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von Tom Dauer
30. Mrz 2023 - 3 min Lesezeit

Kolumne: Flugscham bei Alpinisten?

In den Bergen unterwegs zu sein, ist gut für mich. Nicht in den Bergen unterwegs zu sein, ist gut für andere und die Natur ganz allgemein. Was also soll ich tun? Wie soll ich mich verhalten – meinen Mitmenschen und der Berg-Natur-Kultur-Landschaft gegenüber?

Tom Dauer sucht Antworten. #inunsrernatur 7

Es ist doch immer Reisezeit. Zum Überwintern fliegen Sportkletterer in die Türkei, Alpinisten in den Südhalbkugelsommer. Sobald die ersten Blüten an den Bäumen knospen, breitet sich Inselfieber aus: Mallorca, Sardinien, Sizilien, Malta, Kreta, Kalymnos, you name it. Spätestens im Sommer zieht es immer mehr Menschen in die hohen Berge, die ganz hohen, die etwa im Karakorum liegen oder im Garwhal Himalaya.

„Expeditionen“ hat man diese Ausflüge früher genannt, heute spricht man mit Kurt Albert, Gott hab ihn selig, besser von „Kletterreisen“. Wie dem auch sei, im Herbst beginnt das Wir-fliegen-rund-um-den-Globus-Spiel wieder von vorne; daran scheinen Pandemie, Ukraine-Krieg und Inflation nichts zu ändern. Ich stelle das ganz nüchtern fest. Nachdem ich das Spiel jahrzehntelang selbst mitgespielt habe, entblöße ich mich jetzt nicht mit einer Bewertung.

Interessant finde ich aber, dass mit der Zahl der Fernreisen, die zumeist Flugreisen sind, auch die Versuche zunehmen, ebendiese zu rechtfertigen. Zum Beispiel reisen Grüppchen gesponserter Athleten an irgendein Ende der Welt und begründen dies mit dem Argument, sie wollten Aufmerksamkeit erregen für die Probleme, die der Klimawandel mit sich bringt. Das ist ein Witz. Oder glaubt tatsächlich jemand, dass Extremkletterer durch die weitgehend unberührte arktische Tundra wandern müssen, um der Welt zu offenbaren, dass auftauende Permafrostböden eine Gefahr für Flora und Fauna darstellen?

Nein, das ist sicher nicht nötig. Auch nicht, wenn das Wissenschaftsmagazin National Geographic die Ausflügler als „Entdecker“ bezeichnet – die in einer Landschaft unterwegs sind, in der Inuit seit Jahrtausenden umherziehen. Argumentativen Ausflüchten dieser Art liegt in der Regel ein schlechtes Gewissen zugrunde, für das die Wortneuschöpfung „Flugscham“ erfunden wurde. Ich halte die damit beschriebene Empfindung allerdings für zynisch, denn sie ist einer gut situierten Minderheit vorbehalten.

Der überwiegende Teil der Menschheit hat gar keine Möglichkeit, Flugscham zu empfinden, weil er sich keinen Flug leisten kann. In den Worten Robert Pfallers, Philosophieprofessor an der Universität Linz und Lebemann, ist es gar „sehr verräterisch, wenn Menschen ihre Scham in die Welt hinausposaunen. Oder besser: Es ist unverschämt, weil echte Scham darin besteht, dass man sich seiner Scham auch schämt.“

Moralisierendes Denken hilft uns in der Debatte darüber, wie wir in Zukunft die Symbiose von Reisen und Bergsteigen gestalten wollen, aber nicht weiter.

Tom Dauer

Das Perfide daran ist, dass die Flugscham – oder die Mit-dem-Auto- Anreise-Scham usw. – zu einer in Moral getränkten Keule wird, die das eigene schlechte Gewissen allen anderen um die Ohren haut. Moralisierendes Denken hilft uns in der Debatte darüber, wie wir in Zukunft die Symbiose von Reisen und Bergsteigen gestalten wollen, aber nicht weiter. Wenn wir unser Handeln ausschließlich nach strengen moralischen Regeln beurteilen, erzeugen wir Unmut bei allen, die die Kriterien nicht einhalten können oder wollen oder sie für anmaßend halten, weil sie mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben.

Um politisches Denken und Handeln zu fördern, sollte statt des schlechten Gewissens das rationale Kalkül stehen. Vor einem Ausflug, einer Reise, einem Abenteuer muss man sich zunächst also klar darüber werden, was die Beweggründe des eigenen Tuns sind. Wer nach ehrlicher Innenschau zu dem Ergebnis kommt, der Drang zu reisen, das Fernweh, entspringt einem Zustand der Unzufriedenheit, sollte sich vielleicht überlegen, ob das Glück nicht auch vor der Haustüre zu finden sein könnte. Das machte vieles leichter.

Ansonsten ist es in meinen Augen völlig okay, ab und an etwas Sinnfreies wie den Versuch einer Erstbegehung an einem namenlosen Fünftausender in der Cordillera Huayhuash zu unternehmen. Der Mensch braucht das: Momente, in denen es darum geht, einfach nur Spaß zu haben, erfüllt zu sein, sich selbst zu spüren.

Wer sich dagegen für seine Flugreisen schämt, sollte Zeit und Energie lieber in politisches Handeln investieren. Um die ökologische Krise und damit das drängendste Menschheitsproblem abzumildern, wäre es einerseits sinnvoll, den privaten Bewegungsradius zu reduzieren. Und gleichzeitig für die Einrichtung zwischenstaatlicher Flugverbotszonen zu kämpfen. Das wäre konsequent. Und wirkungsvoller als jede Moralpredigt.

Erschienen in der
Ausgabe #120 (Herbst 22)

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