Seilrisse von dynamischen Kletterseilen: Das letzte ungelöste Problem?
Es ist der 19. September 2011, kurz vor 8.00h morgens. Ich befinde mich am Standplatz am Ende der vierten Seillänge der „Regular Northwest“ am Halfdome/Yosemite. Mein Seilpartner Markus ist einige Meter vom Standplatz nach rechts gequert und dabei, einen kleinen Aufschwung zu überklettern. Er setzt mehrere Male an. Vielleicht ist ihm die Passage etwas unangenehm, er wirkt etwas unsicher. Wie auch einige Tage zuvor in der „Nose“ am El Cap klettern wir mit Einfachseil und haben eine Reepschnur als Tagline auf der Rückseite des Gurts befestigt, um den kleinen Haulbag nachzuziehen.
Beim dritten Versuch belastet Markus die Schuppe vor ihm in seitliche Richtung, als diese plötzlich nach außen aufkippt. Die nächsten Sekunden verstreichen wie in Zeitlupe. Markus fällt rückwärts aus der Wand. In den Händen hält er die etwa 50cm breite und 1m hohe Schuppe, versucht diese nach außen wegzulenken. Nach ein paar Metern schlägt er an der Wand auf und ich erwarte den typischen Seilzug, wenn Kletterer ins Seil stürzen. Bis auf einen kurzen Ruck bleibt das Seil aber unbelastet. Markus stürzt ab. Eine italienische Seilschaft die am Wandfuß gerade in die Route einsteigen möchte, versucht noch Erste Hilfe zu leisten – kann aber nichts mehr für ihn tun.
Das Schicksal von Markus ist kein Einzelfall, auch wenn es für mich persönlich ein schwacher Trost bleibt. Jährlich sterben Alpinisten und Kletterer aufgrund von Seilrissen über scharfe Kanten oder wie im Fall von Markus, weil ein Stein das Seil gekappt hat. Der Gebrauch von Halbseilen ist aufgrund von Komfort (bei meist schweren alpinen Mehrseillängenrouten) oder aufgrund der gewählten Klettertaktik (Seil wird fixiert, Nachsteiger jumart nach) nicht immer die erste Wahl.
Wann kann es zu Seilrissen kommen?
Natürlich hat sich auch das dynamische Kletterseil seit seiner Erfindung Mitte des 19. Jahrhunderts stark weiterentwickelt. Seile werden heute aufwändig geflochten, imprägniert und sind in puncto Gewicht, Fangstoß und Robustheit wesentlich besser als noch vor einigen Jahren. Auch hat sich das Rohmaterial Nylon (Polyamid) verbessert und bietet den Herstellern heute die Möglichkeit, dünnere Seile mit für das Bergsteigen und Klettern verbesserten Eigenschaften herzustellen. Ein Seilriss durch Kräfte, die ein Mensch verursachen kann, ist heute beinahe ausgeschlossen, wenn das Seil direkt belastet wird. Läuft das Seil aber über eine scharfe Kante oder eingeschliffenen Karabiner, so sieht die Sache anders aus.
Dynamische Kletterseile haben vor allem die Aufgabe, schnell auftretende Kräfte im Falle eines Sturzes aufzunehmen. Dies bedingt, dass sie eine gewisse Dehnung aufweisen müssen, um diese Kräfte zu absorbieren und den Fangstoß unter 12kN (Normprüfung Einfachseile) halten zu können. Diese Eigenschaft wird durch den Herstellungsprozess und die Eigenschaften des Materials (Polyamid) erreicht. Bisher hat man noch keine bessere Alternative zum verwendeten Rohmaterial Polyamid gefunden, weshalb man der Scharfkantenproblematik entweder durch Redundanz, also der Verwendung von Halb- oder Zwillingsseilen oder durch ein dickeres, robusteres Seil mit höherem Mantelanteil begegnete. Vergleicht man ein sehr dünnes Einfachseil (z.B. 8,5mm) mit einem baugleichen Einfachseil mit 10mm Durchmesser so erhöht sich der Querschnitt um ca. 40%. Auch die Schnittfestigkeit würde sich in etwa um den gleichen Prozentsatz erhöhen, wären die Seile baugleich hergestellt.
Seile verschiedener Bauart und Flechtung können aber nicht 1:1 miteinander verglichen werden. Deshalb ist es nicht möglich, vom Querschnitt allein auf die Schnittfestigkeit zu schließen. Auch sind das Gewicht oder der Mantelanteil wenig aussagekräftig, da diesbezüglich sehr viel mehr Variablen eine Rolle spielen.
Leider ist es bis heute weder den Herstellern noch den Prüfinstituten gelungen, einen Testaufbau zur Ermittlung der Schnittfestigkeit in die Normprüfung zu implementieren. Der von der UIAA 2002 eingeführte Scharfkantentest wurde nach nur 2 Jahren wieder ausgesetzt aufgrund der inhomogenen und nicht nachvollziehbaren Ergebnisse. Ein Arbeitsgruppe in der UIAA befasst sich aktuell wieder mit der Thematik.
Ein Unfall während der Schweizer Bergführerausbildung vor einigen Jahren mit zwei gleichzeitig abgelassenen Personen über eine Felskante trug dazu bei, dass in einigen ausbildenden Verbänden die Empfehlung ausgesprochen wurde, dass ein Nachsteiger im Felsgelände nicht an einem Halbseilstrang nachgesichert werden darf, sondern stattdessen ein Einfachseil dazu verwendet werden muss.
Untersuchungen von Chris Semmel und Daniel Gebel (bergundsteigen, Ausgabe #99) konnten aber nachweisen, dass die Schnittfestigkeit vor allem mit einer Erhöhung der Last stark abnimmt. Eine Verdoppelung der Last resultiert in einer Abnahme der Schnittfestigkeit um den Faktor 6 bis 7! Um Seilrissen vorzubeugen wäre also vor allem in puncto Lastreduktion zu denken. Konkret bedeutet das die Anwendung der Zwillingsseiltechnik beim Klettern oder das Vermeiden von zwei Personen beim Ablassen am Einzelstrang wie es häufig im Führungskontext gemacht wurde.
Seit Jahren versuchen Hersteller, dynamische Kletterseile durch die Verwendung von schnittfesteren Materialien robuster gegen scharfe Kanten und Karabiner zu machen. Bis dato scheiterte man immer an den statischen Eigenschaften von schnittfesteren Materialien wie Aramid, Polyester oder Dyneema bzw. war das Endergebnis in Summe unbefriedigend weil eine Erhöhung der Schnittfestigkeit andere ungewünschte Nachteile mit sich brachte (Gewicht, Steifigkeit, etc.).
Edelrid ist es vor einigen Jahren gelungen, einen Flechtprozess zu entwickeln der es erlaubt, schnittfeste Aramidfasern in den Mantel von dynamischen Kletterseilen zu integrieren ohne dass die geforderte Dynamik allzu sehr darunter leidet. Die Schnittfestigkeit konnte durch diese Methode in etwa verdoppelt werden, zumindest wenn mit der von Edelrid konstruierten Prüfmaschine getestet wird. Die Rückmeldungen von diversen Bergführern zu den Edelrid Protect Seilen sind sehr positiv, wenngleich angemerkt wurde, dass das Seil zum „Pelzen“ neigt. Kleine Beschädigungen der Aramidfasern bei dynamischer Belastung erklären das Pelzen wenngleich diese Eigenschaft aber sogar positiv wahrgenommen wird, da sich das Handling aufgrund der erhöhten Reibung verbessert – zumindest bei der klassischen Führungstätigkeit am Kurzen Seil.
Interview: Phil Westenberger, Edelrid
Wir haben bei Phil Westenberger (Head of Product) nachgefragt und ihm ein paar Fragen zu der von Edelrid entwickelten „Cut Resistance“ Technologie gestellt.
bergundsteigen: Was ist so besonders bzw. warum hat vor euch noch keiner geschafft, dynamische Kletterseile durch gezielte Materialkombinationen schnittfester zu machen?
Phil Westenberger: Das Hauptproblem dabei war sicher, dass man jahrelang daran gescheitert ist die Eigenschaft „Schnittfestigkeit“ quantifizierbar zu machen. Und man kann am Ende ja nur was tatsächlich verbessern, was man messen kann. Das wiederum lag aber nicht daran, dass das vor uns niemand versucht hat, es ist nur lange nicht so trivial wie es sich anhört.
Einerseits versucht man da Textil messbar zu machen, was nie einfach ist. Andererseits verändert sich beim Schneiden jeglicher Art immer das Schneidewerkzeug (es wird stumpf) und man hat so am Ende Schwierigkeiten ein Ergebnis zu bewerten, weil man jetzt nicht weiss: kommt der Wert, den man da jetzt gemessen hat weil das Seil so gut ist oder weil die Klinge so stumpf ist? Dem haben wir uns eben angenommen und da zum ersten Mal etwas gebastelt (innerhalb von aber auch 5 Jahren), was da reliable Ergebnisse liefert.
An sich gab es Seile mit Materialkombinationen auch schon vorher immer mal. Die hatten dann vielleicht nicht unbedingt einen hohen Schnittwert als Ziel. Und hier muss man auch vorsichtig sein. Dass in solchen Seilen Aramid eingesetzt wird, ist leicht zu verstehen und es ist deshalb auch nachvollziehbar, dass das Ganze dann oft darauf reduziert wird. Wir könnten aber theoretisch auch Seile mit noch höheren Schnittwerten bauen, die ganz ohne Aramid auskommen würden. Weil es eben nur eine von unzähligen Seilparametern ist, die die Eigenschaft „Schnittfestigkeit“ beeinflussen.
Der Nachteil daher wäre einfach, dass dann Charakteristiken entstehen würden in einem solchen Seil (zum Beispiel Steifigkeit), die man nicht in dem Maße wünscht. Und so helfen eben solche Materialien wir Aramid, dass da am Ende ein sehr ausgeglichenes Seil rauskommt mit einem hohen Schnittwert. Aber eben dadurch, dass wir dieses reliable Testverfahren entwickelt haben und dass wir beliebig bei uns in der Produktion Prototypen bauen können, konnten wir lernen, welche Parameter am Seile welchen Einfluss auf den Schnittwert haben.
bergundsteigen: Das Messen der Schnittfestigkeit ist bis heute problematisch. Zeichnet sich ein Standard ab, der es in Zukunft ermöglicht, die Schnittfestigkeit verschiedener Hersteller zu vergleichen?
Westenberger: Das sollte doch unser aller gemeinsames Ziel sein. Wir haben hier eine Situation, die es nicht mehr so häufig gibt heute. Es gibt durch diverse Unfallstatistiken den eindeutigen Beleg, dass mit Abstand der häufigste Grund für beobachtete Seilversagen scharfe Kanten sind. Und auf der anderen Seite haben wir keinerlei Produktdaten, die einem Nutzer die Sicherheit seines Seils gegenüber diesem Risiko einschätzen lassen.
Derzeit gibt es dazu gerade eine UIAA Arbeitsgruppe, die eben einen solchen Test erarbeiten soll. Unser Testverfahren dient hier als der grundsätzliche Ansatz. In diesem Fall wurde dieser Prozess auch in der UIAA gestartet, weil es dort einfach „schneller“ und „unkomplizierter“ voran geht als auf CEN-Ebene. Und auch weil, gibt es einmal einen UIAA Standard, die Umsetzung auf CEN Ebene wiederum „schneller“ geht. „Schnell“ ist hier aber sehr relativ. Es wird also noch ein bisschen dauern.
bergundsteigen: Ihr verwendet Aramidfasern, um den Mantel schnittfester zu machen. Warum gerade diese Faser? Wäre Dyneema oder Polyester nicht besser geeignet, weil die Stoffe leichter und glatter wären und weniger Wasser ziehen würden?
Westenberger: In den nun ja schon 6 Jahren kannst du dir sicher sein, dass wir schon vieles ausprobiert haben. Besser ist dabei eben immer relativ. Es gibt andere Vor- und andere Nachteile. Aramid ist aktuell einfach die beste Lösung, für das, was wir haben wollen. Wir konnten zeigen das Polyester grundsätzlich einen etwas höheren Schnittwert erzeugen kann als Polyamid. Allerdings haben hier ganz klar Aramid und Dyneema noch einen positiveren Einfluss. Die beiden wiederum unterscheiden sich übrigens nicht großartig (entgegen einer Behauptung einer Euren älteren Artikel zu dem Thema…) in dieser Charakteristik. Ein genauer Vergleich fällt hier bisher allerdings immer noch schwer (deswegen diese wagen Formulierungen). Grund dafür ist, dass diese Materialien oft nur in unterschiedlichen Titern erhältlich sind. Und dann vergleicht man genau genommen eben nicht Äpfel mit Äpfel.
Dyneema ist allerdings aus anderen Gründen nicht unproblematisch in diesem Kontext, vor Allem dann, wenn wir in unseren Produktionsprozess solche Seile imprägnieren wollen. Dazu bnötigt es eben immer Wärme und das mag Dyneema eben überhaupt nicht. Und wenn man ein imprägniertes Seil möchte, dann hilft es nicht, dass die einzelne Dyneema-Faser in dem Rest des Polyamidseils etwas weniger Wasser aufnimmt. Man muss da schon das ganze Seil imprägnieren. Die Schnittfestigkeit und/oder das Gewicht würde man in unserer aktuellen Konstruktion darüber hinaus nicht sonderlich verbessern mit Dyneema. Aber wir haben hier auch interessante andere Ansätze und wahrscheinlich wird man da auch in der Zukunft das ein oder andere noch sehen.
Was auf der anderen Seite am Aramid etwas unschön ist, ist vielleicht die schlechte UV-Beständigkeit im Vergleich zu anderen Fasern. Allerdings ist dies einerseits ein sehr marginales Thema, wenn man sein Seil nicht irgendwo draußen hängen lässt, andererseits haben wir unsere Seile so gebaut, dass sie ganz ohne den Aramidanteil auch die Norm bestehen würden.
bergundsteigen: Mammut schlägt mit seinem Core Protect Seil eine gänzlich andere Richtung ein. Anstelle des Mantels wird dort „nur“ der Kern geschützt. Gibt es von Edelrid ähnliche, vielleicht andere Zugänge oder ist das Thema Schnittfestigkeit für euch abgeschlossen?
Westenberger: Abgeschlossen ist das Ganze wohl nie mehr bei uns. Die Maschine ist Teil einer jeden Entwicklung mittlerweile. Naja, und für uns sind da bei dem Mammut Seil jetzt nicht wirklich neue Ansätze dabei. Wir haben da glaube ich einfach schon um einiges mehr ausprobiert als die meisten unserer Mitstreiter.
Mit einem Aramid-Zwischenmantel haben wir beispielsweise schon bei der Rap Line II experimentiert. Die kam sogar so 2015 auf den Markt. Alter Hut also. Ein Video dazu:
Es gibt einige unschöne Dinge an dieser Konstruktion: Einerseits braucht man einfach mehr Material, was aus unterschiedlich vorstellbaren Gründen ungut ist. Zum Beispiel, weil es nachher auch in Mantel und Dynamikkern fehlt. Unschön natürlich auch für die Kosten – Einerseits mehr Material, andererseits muss man zwei Mal auf einer Maschine flechten. Wir hatten allerdings damals auch festgestellt, dass sollte der Aramid-Zwischenkern mal bei einer dynamischen Belastung versagen, beschädigt der innere „explosionsartige“ Riss sehr häufig auch den äußeren Mantel. Und das ist etwas was durchaus vorstellbar ist. Generell mal, weil sich das Seil natürlich als Ganzes dehnen muss und die Bestandteile sich dem nicht entziehen können (sie sind ja am Ende zusammengeknotet..). Aber auch gerade während dem Gebrauch muss man (als Hersteller) bei solchen Sandwich-Konstruktionen immer im Hinterkopf haben, dass sich innere Fasern mit der Zeit verschieben können mit dem Ergebnis, dass plötzlich nicht mehr alle Fasern gleichmäßig belastet werden und dann nacheinander versagen könnten. Wie gesagt, alles möglich, aber aus unserer Sicht einfach unschön. Das wird dann vor allem bei dünneren Durchmessern sehr sensibel.
Allerdings war das damals auch noch bevor wir an Schnittfestigkeit geforscht haben. Weil durch unsere Arbeit hieran konnten wir eben extrem viel darüber lernen, was wo und wie viel Einfluss auf den Schnittwert eines Seiles hat. Und dadurch sind dann vor allem auch nochmal die Zwischenkernlösungen weggefallen. Ein weiteres interessantes Beispiel dafür ist das Tendon Static Force 10,0 mm – Ein Statikseil mit Edelstahl-Zwischenkern. Funktioniert leider gar nicht gut, was den Schnittwert angeht …
Und zu guter Letzt hat das Aramid im Mantel eben auch noch weitere Vorteile. Eben gerade was den Abrieb angeht haben wir sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Packt man das Aramid ins Innere, dann bleiben natürlich die guten Abriebcharakteristiken der Faser völlig ungenutzt.
Vielleicht am Ende noch als untergeordnete Charakteristik vom Aramid im Mantel zu erwähnen wäre die gute Griffigkeit. Gerade zum Sichern bzw. auch fürs Führen eine Eigenschaft, die uns häufig schon positiv angemerkt wurde.
bergundsteigen: Gibt es von deiner Seite noch etwas Aktuelles, das die Leser zu dem Thema wissen sollten?
Westenberger: Wenn ich die öffentlichen Diskussionen zu dem Thema sehe, dann gibt es da eine ganze Menge. Da würde ich gar nicht mehr aufhören zu schreiben. Gerne würde ich natürlich auf unsere Knowledge Base Videos verweisen in der wir immer wieder einige Schlussfolgerungen unserer Forschung teilen:
- Knowledge Base: Cut Resistance of Ropes: Part I – Was ist das Problem?
- Knowledge Base: Cut Resistance of Ropes: Part II – Gewicht ist wichtiger als der Schnittwert
- Knowledge Base: Cut Resistance of Ropes: Part III – Was wir heute Wissen.
Aber es gibt auch generelle Sachen: Beispielsweise sollten wir als Klettergemeinschaft und Industrie vorsichtig mit Begriffen wie „schnittfest“, „Schnittfestigkeit“ umgehen. Es fällt manchmal schwer, ich weiss, ich benutzte es selbst immer wieder (siehe oben) und wir sind da leider auch nicht immer die besten Vorbilder. Wir sollten nur Niemanden suggerieren, dass diese Produkte unzerstörbar sind. Das sind sie natürlich nicht! In der aktuellen Normungsarbeit wird das auch thematisiert und ich versuche hier auch wo es geht die Terminologie „Schnittwert“ zu verwenden. Damit ist dann einfach das Ergebnis des Schnitttests gemeint. Seile mit höherem Schnittwert sind eben als „resistenter“ gegen etwaige Schnittbelastungen einzustufen.
Und dann vielleicht noch zu unserem Test. Es wird in dem Kontext immer viel darüber diskutiert, dass der Test doch ein dynamischer sein sollte, weil wir gerade als Kletterer immer dieses Sturzszenario vor Augen haben. Dabei wird immer vergessen, was so ein Test machen soll. Er soll in erster Linie reliable und reproduzierbare Ergebnisse bringen. Ersteres bedeutet: Ich mache den Test 100 Mal und bekomme Ergebnisse in einer sinnvollen Standardabweichung.
Letzteres Bedeutet 100 verschiedene Leute machen den Test und bekommen Ergebnisse in einer sinnvollen Standardabweichung. Und hierbei haben dynamische Set-Ups immer wieder versagt in der Vergangenheit. Weil eben ein Sturz nicht gut zu kontrollieren ist. Und dann soll der Test natürlich nachweisen können, dass er zu ähnlichen Ergebnissen – im Verhältnis – kommt, wie in der Praxis. Auch das haben wir natürlich gemacht. Und dann ergibt ein Test Sinn und liefert eine sinnvolle Vergleichbarkeit. Zuletzt darf man nicht vergessen, dass bei uns im Klettersport ein Großteil der Unfälle, vielleicht sogar annähernd die Hälfte in statischen Szenarien passiert (z.B. Abseilen). Nimmt man die Höhenarbeit dazu wird der überwiegende Teil in statischen Szenarien passieren! Und dann reden wir eben davon, dass unser Test sogar beide Welten abbilden könnte.
Mammut Core Protect – Der Gamechanger?
Einen etwas anderen Ansatz verfolgt wie schon erwähnt Mammut. Mit seiner neuen Core Protect Technologie wird der Kern, wie der Name schon erahnen lässt, durch einen dünnen Aramidschlauch geschützt. Dieser wird zwischen Mantel und Kern eingeflochten. Die Crux dabei ist, das Aramid locker genug zu platzieren, so dass beim normalen Stürzen keine Last aufgenommen wird aber bei Beschädigung des äußeren Mantels der „Schutzschirm“ sofort greift. Die Idee brachte Mammut im Mai den ISPO Award 2024 ein.
Praxistest: Mammut Core Protect 9.5
Mammut hat uns das Core Protect 9,5mm zum Testen zur Verfügung gestellt. Hierbei muss allerdings klar erwähnt werden, dass wir weder über die zeitlichen oder technischen noch die personellen Ressourcen verfügen, eine wissenschaftliche Testreihe zu organisieren. Sollten weitere Hersteller mit ähnlichen Innovationen auf den Markt drängen wäre es denkbar, dass sich die DAV Sicherheitsforschung dem Thema annimmt und Vergleiche durchführt.
1. Subjektiver Test zum Handling und Usability
Wir haben das Seil über mehrere Tage in der Kletterhalle verwendet. Drei Seilschaften waren an dem Test beteiligt und sollten ihre subjektive Einschätzung abgeben. Stürze in der Halle wurden von allen Testern als „vergleichsweise hart“ empfunden, wobei man klar sagen muss, dass keine standardisierten Tests oder Stürze durchgeführt wurden und die Einschätzungen rein subjektiv sind. Auf Nachfrage wurde angegeben, dass die privat verwendeten Seile entweder Beal Joker oder Petzl Volta waren, was die subjektive Einschätzung erklären würde:
Durchmesser | Gewicht | Fangstoß | Stat. Dehn. | Dyn. Dehn. | Normst. | |
Petzl Volta | 9,2 mm | 55 g/m | 8,6 kN | 7,5 % | 33% | 6 |
Beal Joker | 9,1 mm | 52 g/m | 8,2 kN | 8,0 % | 34% | 5 |
Mammut Alpine C. P. | 9,5 mm | 59 g/m | 8,9 kN | 8,0 % | 31% | 5 |
Edelrid Eagle Lite P. | 9,5 mm | 59 g/m | 8,7 kN | 4,7 % | 32% | 6 |
Edelrid Swift Protect | 8,9 mm | 53 g/m | 9,9 kN | 5,5% | 29% | 6 |
Weiters muss auch darauf hingewiesen werden, dass die „Härte“ von Stürzen von einer Vielzahl von Faktoren abhängt wie dem Sicherungspartner, Sicherungsgerät, Gewichtsunterschied, Sturzfaktor, usw. und das Kletterseil nur ein Element in dieser Summe von Faktoren darstellt.
Abgesehen von den etwas härter wahrgenommenen Stürzen konnte aber kein Unterschied zu anderen reinen Polyamidseilen wahrgenommen werden.
2. Dauertest in der Topropestation
Zugegeben, ein High Performance Kletterseil in die Topropestation einer Kletterhalle einzuspannen ist in etwa so, wie wenn man einen Riesentorlaufski über mehrere Wochen im Kindergelände testet. Es ging uns aber hauptsächlich darum, das Seil in ständigem Gebrauch zu wissen und nicht so sehr um die Art der Anwendung. Wir wollten herausfinden, ob sich das Seil im Laufe des Gebrauchs stark verändert, ob es zum „Aufquillen“ tendiert, starke Mantelverschiebungen aufgrund des Materialmixes entstehen oder das Seil vielleicht besonders starr im Handling werden würde.
Wir spannten das Seil also über 6 Monate in der Topropestation im Kletterzentrum Innsbruck ein und ließen die Zeit für uns arbeiten. Bei geschätzten 10 durchschnittlichen Ablassvorgängen über 6 Monat ergibt das in Summe 1.800 Kletter- und Ablassvorgänge. Wie zu erwarten, zeigte das Seil am Ende des Experiments starke Gebrauchserscheinungen. In Bereich des ständigen Karabinerdurchlaufs stellten wir die typischen ovalen Formveränderungen im Querschnitt fest. Das Seil fühlte sich verdickt an und der Mantel zeigte erste Abnutzungserscheinungen. Auch die dunklere Färbung ist typisch und geht auf Verschmutzung, den Gebrauch von Magnesium und den Karabinerabrieb zurück. Verglichen mit anderen Kletterseilen der Topropestation, die zeitgleich getauscht wurden, konnten wir aber keine offenkundigen Unterschiede feststellen.
3. Anwendung von Seilklemmen
Da das Alpine Core Protect vor allem für den Einsatz in alpinen Routen gedacht ist, hat uns auch interessiert, wie es um die Anwendung von Seilklemmen steht bzw. wie es sich verhält, wenn der äußere Polyamidmantel durchgescheuert wird- beispielsweise wenn Kletterlängen vorfixiert werden und mit Steigklemmen aufgestiegen wird. Dass der Seilverlauf über eine Kante beim Aufsteigen mit Seilklemmen sehr schnell zu Beschädigungen des Mantels bzw. zum kompletten Seilriss führen kann, ist bekannt. Bei hyperstatischen Leinen mit Dyneema Kern ist dies besonders problematisch, da die Reibung zwischen Polyamidmantel und Dyneemakern sehr gering ist.
In unserem Test haben wir den Polyamidmantel komplett durchtrennt und uns angeschaut, ob der Mantel bei Verwendung von Jumars nachrutscht. Wäre das der Fall, dann würde das Seil bzw. der geschützte Seilkern zwar nicht reißen aber wie bei den Dyneemaleinen wäre ein plötzliches Durchrutschen der Jumars samt Mantel sehr problematisch. Das beim Mammut Core Protect verwendete Aramid hat aber einen gegenteiligen Effekt. Die Reibung zwischen Mantel und Kern wird vermutlich sogar noch höher sein als bei reinen Kern-Mantel Seilen aus Polyamid. Beim Belasten des unteren Seilstrangs bei durchtrenntem äußeren Polyamidmantel konnten wir keine Mantelverschiebung herbeiführen. Durch die Zugkräfte am Kern wurde dieser allerdings am oberen Ende der Schnittkante etwas herausgezogen was für diesen Test aber nicht von Relevanz war.
Wer alles zur neuen Seiltechnologie von Mammut erfahren möchte, kann dies auf Youtube nachsehen:
Zusammenfassung und abschließende Gedanken
Die Hersteller sind der Thematik der Schnittfestigkeit von Seilen weiter auf der Spur. Ein wichtiger Aspekt wäre ein einheitlicher, vergleichbarer Test, dem sich alle Hersteller unterordnen und der auch in der UIIAA bzw. CEN Norm angewendet wird. Erst dann könnten „Äpfel mit Äpfel“ verglichen und gezielt in diese Richtung weiterentwickelt werden. Momentan verwenden Firmen ihre eigenen Versuchsaufbauten um in Richtung Schnittfestigkeit zu forschen und zu argumentieren. Während Edelrid auf die Verstärkung des Mantels setzt, geht Mammut andere Wege und schützt den Kern durch einen dünnen Aramidschlauch. Beide Konstruktionen haben ihre Vor- und Nachteile.
Jedes Seil hat sein Einsatzgebiet und so verhält es sich auch mit den neuen Aramid-verstärkten dynamischen Kletterseilen. Den vergleichsweise marginalen Nachteilen wie Steifigkeit, Gewicht oder Preis steht ein enormes Plus an Sicherheit entgegen. Vor allem in Granitgebieten mit scharfen Kanten und Schuppen spielt die erhöhte Schnittfestigkeit eine wichtige Rolle. Auch auf Expeditionen, beim Bigwallen oder bei der Verwendung im Führungskontext (Kurzes Seil) gibt es deutliche Vorteile, sei es im Handling oder auch bei der Verwendung mit Seilklemmen.