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Mit Girth-X wird ein Ankerstich bezeichnet, bei dem einer der beiden Stränge einmal gedreht wird, also ähnlich wie beim alten Kräftedreieck. Illustration: Georg Sojer
19. Mrz 2024 - 4 min Lesezeit

Girth-X beim Südtiroler Stand

Von Yann Camus aus Quebec/Kanada kam der Vorschlag, statt dem Ankerstich am Zentralpunktkarabiner einen „Gekreuzten Ankerstich“ zu legen. Vorweg: Kann man gerne machen – muss man aber nicht.

Frage an bergundsteigen von Gregor: Im Video von Yann Camus mit dem Titel „Girth and Clove at the Belay Station – Static and Dynamic Testing“ werden ähnliche Ergebnisse wie in eurem Artikel von Chris Semmel zum Südtiroler Stand (#119, Sommer 22) vorgestellt und besprochen. Interessant finde ich dabei vor allem die Überlegung, eine der Schlingen beim Einhängen zu verdrehen (X-Variante), um die Eigenschaften des Knotens zu verbessern. Habt ihr euch dazu auch schon Gedanken gemacht?

Girth Hitch

ist die englische Bezeichnung des Ankerstichs. Mit Girth-X wird ein Ankerstich bezeichnet, bei dem einer der beiden Stränge einmal gedreht wird, also ähnlich wie beim alten Kräftedreieck (siehe Abb). Ankerstich an Dyneema-Schlauchband gefährlich? Von Yann Camus aus Quebec/Kanada kam der Vorschlag, statt dem Ankerstich am Zentralpunktkarabiner einen „Gekreuzten Ankerstich“ zu legen. Vorweg: Kann man gerne machen – muss man aber nicht.

Die Argumentation von Yann war folgende:

Eine rundgeflochtene Dyneema-Schlinge (Schlauchband) wie z. B. die „Mammut Contact Sling“ läuft in statischen Zugversuchen bei einer Kraft von ca. 4 kN. In dynamischen Tests, bei denen eine 100-kg-Stahlmasse direkt über eine Stahlkette in die Schlinge stürzte (ohne HMS, ohne Kletterseil), zeigten sich Durchlaufwerte von 2–3 kN. Yann befürchtet, dass nun die Schlinge komplett im Ankerstich durchrutscht und sich der Ankerstich damit auflöst.

Yann räumt ein, dass das nur möglich ist, wenn der Karabiner bricht oder die Schlinge durchtrennt wird. Bei seinen Schlussfolgerungen bezieht sich Yann auf Tests, die von Walter Siebert durchgeführt wurden. In den Tests wurde (wie auch bei unseren Versuchen) festgestellt, dass herkömmliche gewebte Dyneema-Bandschlingen wie z. B. die Petzl „St Anneau“ nicht rutschen.

Das Rutschen tritt also nur bei geflochtenem Schlauchband aus Dyneema auf. Hintergrund: Flachband wird gewebt. Es entsteht ein flaches Gewebe, das einen rechteckigen Querschnitt besitzt. Schlauchband wird geflochten und hat die Form wie ein Seilmantel ohne Kern, es gleicht also einem „Schlauch“.

Mit Girth-X wird ein Ankerstich bezeichnet, bei dem einer der beiden Stränge einmal gedreht wird, also ähnlich wie beim alten Kräftedreieck. Illustration: Georg Sojer
Mit Girth-X wird ein Ankerstich bezeichnet, bei dem einer der beiden Stränge einmal gedreht wird, also ähnlich wie beim alten Kräftedreieck. Illustration: Georg Sojer

Unsere Sicht der Dinge:

Auch bei unseren Messungen im Ausbildungszentrum der Bergwacht Bayern begann die 8-mm-Schlauchbandschlinge aus Dyneema von Mammut bei statischem Zug bei 2-2,7 kN zu rutschen. Wurde der Ankerstich am Karabiner zuvor zugezogen (wie durch den Ausbruch des versagenden Fixpunktes), dann rutschte der Ankerstich erst bei 5–5,8 kN.

Auch bei unseren dynamischen Tests zeigten sich genau bei diesen Schlauchbandschlingen aus Dyneema sowie vereinzelt auch bei sehr schmalem Flachband aus Dyneema (< 8 mm) ein Laufen zwischen 19 und 40 cm. Wir teilen also die Beobachtungen. Nur wir interpretieren das Phänomen komplett anders.

Begründung:

Bei den statischen Zugversuchen stimmen unsere wie Walter Sieberts Test komplett überein. Bei den dynamischen Tests hingegen führten wir praxisnahe Versuche durch, während Walter Siebert eine 100-kg-Stahlmasse direkt über eine Stahlkette in einem Faktor-2-Sturz in die am Ankerstich aufgehängte Dyneema-Schlinge fallen ließ (vgl. Link). Der Unterschied ist logisch. Während bei den Tests von Walter Siebert keinerlei sonstige Dynamik besteht, muss die gesamte Energie vom Ankerstich an der Dyneema-Schlinge aufgenommen werden.

  • In unseren Tests verwendeten wir eine 3-mm-Reepschnur als Sollbruchstelle (Bruchfestigkeit ca. 0,8–1,2 kN), also genau so, wie wenn ein schlechter Normalhaken ausbricht. Dadurch zieht sich der Ankerstich am Zentralpunkt zu und läuft später.
  • Wir sicherten wie in der Praxis mit HMS am Fixpunkt mit einer Handkraft von 470 N. Diese Handkraft liegt deutlich über der durchschnittlichen Handkraft von 283 N und simuliert somit einen extrem „starken“ Sichernden. Wir verwendeten dazu die „Simulated Hand“, ein evaluiertes Gerät, mit dem sich die Handkraft am Seil bei Halbmastwurfsicherung einstellen lässt.
  • In der Praxis ist ja immer auch ein dynamisches Kletterseil im Spiel, in das die Fallmasse (unser Kletterer) stürzt. Walter benutzte eine Stahlkette, wir ein 10,3-mm-Bergseil.
  • Walter lässt 100 kg Stahl fallen, wir einen 95-kg-Traktorreifen, der ähnlich dem menschlichen Körper Energie aufnehmen kann.

Alles in allem zeigten sich bei uns wie oben und im Artikel in bergundsteigen #119 beschrieben Durchlauflängen von 2–3 cm und bei einigen wenigen Schlingen von 19 bis maximal 40 cm. Wir beurteilten dieses Ergebnis als gut, da es weder zum Riss einer Schlinge kam noch exorbitant hohe Kräfte auftraten. Vor einem Durchrutschen der Schlinge haben wir keine Angst, da der Karabiner oder – wenn direkt gefädelt wird – die Hakenöse als Anschlag das Durchrutschen verhindern.

Zudem wurden die großen Durchlauflängen nur bei sehr schmalen bzw. den Schlauchbandschlingen aus Dyneema beobachtet. Werden drei oder gar mehrere Fixpunkte eingefangen so wurde überhaupt kein Durchrutschen beobachtet. Das „Problem“ ist also auf Stände an zwei fraglichen Fixpunkten sowie sehr dünne (6–8 mm) Dyneema-Schlauchbandschlingen beschränkt und nur dann realistisch, wenn der Karabiner bricht oder die Schlinge durchgeschnitten wird.

Wer sehr dünne Dyneema-Schlingen zum Standplatzbau benutzt und Bedenken bezüglich des Ankerstichs hat, kann gerne den Gekreuzten-Ankerstich (Girth-X) legen. Eine coole Idee, die vor einem – wenn auch sehr konstruierten – Szenario schützen soll. Wer beim Standplatzbau an fraglichen Fixpunkten Rundmaterial (Kevlar- oder Dyneema-Reepschnüre) verwendet, sollte den gekreuzten Ankerstich besser nicht verwenden. Über den Ankerstich soll ja eine gewisse Dynamik im System bestehen (Kräfteverteilung, Energieabbau).

Erschienen in der
Ausgabe #122 (Frühling 23)

bergundsteigen #122 cover