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Blick zum Gipfel des Ortlers
24. Nov. 2025 - 9 min Lesezeit

Verhauer am Ortler: Die Kunst der Kommunikation

Oder warum männliche Präpotenz gefährlich sein kann. „Lass uns mal kurz den Ortler machen.“ Ingo Herbst über eine Verkettung vieler kleiner Fehler, die zu einer großen Katastrophe hätten führen können.

Der Hauptstress bei jeder Tour ist mittlerweile die Terminfindung. Die Synchronisation mit dem Bergkamerad, der Hütte, den Urlaubsterminen der Arbeitskolleg:innen, den Wegfahrwünschen der Familie, dem Geburtstag der Tante usw.

Einmal festgelegt, steht eine Bergbesteigung meist Monate vorher fest. So auch bei uns. Dabei war tagelang deutlich auf der Wetter-App zu sehen: Das Wetter wird schlecht. Richtig schlecht. Trotzdem fahren? Na klar, war ja geplant.

Fehler Nummer 1: Eine Bergtour machen, auch wenn die Vernunft abraten würde.

Der Selbstbetrug funktioniert meist perfekt. „Es gibt am Gipfeltag ein größeres Zeitfenster von 3 Uhr bis 16 Uhr. Das sollte genügen, um von der Payer-Hütte zum Gipfel und zurück zu kommen.“ Gesagt, getan. Am Anreisetag fuhren wir 700 ökologische Kilometer nach Sulden und stiegen zur Hütte auf. Im rappelvollen Speiseraum wollten alle am nächsten Tag zum Gipfel. Wir waren die Einzigen ohne Bergführer.

Beide erfahren, aber erstmalig gemeinsam auf Hochtour. Das war Fehler Nummer 2.

Wir hatten nicht gemeinsam geplant und nie gemeinsam geübt. Wir waren zusammen gewandert, geklettert und hatten Klettersteige gemacht. Aber wirklich gezielt irgendwas einstudiert? Nein. Zusätzlich wussten wir eigentlich, dass unsere Kommunikation oft nicht reibungslos verläuft, sich Vorstellungen unterscheiden, Begriffe abweichend interpretiert werden, wir aneinander vorbeireden.

Ingo Herbst
Kritischer Blick. Letztes Selfie im Aufstieg.

Trotzdem begingen wir Fehler Nummer 3 und besprachen die zu nutzenden Abstimmungsworte wie „Abbruch der Tour“ oder „Gehen am laufenden Seil“ und ihr Verständnis nicht.

Warum auch? Bisher war doch alles gut gegangen. Wir waren ja sogar mal gemeinsam auf dem Piz Buin gewesen, auch wenn wir das eher als Wanderung, denn als echte Hochtour sahen.

Vielleicht war diese Überheblichkeit schon Fehler Nummer 4.

Aber ich nenne ihn mal 3a (es werden sonst wirklich zu viele). Wir agierten, wie Männer eben gerne agieren: „Geht schon.“

Fehler Nummer 4 zeigte sich bei der Vorbereitung auf den Gipfeltag auf der Hütte:

echte Absprachen treffen. Wir hatten uns im Vorfeld ausgetauscht, was wir mitnehmen. Es gab Einzelposten: du das Seil, ich den Biwaksack. Und Summenposten: sechs Expressen, vier Eisschrauben etc. Nun funktionieren Gehirne aber unterschiedlich. Es ist nicht für jeden logisch, die Hälfte der Summenposten einzupacken, also drei Expressen und zwei Eisschrauben.

Das Ergebnis dieser unklaren Kommunikation zeigt sich beim Packen. Es gab acht Expressen und nur drei Eisschrauben. Keine Katastrophe, aber es hätten im schlimmsten Fall auch null Eisschrauben sein können …

Fehler Nummer 5 zeigte sich am Gipfeltag.

Die gesamte Hütte hatte ihre Aufbruchszeit nach vorne verlegt. Auch das Frühstück stand 30 Minuten früher auf dem Tisch. Ich hatte diesen Fakt kommuniziert. Damit war für mich klar, wir brechen ebenfalls eine halbe Stunde früher auf. Das war meine Logik, aber nicht die meines Bergkameraden.

Ich hatte gesagt: „Alle brechen früher auf“, nicht: „Wir brechen auch früher auf.“ Ergo wartete ich genervt draußen, während sich mein Partner Zeit im Schuhraum ließ und sich freute, dass das Gedrängel gleich nachlassen würde, wenn alle weg sind. Die halbe Stunde sollte später noch eine Rolle spielen.

Nummer 6 zeigte sich beim Warten im Dunkeln:

Langjähriges Fachwissen eines erfahrenen Locals ignorieren. Ein älterer Bergführer erklärte seinen beiden Gästen lautstark, warum er nicht gehen wird: „Das Gewitter kommt früher. Sieht man auf meiner App und merkt man am Wind. Der bläst das schlechte Wetter hierher.“

Mein Smartphone zeigte noch immer die Werte vom Vorabend mit dem prognostizierten Gewitterbeginn gegen 16 Uhr. Ich hatte aus Sicherheitsgründen mit 13 Uhr kalkuliert. Aber wir sollten nach meiner Planung locker zwischen 11 und 12 Uhr zurück sein. Also alles im grünen Bereich. Warum also auf den Mann hören, der hier aus der Gegend kommt und sicher schon Dutzende Male auf dem Ortler stand?

„Der will sich sicher nur einfach mal einen entspannten Tag machen“, dachte ich überheblich. Der Aufstieg klappte gut, der Wind war heftig. Eine Böe fegte mich fast aus der 40 Grad steilen Eisflanke. Wir meisterten die Schlüsselstellen problemlos. Die ersten Absteiger kamen uns schon wieder entgegen, alle hinter uns hatten aber mittlerweile abgebrochen. Das bemerkten wir.

Es war Fehler Nummer 6a, sich darüber keine Gedanken zu machen, was andere tun …

Als wir noch 200 Höhenmeter vor uns hatten, also nur noch 30 Minuten entspanntes Latschen über den Gletscher, begann plötzlich der Hagel. Ein Blick auf die Wetter-App zeigte, dass JETZT das Gewitter losging. Sie hatte sich aktualisiert. Das Unwetter hatte sich nach vorne verschoben.

Es war 8 Uhr. Die ersten Blitze zuckten. Einer plädierte für Umkehren, der andere war dagegen. Lautstarker Streit, siehe Fehler Nummer 2 und 3: fehlende Kommunikation und inhaltliche Abstimmung. Schließlich drehten wir doch um. Die Sicht zog zu, Donner krachten.

Ich voraus. Fehler Nummer 7, denn ich bin ein wirklich schlechter Spurenleser und Wegefinder.

Das wussten wir beide auch. Die Hagelkörner machten es mir nicht leichter, die alten Spuren zu erkennen. Nach fünf Minuten hatten wir den Weg verloren. Der Regen kroch in Kragen und durch Nähte, Wind wölbte unsere Jacken, Whiteout löschte die Orientierung. Es war sehr ungemütlich.

In dem Chaos schimpfte mein Partner laut vor sich hin. Zu Recht. Doch was bringt’s? Fehler Nummer 8.

Emotionen verhindern Kommunikation (siehe Fehler Nummer 2) und gemeinsames Beratschlagen (Fehler Nummer 3).

Ziemlich sauer beging er Fehler Nummer 9 und suchte selbständig die Spur.

In kurzen Phasen von Sicht analysierte er Felsformationen und leitete daraus den ursprünglichen Aufstiegsweg ab, während er unangeseilt auf dem Gletscher herumlief. Schlichter Irrsinn. Wir hätten einfach auf unserer eigenen falschen Spur zurücklaufen sollen …

Blick zum Gipfel des Ortlers
Kurz bevor das Unwetter aufzog, schien die Welt noch in Ordnung.

Währenddessen kam Fehler Nummer 10 zum Tragen. Mein Smartphone hatte sich aufgehängt.

Es war unmöglich, den Track aufzurufen. Zumal er von einer Tour von 2018 stammte. Daran hätte ich denken können, hatte ich aber nicht. Diese Hilfe fiel also aus. Eine Karte hatten wir nicht dabei (Fehler Nummer 10a). Aber sie wäre sowieso weggeflogen.

Nun verharrte ich ebenfalls nicht mehr auf der Stelle, sondern ließ mich vom hyperaktiven Bergkameraden anstecken und irrte auch umher. Herdentrieb. Totaler Wahnsinn. Was ich eben noch kritisierte, machte ich kurz darauf nach. Aus Angst oder Dummheit.

Es war Fehler Nummer 11: kein eigenes Denken und Handeln.

Denn eigentlich hatte ich mir überlegt, dass wir schon irgendwann Rückkehrende sehen würden, die uns dann als Orientierung dienen können. Netterweise sind wir nicht in eine der vielen Gletscherspalten gefallen. Reines Glück. Dann tauchte eine Gruppe auf und wir fanden den Weg wieder und stiegen ab.

Der Regen hatte uns bereits komplett durchnässt, die Handschuhe waren vollgesogen, die Schuhe quietschten, das Seil war schwer, die Prusikschlingen hingen tropfend am Gurt. Mir waren die steilen Eis- und Firnflanken nicht geheuer. Ich wollte am laufenden Seil gehen. Einfach irgendwie gesichert.

Vorhandene Eisstangen im Eis und Eisschrauben sollten als Zwischensicherungen dienen. Leider hatten wir das ja nie geübt. Siehe Fehler Nummer 1. Es dauerte alles lang, auch bis wir uns halbwegs synchronisiert hatten. Kommunikation im Sturm ist nebenbei auch keine einfache Sache. Zur Langsamkeit trug zusätzlich die fehlende Eisschraube bei. Wir mussten uns oft zum Materialtausch treffen.

So wurden die Laufstrecken kurz. Auch schrien wir viel, nicht nur wegen des Lärms. Es war alles nicht witzig. Meine Angst war omnipräsent. Ich funktionierte nur noch. Dazu sagte ich mir mantraartig: „Ich werde heute nicht sterben!“ Das half. Trotzdem dachte ich darüber nach, ob der Blitztod wenigstens schnell wäre …

Dann Fehler Nummer 12.

Ich wusste, dass die Materialschlaufen an meinem Hochtourengurt extrem dünn sind und oft die „Nasen“ meiner Karabiner und Expressen daran schon hängen geblieben waren. Das war mir bereits x-mal passiert und nervte mich maßlos. Trotzdem hatte ich nicht darauf geachtet, dieses Mal nur „nasenloses“ Material mitzunehmen, also meine Ausrüstung anzupassen und zu optimieren.

Nun stand ich also im Sturm, durchnässt, vom Wind gepeitscht, zwischen zuckenden Blitzen und versuchte steifgefroren meine Karabiner vom Gurt zu bekommen. Es ging nicht. Ich fluchte und zerrte. Zwecklos. Genervt zog ich einen Handschuh aus, weil das Handling ohne besser klappt. Das stimmte zwar, war aber

Fehler Nummer 13. Denn eine pitschnasse, klamme Hand in einen triefenden Lederhandschuh zu bekommen, funktioniert nicht.

Ich hätte brüllen können vor Wut, aber ich bekam meine steifen Finger nicht in die Handschuhfinger, denn das Innenfutter hatte sich verschoben und teilweise umgestülpt. Ein guter Sitz war unmöglich. Nach ein paar Minuten gab ich schlotternd auf.

Ich musste weiter nach unten gehen, raus aus den Blitzen. Mein Partner wurde ungeduldig und schnauzte mich an, dass wir weitermüssten. Völlig verständlich, er konnte ja nicht erkennen, warum ich so ewig an der Sicherung verharrte. Ich ging weiter. Den Handschuh halbgar auf meiner linken Hand, der Daumen irgendwie verbogen. Kaum wirklich benutzbar.

Schließlich erreichten wir den Felsteil. Das Abschnallen der Steigeisen nutzte ich, um meine Handschuhe gegen ein trockenes Paar zu tauschen. Ein Glücksgefühl! Mein Partner hatte Pech. Kein zweites Paar dabei.

Fehler Nummer 14. Preis: Leicht erfrorene Daumen am Abend.

Nun mussten wir an Ketten (Blitzableiter) herunterklettern. Kein gutes Gefühl, aber alternativlos. Am laufenden Seil gehen klappte mittlerweile ganz gut. Das führte leider dazu, dass ich ab und zu den Weg finden musste, womit sich wiederum Fehler Nummer 7 auswirkte. Wir verliefen und verkletterten uns mehrfach. Und wir waren langsam. Mein Sicherungsbedürfnis im Sturm und auf dem nassen Fels (3+), über den das Wasser in Strömen lief, kollidierte mit unserer Performance.

Wir arbeiteten uns parallel zu einem italienischen Bergführer und seinen beiden Gästen nach unten. Dabei unterstützten wir uns gegenseitig bei der Materialnutzung und der Wegfindung. Das war für alle Beteiligten sehr hilfreich und erhöhte unser aller Geschwindigkeit. Der Bergführer beging nicht den Fehler, den ich oft erlebte, dass Bergführer nicht helfen oder sich helfen lassen, weil das vor Gästen schlecht aussehen könnte!

Vielleicht war die Situation auch einfach so extrem übel, dass es ihm vernünftigerweise egal war. Wir erreichten die Hütte gegen 12 Uhr, ohne trockenen Faden am Leib, nervlich zerrüttet, aber lebend. Am Abend saßen wir dann beim Essen und sprachen. Über unsere Fehler, unsere mangelnde Kommunikationsfähigkeit, unsere Tour.

Das tat gut. Irgendwie mögen wir uns einfach. Mein Partner konstatierte, dass er dieses Jahr aber sicher keine Hochtour mehr machen würde. Ich hatte sowieso keine mehr in Planung. Dafür verabredeten wir uns fürs Kino in zwei Wochen. Am Ortler habe ich viel gelernt. Allerdings hätte ich mir diesen risikoreichen Crashkurs durchaus sparen können. Kein einziger Fehler war unvermeidbar. Hätten wir vernünftig kommuniziert, wären sie wohl nicht aufgetaucht. „Passt schon“ ist eben keine Form des verantwortlichen Risikomanagements.

Erschienen in der Ausgabe #128 (Herbst 24)

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