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Kurzes Seil. Nicht allzu schwierige gute Spur
01. Sep 2016 - 11 min Lesezeit

Gehen am kurzen Seil ist heikel. Die Alternativen auch.

„Noppa“ tödlich verunglückt: so mussten wir es im Juli 2016 in den Schweizer Medien lesen. Wir erfuhren, dass es im Abstieg vom Piz Bernina geschah: kurzes Seil, vermutlich ein Mitreissunfall. Leider gibt es jedes Jahr tragische Unfälle im Hochgebirge, zwei Drittel sind Stürze über eine grosse Höhe – Fälle also, bei denen die Seilsicherung versagt hat oder das Opfer nicht angeseilt war.

Gegensätzliche Meinungen

Während über das Sichern beim Klettern oder die Strategien in der Lawinenkunde unter den Alpenvereinen ÖAV, DAV, AVS und SAC weitgehend Einigkeit herrscht, klaffen die Ansichten über das Sichern auf Hochtouren weit auseinander. So schreibt der ÖAV in der diesjährigen Ausgabe des Booklets „Sicher am Berg – Hochtouren“: „Gehen am kurzen Seil ist primär eine Technik für Bergführer. Im Rahmen der Übungsleiter- und Instruktoren-Ausbildung empfiehlt der Alpenverein seit vielen Jahren, Touren, die diese Technik erfordern, nicht in Sektionsprogramme aufzunehmen. Wer ehrenamtlich für einen Verein Touren führt, die über lange Strecken Gehen am kurzen Seil erfordern, hat die Grenzen vom Idealismus zur Dummheit überschritten.“ Eine solche Aussage würde der SAC nicht mittragen.

In der Schweiz werden die verschiedenen Sicherungstechniken für das Hochtourengehen in Sommerkursen auf allen Ausbildungsstufen vermittelt, inkl. Gehen am kurzen Seil. Im Winter wird dieses auf allen Skihochtourenkursen und in den Tourenleiterkursen II ausgebildet. Zudem bietet der SAC-Zentralverband eigens Kurse für das „Gehen am kurzen Seil“ an. In den Grundausbildungskursen wird in einfachem Gelände die Technik erlernt, in den Fortbildungs- und Tourenleiterkursen werden die Schwierigkeiten sukzessive erhöht und dem Können der Teilnehmer angepasst. Selbstredend, dass in der Schweizer Bergführerausbildung das „Gehen am kurzen Seil“ intensiv geschult und geübt wird.

Über das Gehen am kurzen Seil wurde bereits einiges geschrieben, viel diskutiert und noch mehr polemisiert. Dass alle Seilschaftsmitglieder gleichzeitig unterwegs sind und wir auf Sicherungspunkte verzichten, erlaubt ein rasches Vorwärtskommen. Es birgt aber auch die Gefahr eines Seilschaftsabsturzes, das wissen wohl alle. Die Messungen von Braun-Elwert (bergundsteigen #63, 2/08 „Verbunden bis in den Tod“), wonach auf einem 30° steilen Hang mit harter Unterlage nur noch ein Zug von ca. 10 kg zuverlässig gehalten werden kann, zweifeln wir besser nicht an. Dass es im Abstieg schwieriger ist einen „Schlag“ zu halten als im Aufstieg, ebenfalls nicht. 

Eine Sicherungsmethode, die keinen Sturz hält

Was zum Teufel soll eine Sicherungsmethode, mit der wir einen Sturz gar nicht halten können? Das Problem liegt davor. Kommt es zum Sturz, ist es beim kurzen Seil oft schon zu spät, dann ist der verhängnisvolle Fehler schon gemacht (Abb. 1). Mit dem kurzen Seil können wir nur den Beginn eines Ausrutschens oder Stolperns des Nachsteigers stoppen. Damit verhindern wir einen drohenden Sturz und den im steileren Gelände darauffolgenden Absturz bereits ganz in der Anfangsphase. Allerdings gelingt dies nur, wenn wir die Technik korrekt anwenden und in nicht zu schwierigem Gelände unterwegs sind.

Fotoserie 1: Mit dem kurzen Seil geht es darum den Beginn eines Ausrutschers oder Stolperers zu verhindern und es gar nicht zum Sturz kommen zu lassen. Das gelingt nur, wenn diese Technik intensiv trainiert wird, wie hier beim SAC-Tourenleiter Kurs 2016 in Orny: Wenn der Seilzweite wie hier nach aussen kippt, statt mit den Füßen wegzurutschen, ist das besonders schwierig. Nach den ersten „Fehlversuchen“ (Fotoserie) wird rasch klar, wie wichtig ein möglichst kurzer Seilabstand, ein permanenter „Zug“, wenig Schlingen und eine Handschlaufe (hier noch nicht korrekt) sowie volle Aufmerksamkeit des Führenden sind – und dass der Gewichtsunterschied ein limitierender Faktor ist! Am Ende dieses Übungstages hatten alle Tourenleiterinnen die Möglichkeiten und Grenzen des Gehens am kurzen Seil erfahren und wandten diese Technik bei den folgenden Touren entsprechend an.

Jedes Jahr stürzen Bergsteiger ohne Seilsicherung ab, mit Seil auch ganze Seilschaften. Der Unfallstatistik des SAC entnehmen wir, dass von 2006 bis 2015 in der Schweiz pro Jahr im Durchschnitt neun Bergsteiger ohne Seil (trotz Begleitung) und zusätzlich knapp drei Alleingänger abgestürzt sind (Abb. 2). Dem stehen knapp acht Opfer bei Seilschaftsabstürzen gegenüber. Leider können wir daraus keine Risiken berechnen, denn wir wissen nicht, wie viele Leute wie oft mit welcher Sicherungstechnik unterwegs waren.

Abb. 2: SAC-Statistik 2006 bis 2015: Anzahl Mitreissunfälle (angeseilt) mit Toten im Vergleich zur Anzahl der Toten bei unangeseilten Gruppen und von Alleingängern.

Definition Mitreissunfall:

Es gibt keinen formalen Parameter für solche Ereignisse. Als Mitreissunfall werden alle Unfälle berücksichtigt, bei denen es angeseilt zu einem Totalabsturz der Seilschaft kam.

Nicht berücksichtigt werden:

  • Versagen eines Sicherungspunktes
  • Lawinen bei Hochtouren (z.B. Militärunfall Jungfrau)

Anzahl Tote bei Abstürzen unangeseilt trotz Begleitung:

Hier werden nur Ereignisse berücksichtigt, die sich im Gelände ereignet haben, wo man (nach Schweizer Lehrmeinung) üblicherweise anseilt.

Bemerkungen:

  • 2014 war ein „Ausreisser“ im positiven Sinne: 2014 war ein mieser Sommer, es schneite immer wieder. Dadurch wurden nur wenige Hochtouren gemacht und es waren meistens gute Trittspuren vorhanden.
  • Mit einer Ausnahme kamen alle abgestürzten Alleingänger nicht aus der Schweiz.

Die Unfallstatistik zeigt, wie oft die Seilsicherung (im exponierten Gelände) versagt und der stürzende Bergsteiger die ganze Seilschaft mitgerissen hat. Umgekehrt wissen wir nicht, wie viele Bergsteiger vom Seilpartner gehalten wurden und dank dem Seil überlebten.

Auch wir, die Autoren persönlich, wissen nicht, wie oft wir mit dem kurzen Seil schon einen Unfall verhindern konnten – vermuten aber, dass das mehrmals der Fall war. Bei der kleinsten Unregelmässigkeit des Nachsteigers ziehen wir reflexartig am davor schon straffen Seil, oft zig Mal pro Tour. In den allermeisten Fällen wäre der Gast vermutlich nicht gestürzt. Aber so lange dürfen wir nicht warten, müssen wir doch jeden auch noch so kleinen Ansatz eines beginnenden Rutschers sofort stoppen.

Wir wollen aber nicht verhehlen, dass wir beide auch schon einen bzw. zwei Fälle hatten, bei denen wir den Ansatz eines Rutschers nicht stoppen konnten. Wir waren zu spät mit dem Eingreifen und es kam zum Sturz des Nachsteigers. In diesen Fällen konnten wir den Sturz des Nachsteigers in Extremis noch stoppen und den Seilschaftsabsturz verhindern.

Bei dem Gedanken an diese Situationen läuft es uns aber heute noch kalt den Rücken herunter. Da hatten wir viel Glück – mehr Glück als der viel bessere Bergsteiger, unser Noppa.

Die „beste“ Sicherungstechnik

Die Diskussionen um das Gehen am kurzen Seil greifen oft zu kurz. Denn eine Hochtour führt von der Hütte auf den Gipfel und wieder zurück ins Tal und entlang dieses Weges werden verschiedenste Sicherungstechniken angewandt: Seilfrei, kurzes Seil, gemeinsamer Seiltransport, halblanges und langes Seil sind nur einige davon.

Die Sicherungstechnik muss laufend dem Gelände und den Menschen angepasst werden. Die Frage ist nicht „kurzes Seil oder seilfrei“, sondern: Welches ist die beste Sicherungstechnik und kann ich damit das Risiko – für mich und die anderen – auf ein vertretbares Mass reduzieren? Wenn nicht, kehren wir um. Wenn ja, dann müssen wir die entsprechende Technik korrekt anwenden.

Die Frage nach der „besten“ Sicherungstechnik kann also nicht pauschal beantwortet werden, sie hängt von zu vielen Einflüssen ab, wie z.B.:

  • Mensch:
    Können (Kletter- und Seiltechnik), Kondition, Kraft, Gewichtsunterschied, Müdigkeit/Aufmerksamkeit, psychische Verfassung, Ausrüstung, Anzahl Personen und Seilführer, Garantenstellung, andere Seilschaften usw.
  • Gelände:
    Steilheit, Exponiertheit, Verankerungsmöglichkeiten (Felszacken, Haken, Eisenstangen, Eisschrauben …), Felsqualität usw.
  • Verhältnisse:
    harter/weicher Schnee, Eis, vorhandene Spur, trocken oder verschneit usw.

Oft geht es von der Hütte seilfrei (Abb. 3) und auf Wegspuren weg. Kommen wir auf einen Gletscher, so wechseln wir auf das lange, gestreckte Seil (Abb. 4). Dass wir am langen Seil von Standplatz zu Standplatz sichern, kommt durchaus vor, aber meist nur ein kurzes Stück. Für lange Strecken ist diese Sicherungsart schlicht zu langsam und in Firnflanken sind solide Standsicherungen ohnehin kaum möglich. Auf klassischen Hochtouren klettern wir deshalb oft über weite Strecken am kurzen (Abb. 5) oder halblangen Seil (Abb. 6). Mit diesen Techniken sind wir schnell unterwegs, aber seiltechnisch sind sie anspruchsvoll.

Auf einfacheren Abschnitten ohne Absturzgefahr seilen wir meistens nicht los, meist gehen wir dort am einigermassen kurzen Seil. Dies ist dann bewusst ein gemeinsamer Seiltransport und keine Sicherungstechnik (Abb. 7).

Abb. 3: Seilfreies Gehen. Führungsmassnahmen wie gute Spur legen, Tritte schlagen, Tempo anpassen usw. sind auch ohne Seil anzuwenden.
Abb. 4: Langes, gestrecktes Seil.
Die einzige korrekte Sicherung auf dem verschneiten Gletscher.
Abb. 5: Kurzes Seil. Nicht allzu schwierige gute Spur, kurzer Seilabstand, Handschlaufe, Arm leicht abgewinkelt und – wie eine Feder – immer auf Zug, volle Aufmerksamkeit, nur ein Nachsteiger und passendes Gewichtsverhältnis – die besten Voraussetzungen, um mit dem kurzen Seil einen Sturz bereits im Ansatz zu verhindern.
Abb. 6: Halblanges Seil. Das Seil ist entsprechend verkürzt und ein Sturz des Nachsteigers wird gehalten, indem (hier am Felskopf) gesichert wird. Geht man gemeinsam, wird ein Seilschaftsabsturz verhindert, indem das Seil durch/um Sicherungspunkte (Stangen, Felskopf, Haken) läuft.
Abb. 7: Gemeinsamer Seiltransport. Keine Sicherungstechnik, weil ein Absturz nicht möglich ist; stolpert der Nachsteiger, bleibt er an Ort und Stelle liegen.

Der Seilführer darf nicht stürzen

Beim kurzen Seil müssen wir sicher sein, dass der Seilerste mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht stürzt (!), die ganze Seilschaft würde mitgerissen. Ist diese Bedingung nicht erfüllt, müssen wir eine andere Sicherungsmethode wählen, die auch einen Sturz des Vorsteigers hält, oder umkehren. Rutscht der Seilzweite aus, kann er oft – aber leider nicht immer – gleich zu Beginn vom Seilführer gestoppt werden.

Seilfrei hat der schwächste Bergsteiger der Gruppe das höchste Risiko. Am kurzen Seil dagegen ist das Risiko für alle gleich: entweder ein Rutscher wird gestoppt oder die ganze Seilschaft stürzt ab. Das kurze Seil verlagert also die Risiken: weg vom schwächeren Bergsteiger, hin zum Besseren (siehe Wicky: „Kurz und schmerzlos“ in: bergundsteigen #64, 3/08).

Am kurzen Seil sind Zweierseilschaften ideal. Grössere Seilschaften erhöhen das Risiko für alle Seilschaftsmitglieder massiv:

  • Rutscht der zweite (hintere) Nachsteiger aus, so wird er vom ersten (mittleren) Nachsteiger nicht zuverlässig gestoppt. Dazu müsste dieser, gleich wie der Vorsteiger, entsprechend ausgebildet sein, die Hand am Seil haben und immer leichten Zug geben. Es kann also grundsätzlich zum Sturz des zweiten Nachsteigers kommen. Kann der erste Nachsteiger diesen nicht glücklicherweise stoppen, stürzt er ebenfalls. Der Seilführer müsste nun beide Stürzenden halten, was auch bei sonst günstigen Verhältnissen äusserst problematisch und bei noch grösseren Seilschaften praktisch unmöglich ist.
  • Je grösser die Seilschaft ist, desto mehr Menschen stürzen ab, wenn der Sturz eines Einzelnen nicht gehalten werden kann.

Theoretisch könnten zwei gleich starke Bergsteiger immer auf das kurze Seil verzichten und das Risiko wäre etwas kleiner. Warum „theoretisch“, „könnte“ und „wäre“? Ausser auf reinen Schnee- oder Firntouren wie z.B. gut eingeschneiten Eiswänden gibt es nur selten ganze Touren, die sich durchgehend für das kurze Seil oder eben seilfrei eignen. Sinnvollerweise betrachten wir das Risiko nicht isoliert für die Abschnitte am kurzen Seil, sondern als Summe über die ganze Tour – und dann werden psychologische Einflüsse wichtig.

Psychologische Einflüsse

Ein straffes Seil ist für den Seilzweiten beruhigend und ohne Stress ist er sicherer und genussvoller unterwegs. Der Seilerste ist durch das permanent gespannte Seil in unmittelbarem Kontakt mit seinem Nachsteiger: Er spürt sein Tempo und bekommt mit, wie es ihm physisch und psychisch geht (Kondition, Unsicherheit …). Seilfrei mit meist grösserem Abstand ist dies kaum wahrzunehmen.

Angeseilt entscheidet der (stärkere) Seilführer unter Berücksichtigung des Wohlbefindens des Seilpartners über die Art der Sicherung. Ist es ihm nicht wohl am kurzen Seil, kann er problemlos für ein paar schwierigere Meter auf eine andere Sicherungsmethode wechseln.

Vielfach meistern die besseren Bergsteiger einer Gruppe eine schwierigere Passage locker, während der Schwächste überfordert ist. Dieser wird sich aber kaum gegen den Gruppenstandard „Wir können das ohne Seilsicherung“ auflehnen und trotz seiner Ängste seilfrei weiterklettern.

Seilfrei verpassen wir leicht den idealen Zeitpunkt zum Anseilen: Bisher war die Route tatsächlich recht einfach; jetzt kommt plötzlich eine wohl nur kurze, schwierigere Stelle oder unerwartet kommt unter dem Schnee das Eis hervor. Eigentlich wäre hier Sichern angesagt, aber jetzt auf den Frontzacken stehend anseilen wäre mühsam. Bisher ging ja alles gut, also wird das hier auch noch gut gehen: Augen zu und Flucht nach vorne.

In einer Garantenstellung ist seilfrei auf einfaches Gelände zu beschränken. Der Garant ist verpflichtet, Massnahmen zu treffen, um seine Teilnehmer vor überhöhten Risiken zu schützen. Seilsicherung ist je nach Gelände eine dieser Massnahmen. 

Fazit

Auf Hochtouren muss die Sicherungstechnik laufend den Verhältnissen, dem Gelände und den beteiligten Menschen angepasst werden. Die jetzt und hier beste Sicherungstechnik müssen wir sorgfältig abwägen und laufend neu beurteilen. So ist z.B. das Sprungseil, das auf dem Firngrat richtig ist, in einer Felsflanke ungeeignet und an einem Ort, wo seilfrei unter Kollegen sinnvoll ist, kann es in einer Garantenstellung problematisch werden.

Vermutlich sollten wir Schweizer tatsächlich das eine oder andere Mal auf das kurze Seil verzichten, eine kleinere Seilschaft bilden oder früher auf das halblange Seil wechseln. Unseren deutschsprechenden Nachbarn dagegen empfehlen wir, das Gehen am kurzen Seil früher zu erlernen. Denn nur korrekt durchgeführt besteht eine gute Chance, am kurzen Seil einen Nachsteiger zu halten.

Erschienen in der
Ausgabe #96