode ausführlich lehren und ein einheitliches, hohes Niveau erreichen. Der „normale Skitourengeher“ befasst sich jedoch sehr unterschiedlich intensiv mit Lawinen. Für dieses Zielpublikum muss die Lawinenkunde viel einfacher und vor allem auch in der Tiefe stark variabel sein. Zwei Schritten erscheinen mir sinnvoll: Im Schritt 1 eine Bewertung nach klar vorgegebenen Kriterien, die leicht merkbar und „freihändig“ bewertbar sind (ohne Hilfsmittel, wie Formulare etc.). Mit möglichst wenig Spezialwissen sollte dabei ein so hohes Sicherheitsniveau erreicht werden, dass Schritt 1 notfalls auch alleine ausreichend ist. Das kann m. E. nur eine probabilistische Methode leisten, beispielsweise die elementare Reduktionsmethode.

Schritt 2 sollte nicht zwingend erforderlich, aber dringend angeraten sein. Die Möglichkeit ungleicher Tiefe in Ausbildung und Anwendung ist m. E. besonders wichtig. Vom Anfänger bis zum Experten sollten diesen Schritt alle so durchführen können, wie es ihrem jeweiligen Können (und vorhandenen Zusatzinformationen) entspricht. Sofern dadurch die Sicherheit weiter erhöht wird, ist alles klar. Unter welchen Randbedingungen aber auch ein Aufweichen des Ergebnisses von Schritt 1 zulässig ist (erweiterte Bewegungsfreiheit), müsste m. E. noch intensiver diskutiert werden. Zurückhaltung und möglichst klare Vorgaben scheinen mir unerlässlich, da in Schritt 2 unvermeidbar mehr Spielraum für subjektive Interpretationen besteht. Dieses Problem gilt m. E. auch für Experten, siehe Ziff. 6.

6. Expertenfalle

E. sind bei Lawinenunglücken insbesondere drei Charakteristika wichtig:

  • Erstens ist es sehr schwer, die Gefährlichkeit eines Hanges vorab richtig einzuschätzen
  • Zweitens hat das persönliche Können nur sehr geringen Einfluss auf den Ablauf
  • drittens sind Verschüttungen sehr selten, aber wenn sie eintreten, dann sind sie oft tödlich.

Zum ersten Punkt ein Vergleich: Beim Klettern z. B. kann die Schwierigkeit einer bestimmten Stelle meist schon von weitem relativ gut beurteilt werden. Bei Lawinen sieht jedoch selbst ein Experte oft nur einen makellos weißen Hang vor sich, dessen Gefährlichkeit schlecht einzuschätzen ist. Ein systematisches (regelbasiertes) Vorgehen ist daher wichtiger als beim Klettern (und bei anderen alpinen Gefahren). Das gilt für Anfänger und Experten gleichermaßen.

Auch zum zweiten Punkt ein Vergleich mit dem Klettern: Eine schwere Kletterstelle zu meistern, ist vor allem eine Frage des persönlichen Kletterkönnens. Ob ein Hang hält oder nicht, hängt jedoch kaum vom skifahrerischen Können des Tourengehers ab. Außerdem hilft in einer Lawine selbst ein Airbag viel weniger gegen den Tod als beim Klettern ein richtig eingesetztes Seil. Bei Lawinenereignissen hilft Expertentum daher relativ wenig.

Der dritte Punkt führt dazu, dass die wirksamste Art des Lernens, durch Versuch und Irrtum, bei Lawinen nur sehr eingeschränkt möglich ist. Daher muss man sich verstärkt nach kollektiven Erfahrungen richten. Das spricht m. E. klar für probabilistische Methoden. Außerdem könnte die Seltenheit der Ereignisse vor allem Experten leicht zu Fehleinschätzungen verleiten: Experte wird man durch viele Skitouren. Unfallfreie Skitouren, sonst kommt man gar nicht so weit. Und dann ist man leicht verleitet, diese Unfallfreiheit auf das eigene Können zurück zu führen. Dabei war die Ursache vielleicht nur die Statistik. Aber die spricht auch dafür, dass die Unfallfreiheit nicht ewig anhält. Der Experte ist dann möglicherweise in die Falle getappt, sein Können infolge der langen Unfallfreiheit zu überschätzen.

Mein Eindruck ist jedenfalls, dass Experten bei Lawinen tatsächlich ein Problem haben: Bei ihnen scheint der Anteil von Lawinenunglücken am gesamten alpinen Unfallgeschehen deutlich höher zu sein als bei „Normalmenschen“. Experten können Unfälle besser vermeiden. Bei Lawinen können sie das aber augenscheinlich weniger gut als bei anderen Unfällen. Sie haben zwar das Wissen und das Können, ein Nein nach regelbasierten Methoden ggf. begründet zu überschreiben oder überhaupt nach eigener Beurteilung zu entscheiden, aber sie können auch leicht in die Falle tappen, dieses Wissen und Können aus ihrer positiven Erfahrung heraus zu überschätzen. Eine sorgfältig statistische Überprüfung, ob diese „Expertenfalle“ tatsächlich existiert, scheint mir sinnvoll zu sein.

Zur Erläuterung: Auf p. 62 findet jemand bei einer Schneedeckenuntersuchung die ungünstigen Angaben des LLB bestätigt. Dann ist alles klar, es bleibt bei der negativen Beurteilung. Was aber, wenn der Jemand meint, stabilere Verhältnisse zu erkennen? Ab wann „darf“ er die Angaben im LLB als zu restriktiv einstufen? Tappt gerade ein Experte dabei manchmal in die „Expertenfalle“ hinein?

7. Einzugsbereich

Der „Beurteilungsradius“ (p. 42) könnte in der Analytik angeben, welchen Bereich man beachten muss, um die Wahrscheinlichkeit einer Lawinenauslösung von einem bestimmten Punkt aus beurteilen zu können. Zusätzlich gibt es auch spontan abbrechende Lawinen von weiter oben.

Der „Einzugsbereich“ ist demgegenüber ein Begriff aus der Probabilistik. Er hat zusätzlich die Aufgabe, einen ausreichenden Verzicht auf Hangsteilheit zu erreichen: Pro GST muss man auf 5 Grad verzichten. Das langt aber oft nicht. Ausreichende Sicherheit erhält man nur bei fallweise erweitertem Verzicht. Daher die bekannte Erweiterung des „Einzugsbereiches“ mit der GST. Diese Erweiterung wirkt oft deutlich stärker als die 5 Grad alleine, weil in einem Bereich meist umso steilere Hangpartien enthalten sind, je größer der Bereich ist. Nur mit den fünf Grad und dem erweiterten Einzugsbereich zusammen erhält man ein befriedigendes Ergebnis.

Das entspricht zwar auch dem analytischen Verständnis, die konkrete Ausgestaltung des Verzichtes ergibt sich aber nur durch die optimale Anpassung an das beobachtete Unfallgeschehen. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Stärke, weil sich daraus die Risikoorientierung der probabilistischen Methoden ergibt, Schwäche, weil es eben nur Mathematik ist. Diese Schwäche ist aber unbedeutend, wie die beeindruckende Effektivität bestätigt (Vermeidbarkeit von Todesfällen, p. 45).

8. Steilheit von Lawinen

Die „Harvey-Kurve“ weist aus, dass bei tatsächlich abgegangenen Lawinen die jeweils steilste Stelle im Hang bei allen GST sehr ähnlich ist. Nach p. 43 wäre „eine Auswertung der Steilheit am Auslösepunkt passender“. Das klingt plausibel: Es ist ja immer der gleiche Hang, der abrutscht, daher muss er auch immer die gleiche steilste Stelle haben! Er rutscht nur unterschiedlich häufig ab. Die eigentlich interessante Größe ist wohl, wie die Auslösewahrscheinlichkeit von einer bestimmten Stelle aus mit der GST zunimmt. Etwas Ähnliches gibt Abb. 5 an (p. 46): Zahlen zur „mittleren Steilheit am Auslösepunkt im Unfallhang“. Wie werden dabei Fernauslösungen von einem Punkt außerhalb des Hanges berücksichtigt?

9. Hohe Falschalarmraten

Ein „Falschalarm“ liegt vor, wenn ein Hang als „gefährlich“ eingestuft wird, obwohl er bei Betreten doch gehalten hätte (p. 52). Die Falschalarmrate wird mit „deutlich über 80 %“ angegeben und als „hoch“ bezeichnet. Das halte ich für die falsche Blickrichtung: Wir wollen sehr seltene Ereignisse (die Auslösung von Lawinen) noch seltener machen. Eine hohe Falschalarmrate ist daher schlichtweg trivial. Dem gegenüber steht eine Erfolgsquote von rund 85 % (vermeidbare Tote, p. 45). Ob diese Erfolgsquote ein paar Prozentpunkte höher oder niedriger ist, macht sehr viel aus, ändert an der Falschalarmrate aber so gut wie gar nichts. Wir sollten auf die Erfolgsquote schauen, nicht auf die Falschalarmrate. Würden wir letztere auf „aussagekräftige“ Werte reduzieren, bei denen man eine Veränderung merkt, z. B. auf 50 %, dann würde kein Skitourengeher alt werden! Bei Lawinen brauchen wir eine hohe Falschalarmrate!

10. Weitere Probleme bei GST 2 und 3

In der Erfolgsbilanz der SnowCard (p. 45 f) fällt der relativ kleine Wert der Vermeidbarkeit bei GST 2 auf: Nur 59 % gegenüber sonst über 80 %. Vielleicht ist das auf die Großunfälle zurückzuführen, die bei GST 2 gelegentlich überraschend auftreten. Vermutlich, wenn relativ kleine Lawinen, die bei GST 2 durchaus möglich sind, mit ihrer Gewalteinwirkung viel tiefer liegende Schwachschichten stören. Ein Großunfall kann daraus werden, wenn sich viele Personen im Hang aufhalten. Vielleicht sollte im LLB verstärkt auf diese Gefahr hingewiesen werden, wenn sie voraussagbar ist.

Problematisch ist die GST 3: Es gibt sie am häufigsten und bei ihr gibt es die meisten Lawinentoten. Die Diskussion, die Stufe zu unterteilen, ist alt, sollte aber vielleicht noch intensiviert werden.

11. Faktor Mensch unterbewertet?

Bei GST 1 und 4 sind Entscheidungen meist relativ einfach: Bei 1 darf man fast alles tun, bei 4 fast nichts. Schwieriger ist es bei GST 2 und 3. Da ist eine detaillierte Lawinenkunde wichtig. Die sagt, nach welchen objektiven Fakten man sich richten soll. Doch ein Restrisiko verbleibt immer, bei Lawinen ist auch die sorgfältigste Entscheidung nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit richtig.

Viel größer als diese prinzipielle Unsicherheit ist meiner Meinung nach aber der Einfluss, den der „Faktor Mensch“ auf die Entscheidung hat. Der bestimmt das Risiko, das tatsächlich eingegangen wird. Wir sehen meist nur das, was wir sehen wollen, und wir entscheiden so, wie wir es uns tief in unserem Inneren wünschen. Noch größer ist m. E. der Einfluss von Gruppen: Deren Druck sind wir uns meist nicht bewusst, geben ihm aber sehr häufig nach. Zugespitzt ausgedrückt: Mehr Informationen über das Verhalten von Menschen in Abhängigkeit von ihrer momentanen Verfassung und in Wechselwirkung mit der Gruppe, in die sie eingebunden sind, sind wichtiger als mehr Informationen über Lawinen. Wenn wir Prävention wichtig nehmen, dann sollten wir in unserer Lawinenausbildung den Faktor Mensch nicht nur regelmäßig erwähnen, sondern auch Techniken mit einbauen, wie man seinen Einfluss möglichst effektiv zurückdrängen kann.

12. Potentielles Lawinengelände

Nach p. 45 wären mit der SnowCard „85 % der Toten vermeidbar gewesen“ und nach p. 46 „waren 92 % der vermeidbaren Toten in Geländebereichen unterwegs, die klar vom jeweiligen LLB als potentielles Lawinengelände benannt wurden“. Das sieht danach aus, als wäre das „potentielle Lawinengelände“ gemäß LLB ein wirksameres Entscheidungskriterium als die SnowCard. Wie gut oder wie schwer es anzuwenden ist, müsste aber noch genauer überprüft werden. Und was wäre der Preis? Was dürfte man dann überhaupt noch tun? Vielleicht wäre es sinnvoll, das einmal etwas detaillierter zu untersuchen. Auf jeden Fall aber macht es Sinn, bei der Entscheidung auch die Angaben im LLB zum potentiellen Lawinengelände mit zu berücksichtigen!

Erschienen in der
Ausgabe #113 (Winter 20-21)