bergundsteigen #130
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K2 - der zweithöchste Berg der Welt. Foto: Unsplah/Daniel Born
21. Aug. 2023 - 5 min Lesezeit

Lieber sterben lassen? Was der Unfall am K2 über unsere Gesellschaft aussagt

Ein pakistanischer Hochträger stirbt am K2, während mehrere Höhenbergsteiger über ihn steigen. Der Tod löste eine Welle der Kritik aus: unterlassene Hilfeleistung, Egoismus und die Frage nach der Zweiklassengesellschaft. Doch in einigen Punkten sollten wir uns alle hinterfragen.

Muhammed Hassan war am 27. Juli als Höhenträger mit anderen nepalesischen und pakistanischen Teams am K2, um die Route bis zum Gipfel mit Fixseilen auszurüsten. Am Flaschenhals, einer steilen Eiswand und einer der gefährlichsten Stellen der Route, kam es schließlich zu einem Unfall, der sich bis heute nicht exakt rekonstruieren lässt. Was man weiß: Hassan rutschte einige Meter ab und hing kopfüber im Fixseil. Nach einiger Zeit gelang es einem helfenden Bergsteiger, den Verunglückten am Seil einige Meter zurück in die Spur zu ziehen. An dieser Stelle starb Hassan weniger Stunden später.

K2, die Traverse am Flaschenhalt um ca. 5:30, Hassan befindet sich im Kreis. Foto: Philip Flaeming/ServusTV
K2, die Traverse am Flaschenhalt um ca. 5:30, Hassan befindet sich im Kreis. Foto: Philip Flaeming/ServusTV

Ein vor kurzem veröffentlichtes Video zeigt, dass die meisten Höhenbergsteigerinnen und Bergsteiger an dem jungen Mann vorbeigingen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war. Insgesamt passierten mehr als 70 Personen den Sterbenden, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtete. Dazu kommt, dass seine Ausrüstung unzureichend gewesen sein soll: Er trug wohl nur unzureichende Daunenbekleidung, keine Handschuhe und hatte womöglich ein beschädigtes Sauerstoffgerät.

Untersucht wird deswegen, wie gut Hassan ausgestattet war. Wenn deutsches oder österreichisches Recht gelten würde (rein hypothetisch, da wir in Pakistan sind), könnte man verfolgen, ob eine fahrlässige Tötung vorliegt, spekuliert Alpinrechtsexperte Klaus Burger. Wenn belegt würde, dass Hassan beispielsweise mit mangelhafter Ausrüstung zur Expedition gestartet sei, könnte die Firma für den Tod des jungen Mannes zur Verantwortung gezogen werden, für die er als Träger arbeitete.

Aussichtslose Rettung?

Als juristische Grundlage gilt das pakistanische Recht in Verbindung mit dem nationalen Recht der Beteiligten. Nach deutschem Recht könne man juristisch gegen Bergsteiger vorgehen, die auf den Drohnenaufnahmen über den Schwerverletzten klettern. Anklagegrund: unterlassene Hilfeleistung. In Deutschland steht die Pflicht zur Ersten Hilfe im Strafgesetzbuch. Dafür gelten allerdings einige Voraussetzungen: Eine Hilfsaktion darf nicht von Beginn an als aussichtslos gelten. Falls die Untersuchungen bestätigen, dass der Pakistaner bereits tot war, als rund 70 Bergsteiger ihn ohne weiteres passierten, können sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Und: Hilfeleistung muss zumutbar sein, darf nicht das eigene Leben in Gefahr bringen.

Bei dem Fall auf dem K2 ist jedoch fraglich, wie sicher eine Rettungsaktion der anderen Kletterer gewesen wäre. Jeder Bergsteiger ist mit einer gerade ausreichenden Menge Sauerstoff ausgestattet. Jede vergangene Minute bedeutet auch weniger Sauerstoff und Lebensgefahr.

Ausgebliebene Hilfeleistung: Bergsteiger klettern über den verletzten Muhammed Hassan.

Niemand startete eine Rettungsaktion. Warum?

Eine Rettungsaktion an einem Achttausender ist immer schwierig. In Pakistan sei sie wegen der knappen finanziellen Mittel und der wenigen gut ausgebildeten Bergretter und Piloten noch komplizierter als in Nepal, erklärt der nepalesische Bergsteiger Gelje Sherpa im Interview mit Nadine Regel. Hinzu kommt, dass der K2 – vor allem in der Flaschenhals-Passage – besonders gefährlich ist. In dieser Saison hat es außerdem viel Neuschnee und Lawinen gegeben. Eine Rettung stellt dann ebenso ein Risiko für die helfende Person dar. 

Massentourismus am Everest. Archivbild: Everest Basecamp, Furtenbach Adventures

Nach Meinungen anderer Bergsteiger wäre eine Rettung dennoch möglich gewesen – zumindest Hassan aus der Gefahrenzone und in Lager drei zu bringen. Doch niemand fühlte sich für Hassan verantwortlich. Nicht einmal eine Rettungskette sei in Gang gesetzt worden. Für viele sei der Gipfel wichtiger gewesen, sagt die Bergsteigerin Sabrina Filzmoser in einem Interview. Sie war zum Zeitpunkt des Unglücks in Lager drei, einige hundert Höhenmeter unterhalb der Unglücksstelle. Der Alpinrechtsexperte Klaus Burger gibt dennoch zu bedenken, dass in einer solchen Höhe der psychologische Zustand der Bergsteigerinnen und Bergsteiger beeinträchtigt ist.

Sind Bergsteiger Narzissten? Der Psychotherapeut, Autor und Bergsteiger Manfred Ruoß über Flow und Narzissmus. Zum Archiv-Artikel

Ein anderer Blick

Als Redaktion können und wollen wir nicht beurteilen, wer bei diesem tragischen Unfall welche Fehler gemacht hat. Ungeeignete Ausrüstung, Überforderung und Ignoranz anderer Höhenbergsteiger oder die Tatsache, dass eine Bergung an einem Achttausender immer schwierig ist, sind alles Faktoren, die zum schrecklichen Ausgang des Unfalls beigetragen haben könnten.

Warum hat niemand versucht zu helfen?

Dennoch wird in den Medien vielfach die Frage gestellt: Warum hat niemand versucht zu helfen? Im Folgenden soll das Unglück aus einer weiteren Perspektive betrachtet werden. Ein Blick auf das menschliche (Fehl-) Verhalten, vor dem bedauerlicherweise niemand von uns gefeit ist.

Dem Vorgänger folgen

Die Situation war für die überwiegende Mehrheit der Personen am K2 neu. Das heißt, es existierte keine erlernten Handlungsmuster, wie man reagieren sollte. In solchen Momenten der Unsicherheit schauen sich Menschen um, was die anderen tun. Nach der Theorie der pluralistischen Ignoranz geht jeder Beobachter der Notsituation dann davon aus, dass kein Problem bestehe, wenn auch die anderen nicht reagieren.

Untätigkeit wird als Zeichen interpretiert, dass das Ereignis nicht ernst ist oder keine Reaktion erfordert. Die pluralistische Ignoranz ist gemeinsam mit der Verantwortungsdiffusion ein Grund dafür, dass Gruppen in Notsituationen nicht helfen. Die Verantwortungsdiffusion beschreibt dabei das Phänomen, dass sich ein Individuum in einer Gruppe weniger verantwortlich fühlt. Die erlebte Verantwortung ist so gering, dass nicht gehandelt wird.   

Der Mordfall Genovese

Beide Theorien stehen in Zusammenhang mit dem Bystander-Effekt. Der „Zuschauereffekt“ ist ein Phänomen, das bei unterlassener Hilfeleistung immer wieder beobachtet wird: Je mehr Menschen eine Notsituation beobachten, desto unwahrscheinlicher ist es, dass jemand eingreift.

Erstmals untersucht wurde diese Hypothese beim Mord an Kitty Genovese in den 60er Jahren. Genovese wurde auf einem Parkplatz überfallen und ermordet, während Nachbarn die Tat beobachteten. So wurden auch die Bergsteiger am K2 zu passiven Zuschauern statt aktiven Helfern. Im Stangl Lexikon für Psychologie heißt es: „Besonders selten erhalten jene Menschen Hilfe, die ohnehin zu den Schwächsten der Gesellschaft zählen. Schon die Aktivierung sozialer Kategorien wie „Obdachloser“ fördert das Wegsehen.“ 

Podcast: Everest – Bergsteigen oder Massentourismus?

Der Alpenverein-Podcast über Pioniere und Stau in der Todeszone.

Weitere Quellen: Spektrum Lexikon der Psychologie; Springer Lehrbuch der Psychologie

Alle Kommentare (8)

  1. Maria
    25.Juli 2024 am 6:51 am | Antwort
    hier fehlen ein paar Fakten, die das Bild sicherlich facettenreicher machen. Ein Ausschnitt: 1) die Veranstalter drückten sich davor, die letzten Fixseile zu legen, sie ließen ihre Kunden mehrere Schönwetterperioden im Basecamp rumsitzen, darauf spekulierend das Harila Team richtet das schon aus ihrem Zugzwang heraus. Ist eine Geldfrage. Die Stimmung im Camp war hitzig. 2) Hassan war noch nie in der Höhe, er war zu diesem Job auch nicht zugelassen und nicht versichert. Es gab entweder Geldmangel oder Personenmangel, diese Arbeit (Fixseile zu legen) zu erledigen 3) Hassan hatte die Wahl, 700 und nochwas USD zu nehmen oder sich ausrüsten zu lassen, er unterschrieb, er nähme das Geld. Ob das Geld für die nötige Ausrüstung reicht, ob sie in Skardu verfügbar war, ob er meinte, er kommt schon durch denn er brauche für seine Familie das Geld: idk 4) Hassan stürzte nach Wächtenbruch. War er durch den Sturz verletzt worden? Es wird nichts gesagt, ich denke nein. Heißt: der Mangel an alpiner Technik und Ausrüstung führte zu einem Erschöpfungszustand 5) Hassan starb nicht allein, mehr Begleiter hätte der Ort des Geschehens kaum hergegeben
  2. Peter smolle
    05.Dez. 2023 am 2:19 pm | Antwort
    Fact ist dass es der hilfe von 3-4 bergerfahrenen meschen bedurft hätte um hasse aus der gefahrenzone ins nächste lager zu bringen. Das geschah nicht offenbar gab es solche "menschen" nicht kaum glaubhaft aber so war es. Ich meine dass die rettung eines menschenlebens für jeden menschen mehr befriedung oder stolz erzeugt als das winken von einem noch so hohen gipfel Peter smolle
  3. Patrik Müller
    03.Okt. 2023 am 9:11 pm | Antwort
    Ich weis nicht, wieviele, dieses Geschehen kommentierende, selber schon auf 8000Meter waren. Aus dem warmen Sofa lässt sich ganz bequem über Moral, Selbstsucht oder juristische Punkte sinnieren. An 8000ern ist der potentielle Tod ein steter Begleiter. Hier gehen die allermeisten am äussersten Limit. Soll eine Rettung aus dieser Höhe geschehen muss eine solche praktisch bereits zum Voraus geplant, und für den Eintreffensfall abgesprochen/organisiert sein. Eine erfolgreiche "improvisierte" Rettung aus solchen Orten ist ansonsten praktisch nur Profialpinisten zuzutrauen oder zuzumuten. Insofern, so finde ich, wäre es an den "Reise"-Organisatoren, sich zukünftig besser auch auf Unfallsituationen vorzubereiten, und es nicht dem eh oft überforderten Bergsteiger vor Ort, oder den vertraglich an andere Gruppen und Teilnehmenr gebundene Sherpas (!) zu überlassen, notfallmässig zu handeln.
  4. Doris Leppitsch
    11.Sep. 2023 am 11:26 pm | Antwort
    Falls unter den Touristen ein MENSCH gewesen wäre, hätte er wenigstens beim Verunfallten bleiben und ihn halten und ihm gut zusprechen können, damit er nicht allein ist mit seiner Angst und beim Sterben.
  5. Simon
    05.Sep. 2023 am 7:09 am | Antwort
    Hallo Frau Zühlke, die Geschichte ist tragisch und macht nachdenklich... In diesem kurzen Artikel gut aufgearbeitet, dass auch pluralistische Ignoranz und Verantwortungsdiffusion erwähnt werden. Die Erkenntnis dieser Effekte hilft uns das eigene Verhalten zu reflektieren, auch in Notsituationen. ABER: Kitty Genovese wird hier m.M.n. irreführend erwähnt. (Zitat: "Genovese wurde auf einem Parkplatz überfallen und ermordet, während Nachbarn die Tat beobachteten."). Der Fall Genovese ist deutlich vielschichtiger und mittlerweile gut aufgearbeitet. Auch das häufige Heranziehen als Muster-Beispiel für den Bystander-Effekt könnte man nach allen bekannten Faktoren kritisch hinterfragen. Ob der Fall Muhammed Hassan jemals so intensiv untersucht werden wird bleibt fraglich.
  6. Alex Fischer
    23.Aug. 2023 am 4:28 pm | Antwort
    @Heinz Buchmann: Interessanter Gedanke von den alpinen Vereinen den Ausschuss dieser Mitglieder zu erwarten! Prinzipiell bin ich Ihrer Meinung, jedoch bereits vom Glauben abgefallen, dass es so etwas wie Moral, Verantwortungsbewusstsein und nicht nur der Kommerz und die Anzahl der Mitglieder bei vielen Verantwortungsträgern dieser Vereine zählt, leider konnte und kann man das seit Jahren beobachten…(man sehe sich die ganzen Vögel in den Alpen an)!
  7. Martin Werner
    23.Aug. 2023 am 6:47 am | Antwort
    Wer hätte denn realistisch dem verunglückten zur Hilfe kommen können? Ich sehe als mögliche Akteure 3 Gruppen. Die Gäste der Veranstalter, allgemein "Bergsteiger" genannt, für R. Messner sind es Bergtouristen. Als geführte und damit unselbstständige "Bergsteiger" unter Normalbedingungen schon kurz vor der Überforderung, hat vermutlich keiner das Potential eine komplexe Rettung ad hoc zu organisieren und durchzuführen. Das gilt vermutlich auch für die Kollegen des Verunglückten. Es bleibt als letzte Gruppe die Bergführer der Veranstalter, die haben das theoretische und praktische Wissen und die Verantwortung für ihre Gäste und die einheimischen Unterstützer. Warum greifen die hier nicht ein?
  8. Heinz Buchmann
    22.Aug. 2023 am 7:49 am | Antwort
    Über die BergsteigerInnen sagt es zumindest sehr viel aus. Und wenn ich dann noch das Wort Gipfelsieg höre dann weiß ich welche Egos dort unterwegs sind. Alle die dort oben über diesen hilfsbedürftigen Mann gestiegen sind gehören vor Gericht wegen unterlassener Hilfeleistung und ich erwarte von den alpinen Vereinen dass gegen diese Übersteiger ein Vereinsausschlussverfahren eingeleitet wird. Bin gespannt was Billi Bierling daraus macht. BERG FREI