
Sonnenschein-Anxiety, wie bitte?
Während der Pandemie war es die Hölle. Es schien der schneereichste und zugleich sonnigste Winter seit Menschengedenken zu sein. Social Media floss über von Fotos der strahlend schönen, tief verschneiten Berge – und man durfte nicht hin, nicht Skifahren, nicht auf Skitour gehen. Die Angst, diesen Winter zu verpassen, wuchs und wuchs. Da kickte die FOMO richtig rein.
Die Fear Of Missing Out, die Angst, etwas zu verpassen.
Der Begriff FOMO wird meistens für junge Menschen verwendet, die die Angst umtreibt, jene angesagte Party, diesen Rave oder ein sonstiges Highlight zu verpassen. Wie stark sich das auch in Bezug auf die Berge auswirkt, haben wir in der bergundsteigen #130 untersucht. Der bergundsteigen-Redakteur Simon Schöpf hat dazu einen spöttischen Kommentar geschrieben, der sich der „Sonnenschein-Anxiety“ widmet.

Fomo? Fomo! Das bergundsteigen #130 (Frühling 2025) widmet sich einer vielschichtigen, modernen Ausprägung von Angst: der „Fear of Missing Out“ (FOMO).
Barbara Schaefer: „Sonnenschein-Anxiety“, ernsthaft?! Hast du den Begriff erfunden?
Simon Schöpf: Ja, das habe ich quasi erfunden. Ich meine damit den Schönwetter-Stress, das subjektive Empfinden, bei Sonnenschein unbedingt etwas unternehmen zu müssen. Das haben Bergsteiger aber natürlich auch andere Outdoor-Sportler. Wenn an einem tollen Tag kein Gewitter droht, oder frischer Pulverschnee liegt, dann entsteht ein innerer Zwang, auf den Berg zu müssen. Und wenn man nicht kann, weil man über Excel-Tabellen im Büro sitzt, oder mit den Kindern etwas macht, dann kann einen diese innere Unruhe erfassen.
Wird jetzt damit die neuste Sau durchs Dorf getrieben, nach FOMO, YOLO, JOMO?
Nein, so habe ich das nicht gemeint, das wird nicht der neue Hashtag. Es beschreibt eher ein diffuses Gefühl. Aber auch eine Selbstkritik, mit Selbstironie. Rauszugehen ist grundsätzlich etwas Positives. Aber wenn man es nicht mehr genießen kann, zum Beispiel auch bei wolkenlosem Himmel mal ein gutes Buch zu lesen, dann ist vielleicht etwas nicht in Ordnung. Anderes ist eben auch wichtig oder noch wichtiger: die Familie, die Kinder, oder sozial tätig werden.

Du bezeichnest den „Schönwetterstress“ als die umgekehrte saisonale Störung zum „Winter-Blues“. Wie ist das zu verstehen?
Man spricht von saisonalen affektiven Störungen vor allem, wenn die Tage kurz sind, es dunkel ist und man davon depressive Verstimmungen bekommen kann. Der Schönwetterstress ist das absurd Umgedrehte: Dass man bei Sonnenschein unzufrieden wird. Aber dazu gibt es keine Forschung, es ist ein diffuses Gefühl.
Ein bisschen Berg-Fomo wäre doch ganz gut.
Es geht also darum, dass Leute unbedingt losziehen möchten. Beinhaltet das auch ein Gefahren-Potential, weil Menschen wie unter Zwang auf den Berg müssen, obwohl sie vielleicht gerade nicht ganz fit sind, oder der frische Schneefall doch nicht optimal für Skitouren ist?
Da muss man schon genauer hinschauen: Wenn jemand viel in den Bergen ist, steigt rein statistisch die Gefahr, dass etwas passiert, so wie bei jemandem, der viel mit dem Auto unterwegs ist. Aber andererseits wird man erfahrener, kann Gefahren besser einschätzen. Also so eindeutig ist das nicht, es ist komplex. Es kann aber auch ein Zuviel geben, man bereitet sich auf die Touren nicht mehr richtig vor, wird schleißig, startet bei suboptimalen Verhältnissen. Da kann es durchaus sein, dass das Gefahrenpotential steigt.

Ein bergundsteigen-Artikel dreht sich um den Begriff „bergsüchtig“. Dahinter können sich psychische Probleme entwickeln, krankhaftes Suchtverhalten etwa. Wie sieht es damit aus?
Eine Sucht im medizinischen Sinne ist nie gut. Aber ein Mittelmaß kann positiv sein. Wenn ich meinen Körper in der Natur bewege, das tut auch der Psyche gut. Wir als Gesellschaft in unserer hochtechnisierten Welt bewegen uns eher viel zu wenig, wir sind viel zu wenig in der Natur unterwegs. Da wäre ein bisschen Berg-FOMO doch ganz gut. Und es ist nicht so schlimm, wenn es ein paar Leute ein bisschen übertreiben.
Bergsucht

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Hat FOMO direkt mit Social Media zu tun?
Man wird zugeballert mit Häppchen, den schönsten Ausschnitten vom Leben anderer. Da kann man schon verführt werden. Man liest es ja auch immer wieder: „Beim Selfie abgestürzt“. Dass man sich also potentiell in Gefahr bringen kann.
Aber hat es diesen Drang, am Wochenende loszuziehen, nicht immer schon gegeben? Man wollte auch früher mitmachen und davon erzählen.
Ja klar, das hat es immer gegeben. Aber vor dem digitalen Zeitalter hat man beim Stammtisch oder im Büro davon erzählt. Die Motivation, ob ich etwas für eine anonyme Masse an Followern unternehme oder für Freunde, das ist schon grundsätzlich etwas anderes.
Man sollte bei Sonnenschein mal etwas anderes machen – und das auch genießen.
Gab es Reaktionen auf deinen Kommentar in der bergsteigen-Ausgabe #130 bekommen?
Überraschend viele! Einige haben mir geschrieben, dass sie sich auch so fühlen, dabei sei es doch eigentlich egal, wenn man mal einen Tag verpasst.
Und wie kommt man wieder raus aus FOMO und der Sunshine-Anxiety?
Der erste Schritt ist die Selbsterkenntnis, zu merken, dass man getrieben ist. Bergsport ist eine gute Sache, aber wenn es zwanghaft wird, sollte man sich fragen, ob das nicht eine Stufe zu viel ist. Dann sollte man mal bei Sonnenschein etwas anderes machen – und das auch genießen und nicht zum Berg hoch schielen und sich fragen: Warum bin ich jetzt nicht da oben?! Dann kann man es vielleicht am nächsten Tag wieder mehr genießen. Es wäre gut, sich zu fragen, ob man etwas macht, weil man selbst den Antrieb hat oder andere beeindrucken will.
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Kommentar „Sonnenschein-Stress“ im bergundsteigen #130