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Michael Larcher zu 20 Jahre Stop or Go
15. Jan 2020 - 14 min Lesezeit

20 Jahre Stop or Go – im Gespräch mit Michael Larcher

Im Herbst 1999 präsentierten die Bergführer Robert Purtscheller († 2004) und Michael Larcher in bergundsteigen (Ausgabe 4/99) mit „Stop or Go“ ein Entscheidungs- und Handlungskonzept für Touren im freien Skiraum. Auslöser war Werner Munter, der 1997 mit „3x3 Lawinen – Entscheiden in komplexen Situationen“ die Reduktionsmethoden einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt hatte.

20 Jahre später ist Stop or Go, neben der Vermittlung analytischer Methoden im Rahmen der Alpenverein-Akademie, noch immer das Herzstück im Ausbildungskonzept des Alpenvereins und damit das bekannteste und am häufigsten verwendete Ausbildungskonzept in der Lawinenausbildung in Österreich.

Christian Damisch hat bei Michael Larcher nachgefragt: 

Warum damals ein eigenes Konzept? Warum hat der ÖAV nicht 1:1 die elementare oder die professionelle Reduktionsmethode in seine Lehrpläne übernommen?

In den Wintern ’97 und ’98 vermittelten wir die Reduktionsmethode 1:1. Dann erkannten wir die Schwierigkeiten der Teilnehmer*innen, die professionelle Reduktionsmethode umzusetzen, den Widerstand gegen eine Formel und die Rechnerei. Wir setzten dann auf die elementare Reduktionsmethode, die uns allerdings wieder zu reduktionistisch erschien. Robert und ich suchten nach einer Ergänzung, nach einem zweiten Filter. Und wir wollten die Essenz der klassischen Lawinenkunde in das Konzept aufnehmen. So kam es zum Check 2 und zur Vorwegnahme der heutigen „Lawinenprobleme“, indem wir die klassische Lawinenkunde auf die fünf essenziellen Gefahrenzeichen eindampften, die es aus unserer Sicht zu erkennen galt: Neuschnee, frischer Triebschnee, Setzungsgeräusche, frische Lawinen, starke Durchfeuchtung. Immer, von Beginn an, bildeten die Standardmaßnahmen einen Teil von Stop or Go. Die eine Hälfte von Stop or Go ist das Entscheidungskonzept – „Check 1“, „Check 2“ und die „Go-Faktoren“ –, die andere das Handlungskonzept, die „Standardmaßnahmen“.

Die Go-Faktoren waren zu Beginn noch nicht Teil von Stop or Go?

Richtig, die kamen erst um 2007. Warum sich sklavisch einer Faustregel unterwerfen, wenn es objektive Sicherheitshinweise gibt? „Lerne die Regeln, damit du sie richtig brechen kannst“ – dieses Zitat von Tenzin Gyatso, besser bekannt als Dalai Lama, ist sowas von genial! Es bringt den philosophischen Überbau von Stop or Go auf den Punkt. „Regeln richtig brechen“ heißt in unserem Fall, die Ausnahmen – in unserem Fall von Check 1 – möglichst klar zu definieren. Die trivialste Ausnahme ist „dichter Wald“, schon weniger trivial, aber in der Praxis häufig anwendbar, das Merkmal „stark verspurt“ oder „häufig befahren“.

Die Go-Faktoren erweitern den Spielraum für Fortgeschrittene und Experten und ließen sich auch noch erweitern. Die Grundphilosophie ist immer: Überschreite die Grenzen von Check 1 nicht aus einem „guten Gefühl“ heraus, sondern auf der Grundlage möglichst objektiver Fakten. Hier können sich Expert*innen natürlich wesentlich mehr leisten als Hobby-Alpinist*innen.

Der große Hype um die „Strategien“ ist inzwischen verklungen. Waren die Erwartungen an die Reduktionsmethoden – dein erster Beitrag über die Munter-Methode in bergundsteigen 1/97 hatte den Untertitel „das missing link der praktischen Lawinenkunde“ – zu hochgesteckt? 

Wenn ich mich richtig erinnere, setzte ich an das Ende dieses Untertitels ein Fragezeichen? Aber zu deiner Frage: Munter schlug 1998/99 in der Szene ein wie eine Bombe und man muss sich nur ansehen, was damals aus der Begeisterung, aber auch aus der Kritik, alles entstanden ist. Es war klar, dass der Hype um die Strategien einmal abflauen musste. Die Strategien wurden ja fast schon ein Standard und die Verweigerer eine Minderheit. Dann, gegen Ende der 2000er-Jahre, wurde allmählich die Kritik an den Strategien immer lauter, heute würde ich von einer Gegenrevolution sprechen. Es setzte eine Renaissance der Schneedeckenanalyse ein, neue Tests zur Untersuchung der Schneedeckenstabilität und der Bruchfortpflanzung wurden en vogue und allmählich bekam die Hoffnung wieder Nahrung, zumindest als Experte aus einer systematischen Schneedeckendiagnose Einzelhangbeurteilungen vornehmen zu können.

Diese Renaissance der analytischen Lawinenkunde ist erstaunlich. Auch deshalb, weil aus der Schneeforschung keine neuen Erkenntnisse gekommen sind, die diese Wiederauferstehung erklären würden. Meine Erklärung dieses Phänomens ist die Sehnsucht von Expert*innen nach einer Methode, den unverspurten Einzel-Steilhang hinsichtlich seiner Stabilität beurteilen zu können. Zum zweiten sind die Protagonist*innen dieser Lehre eine kleine Elite innerhalb der Expertenszene – Lawinenprognostiker*innen oder Mitglieder von Lawinenkommissionen. In der Hand dieser wenigen Menschen sind diese Methoden absolut nützlich, doch sind deren Voraussetzungen völlig andere als jene von Tourengeher*innen, Tourenführer*innen, Bergführer*innen.

Ob die Erwartungen zu hochgesteckt waren? Sicher nicht, was die Qualität und die Transparenz der Lawinenkurse betrifft. Entscheidungen systematisch und nachvollziehbar herbeizuführen, war ein Quantensprung in der praktischen Lawinenausbildung. Ebenso die Standardisierung von bewährten Sicherheitsvorkehrungen wie Abstände oder LVS-Check.

Was von den Anhängern der Munter-Methode, jedenfalls von mir, nicht richtig eingeschätzt wurde, ist ein psychologisches Phänomen: Es fällt Menschen draußen in der Natur schwer, Entscheidungen zu treffen und dabei konsequent einem Algorithmus zu folgen. Wir erleben, dass Kursteilnehmer*innen die Methode verstehen und anwenden können, es ihnen draußen im Gelände dann aber schwerfällt, diese konsequent umzusetzen. Es liegt nicht an der Intelligenz. Es scheint, dass wir draußen anders sind, starke Emotionen sind im Spiel, die konsequentes, lineares Denken erschweren. Besser kann ich es nicht ausdrücken und ich habe da auch keine Lösung parat.

Nur noch ein Satz dazu: Das strenge Abarbeiten – z.B. des Stop-or-Go-Algorithmus – ist in der Ausbildung essenziell. Verinnerlichung aufgrund von Erfahrung führt in der Praxis allerdings dazu, dass die meisten Stop-or-Go-Entscheidungen blitzschnell getroffen werden können.

Michael Larcher, © Hannes Mair, www.alpsolut.com
Wie begründest du deine Einschätzung, dass aus der Schneeforschung in den letzten 20 Jahren keine neuen Erkenntnisse gekommen sind? Das Prozessverständnis, das wir mittlerweile zur Entstehung von Lawinen haben, hat sich doch grundlegend geändert und auch die Identifikation der sogenannten Lawinenprobleme ist ein Forschungsergebnis der jüngeren Zeit.

Ich darf das präzisieren: Ja, es gibt Forschung und Erkenntnisse. Vor wenigen Tagen konnte ich einen Vortrag von den Forschern am SLF, von Jürg Schweizer und Benjamin Zweifel, hören. Das war beeindruckend. Als Ausbilder, also als Pädagoge, sehe ich aber keine neuen Erkenntnisse, die ein – salopp gesagt – Graben in der Schneedecke sinnvoll bzw. notwendig machen. Von der Zumutbarkeit und Akzeptanz der potenziellen Anwender*innen ganz abgesehen. Und wie neu ist das „Prozessdenken“? Dass ich ein Brett brauche, eine großflächig ausgeprägte Schwachschicht, einen Auslöseimpuls, einen Steilhang – das ist nicht neu. Auch die Umweltbedingungen, die solche Situationen – z.B. ein Altschneeproblem – entstehen lassen, waren bekannt. Stichwort „schneearme Winter sind besonders heikle Winter“. 

Das Wissen über diese Prozesse hat sich erweitert, ist präziser – das SLF kann mittlerweile Schneebrettlawinen mittels Algorithmen, also mathematisch, sehr naturnah abbilden. Das ist beeindruckend. Für die Praxis sehe ich diese Erkenntnisse dort am ehesten nutzbar, wo sie die Qualität des Lawinenberichts verbessern. Und da ist tatsächlich einiges geschehen, was uns in der Tourenplanung, aber auch vor Ort konkret hilft. 

Zu den Lawinenproblemen, die du ansprichst – hier sehe ich vielmehr eine verbesserte Systematik, einen Fortschritt in Sachen Semantik. In Stop or Go, Check 2, haben wir diesen Schritt ja vorweggenommen. Robert Purtscheller und ich setzten damals die pädagogische Brille auf und kamen sehr rasch zu diesem Schema: Neuschnee, Triebschnee, Nassschnee …

Von Experten hört man häufig: Stop or Go ist super für Einsteiger. Profis brauchen mehr oder etwas anderes, Profis müssen wieder aus Schneetests gültige Schlüsse ziehen können.

Unter den Expert*innen tun sich nach meiner Beobachtung vor allem die Bergführer*innen sehr schwer mit Regeln und Grenzwerten – zumindest in Österreich. Was für Profis in anderen Risikofeldern seit Jahrzehnten selbstverständlich ist, wird strikt abgelehnt, wenn es um Lawinen geht. Da greift man lieber auf die „intuitive Lawinenkunde“ zurück oder verweist auf die hohe Kunst der „Systematischen Schneedeckendiagnose“. 

Letztere kann zumindest auf eine Systematik verweisen, doch im Ernst: Wo sind die Expert*innen, die das a) beherrschen und b) auch tatsächlich anwenden. Das ist eine kleine Schar von Superexperten, die sich berufsbedingt jeden Tag mit der Schneedecke beschäftigen, vom ersten bis zum letzten Wintertag. Das ist eine eigene Welt, von der wir als Sportler*innen sehr profitieren – z.B. weil sie uns ein Altschneeproblem vorhersagen: wo, in welcher Exposition und Höhenlage. Aber wir können nicht deren Methoden zur Grundlage unserer Methodik machen. 

Und ich meine gar nicht Einsteiger und leicht Fortgeschrittene. Auch das Gros der Führer*innen ist damit überfordert oder ganz einfach nicht bereit, das anzuwenden. Führer*innen im Schnee müssen sich in erster Linie um Menschen kümmern, nicht um die Schwachschichten und Bruchfortpflanzung.

Was Stop or Go betrifft, so taugt dieses Konzept auch im Profi-Führungskontext: Expert*innen können dort ihren Vorsprung an Know-how und Erfahrung ausspielen, indem sie mehr „Go-Faktoren“ seriös anwenden und so ihren Spielraum erweitern. Expert*innen, Bergführer*innen profitieren ja immer auch von ihrer Kunst der Spuranlage – ein häufig vergessener Sicherheitsfaktor.

Dass sich Führer*innen im Schnee in erster Linie um Menschen und nicht um die Schwachschichten und Bruchfortpflanzung kümmern sollen, ist eine klare Ansage. Wäre es für dich zu viel verlangt, wenn sich die Führer*innen sowohl um die Menschen als auch um die Schwachschichten in der Schneedecke kümmern sollen?

Natürlich nicht. Wir sind als Führer ja Garanten für Sicherheit – besser formuliert: Garanten für die Einhaltung von Risikostandards. Daher bildet das Thema Lawine, die Stabilität der Schneedecke, zwangsläufig einen Fokus. Wir müssen uns aber nicht um die Schwachschichten in der Form kümmern, dass wir graben. Ich komme mit den Infos aus dem Lawinenreport und aus Beobachtungen – z.B. Windzeichen – zu guten Entscheidungen. Graben und Tests schätze ich sehr im Rahmen der Ausbildung, um Prozesse sinnlich erfahrbar, anschaulich zu machen, also zur Vermittlung. Mir macht es oft auch Spaß im Schnee zu graben, einfach aus Neugier.

An welche konkreten „Go-Faktoren“ denkst du, mit denen Expert*innen ihren Spielraum erweitern können?

Wir haben am Stop-or-Go-Kärtchen bewusst nur „stark verspurt“, „Wald“ und „Schmelzharschdeckel“ angeführt. In der Ausbildung von Multiplikatoren gibt es noch Faktoren wie: „eindeutig begünstigte Exposition“, „ständig befahren“ oder „Lawinenproblem nicht vorhanden/zu schwach ausgeprägt“ und „günstige Hang- und Geländesituation“. Mit Letzterem ist gemeint, dass die Hangdimension gering ist und keine Geländefallen bestehen. 

Zum Merkmal „stark verspurt“, das nur bei trockener Schneedecke gilt, bieten wir heute auch eine Definition an: „Stark verspurt ist ein Korridor, wenn zahlreiche Spuren ineinander verlaufen, so, dass ich keine Spur legen kann, ohne eine andere zu berühren.“ Dann mach ich auch noch Abstände und ich habe ein gutes Risiko. 

Der starke Fokus auf die Lawinenprobleme besteht in Stop or Go seit 1999. Auch das damit verbundene Prozessdenken, das durch die Forschung der letzten 10, 15 Jahre noch stark gewonnen hat. Allerdings nur auf Expertenlevel, nicht auf Hobbysportler-Niveau.

Im Winter 2017/18 war das sogenannte Altschneeproblem besonders ausgeprägt und für viele Unfälle – auch von Profis – verantwortlich. Gerade beim Altschneeproblem seien die Strategien ohnmächtig, so das Fazit einiger Experten.

Ist das wirklich so? Und ist nicht völlig klar, dass es die hundertprozentige Trefferquote in punkto richtig entscheiden nicht gibt. Vor allem aber: Was ist die bessere Alternative? Die mächtigste Waffe gegen Unfälle aufgrund eines Altschneeproblems liefert uns der Lawinenbericht. 

Warum dann nicht, wie wir das im ÖAV getan haben, die Faustregel anpassen: Bei Stufe 2 plus Altschneeproblem entscheide ich wie bei Stufe 3: Ich bleibe unter 35 Grad und berücksichtige den ganzen Hang. Noch gescheiter: Wähle Touren außerhalb der kritischen Hang- und Höhenlagen, zumindest aber Touren, die in den kritischen Bereichen keine Steilhänge aufweisen. 

Um dem Altschneeproblem wirksam zu begegnen, genügt der Lawinenlagebericht. Der Mehrwert durch eigene Schneetests ist fast null.

Stop or Go-Kärtchen 2019. Die aktuelle Ausgabe des Stop or Go-Kärtchens mit Standardmaßnahmen bzw. SOPs und Entscheidungsstrategie. Die Gesamtauflage von 2000 bis 2019 liegt bei knapp 400.000 Stück.
In der 2019er-Version hat sich der Check 2 verändert. Warum?

Wir haben den Check 2 nun an die fünf internationalen Lawinenprobleme angeglichen. 1999 haben Robert Purtscheller und ich die Lawinenprobleme vorweggenommen. Wir wollten ja Munters Reduktionsmethode ergänzen durch die fünf wichtigsten Beobachtungen, die uns im Gelände auf Lawinengefahr hinweisen. Herausgekommen sind damals: Neuschnee, frischer Triebschnee, starke Durchfeuchtung, Setzungsgeräusche und frische Lawinen. Das Altschneeproblem – den Begriff gab es damals nicht –, also die Existenz von Schwachschichten in der Schneedecke, wollten wir mit den Beobachtungen von Setzungsgeräuschen und frischen Lawinen in den Griff bekommen. Heute wissen wir, dass das nur sehr bedingt möglich ist.

Angesichts der internationalen Verbreitung der Lawinenprobleme in den Lawinenlageberichten, inklusive Piktogrammen, sahen wir es im Lehrteam als sinnvoll, die Unterschiede aufzugeben und somit weniger Verwirrung zu stiften. Ganz leicht ist es uns nicht gefallen, zumal wir nun das absolut nachrangige Gleitschneeproblem im Check 2 haben, während ein sehr eindeutiges Gefahrenzeichen, die Setzungsgeräusche, draußen ist.

Für dich ist Stop or Go immer noch der Königsweg in der praktischen Lawinenkunde?

Ich möchte mich an Churchill anlehnen: Stop or Go ist die schlechteste aller Methoden, aber ich kenne keine bessere.

Aussagen von mir über Stop or Go haben naturgemäß wenig Überzeugungskraft, da meine Objektivität auf eher tönernen Beinen steht. Aber mein Ablaufdatum ist nicht mehr fern und dann werden andere Köpfe bewerten, was taugt und was nicht. 

Aber lass mich eine von Stop or Go abstrahierte Beschreibung des Königswegs versuchen: Was muss ein Lawinen-Präventions-Konzept für Schneesportler*innen bieten? Aus meiner Sicht: Erstens einen Katalog mit möglichst wenigen, möglichst einfachen und bewährten Standardmaßnahmen. SOPs, Standard Operation Procedures, bewähren sich weltweit von der Fliegerei bis zum Tauchsport. Es braucht – zweitens – eine mächtige und gleichzeitig möglichst einfache Faustregel, um Entscheidungen zu treffen. Munter hat eine Faustregel aus Gefahrenstufe und Hangneigung vorgeschlagen: Je gefährlicher, desto weniger steil. Nichts reduziert mein Risiko im freien Skiraum deutlicher als der Verzicht auf extrem steiles, sehr steiles oder steiles Gelände. Dieser Zusammenhang ist evident. Drittens: ein Regulativ, um Go-Entscheidungen der Faustregel zu überprüfen. Schließlich, viertens, macht ein Katalog Sinn, der Ausnahmen definiert.

Mein Königsweg auf den Punkt gebracht: SOPs als Handlungskonzept und eine mächtige Faustregel, angereichert durch eine Kontrollroutine und einen Ausnahmenkatalog als Entscheidungskonzept.

Wie geht es weiter mit der praktischen Lawinenkunde, mit Stop or Go?

Hm, Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die entferntere Zukunft betreffen … Meine ehrliche Meinung? Ich erwarte in den nächsten zehn Jahren aus der Grundlagenforschung – Schneephysik und Meteorologie – keine Erkenntnisse, die uns in der praktischen Lawinenkunde wirklich weiterbringen werden. Auch die bestehenden Methoden, inklusive Stop or Go, haben ihre Leistungsgrenze erreicht. Ebenso die Lawinenprognosen, wobei in Österreich nicht alle Bundesländer das leisten können, was heute in Sachen Lawinenprognose möglich wäre. Auch für Rettungsgeräte, wie das LVS, sehe ich den Plafond erreicht.

Große Entwicklungschancen sehe ich nach wie vor in den Bereichen Kommunikation und Pädagogik, kurz gesagt: im Wissenstransfer. Wie erreichen wir Menschen mit unseren Konzepten? Wie machen wir Lawinenkunde sexy? Welche Kommunikationskanäle müssen wir bespielen? Welche Zielgruppen wollen wie informiert werden?

Der nächste große Wurf in der praktischen Lawinenkunde wird uns, glaube ich, per Internet erreichen. Algorithmen, künstliche Intelligenz haben das Potenzial, Risiken zu errechnen und Stop-or-Go-Empfehlungen zu machen. Die Schweizer Website Skitourenguru gibt einen ersten Vorgeschmack, was da kommen könnte. Das Brauchbare aus klassischer, analytischer und strategischer Lawinenkunde wird in Algorithmen verpackt, vernetzt mit Gelände-, Wetter-, Schneedeckenmodellen und Unfallstatistiken. Maschinen bzw. Rechner werden nicht fehlerfrei sein und es wird auch in 25 Jahren noch Lawinenunfälle geben. Aber fehlerfrei müssen sie auch nicht sein. Sie müssen nur besser entscheiden als Menschen. Und das werden sie. Besser auch als Expert*innen.

Dieser wahrscheinlichkeitsorientierte, mathematisch-statistische Weg wurde ja durch Werner Munter bereits vorbereitet, vor allem mit der professionellen Reduktionsmethode. Die Überlegenheit von Algorithmen gegenüber Menschen als Entscheider in komplexen Situationen resultiert aus zweierlei: einmal aus der millionenfach höheren Rechengeschwindigkeit von Prozessoren gegenüber neuronalen Netzwerken aus Fleisch und Blut. Zum zweiten kennen Algorithmen keine Gefühle. Damit entfällt das größte Lawinenproblem, der Faktor Mensch.

Klingt nicht sehr romantisch – und wo bleibt das Abenteuer?

Für uns alte Hasen mag das abschreckend wirken. Eine andere Generation wird das anders sehen. Wir beide haben uns auch an GPS, Smartphone, Internet und an andere Hightech-Ausrüstung angepasst. Wurde die Tiefe unseres Bergerlebnisses dadurch negativ beeinflusst? Nein. Die tiefe Erfahrung einer wilden, ursprünglichen Bergwelt im Winter, in Bewegung sein, unterwegs sein in Gemeinschaft, mit seinen besten Freunden, das ist die Essenz von Skitouren. Die Unsicherheit durch Lawinen braucht’s nicht. In Zukunft werden Menschen Skitouren als Therapie sehen und schätzen, weniger als Abenteuer. ■

Zum Nachlesen, Einstecken und als Ausbildungsunterlage können im Alpenvereinsshop der „Cardfolder Skitouren“ inkl. Stop-or-Go-Kärtchen sowie die Neuauflage (2019) des umfangreichen Booklets „SicherAmBerg – Skitouren“ (das auch die Themen Schneekunde, Stabilitätstests, Bruchfortpflanzung etc. behandelt) bestellt werden.

www.alpenverein.at/shop

Erschienen in der
Ausgabe #109

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