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Andy Steindl rast auf das Matterhorn. Vom Kirchplatz in Zermatt bis zum Gipfel und retour in nur 3:59 Stunden. Foto: Samuel Anthamatten|Andy Steindl und Johanna Swatosch bei einem Fotoshooting in Zermatt. Foto: Dynafit|Paul Preuß seilfrei in Aktion. Minimalismus (heute „fast and light“) war sein Programm. Foto: Archiv DAV|Thomas und Alexander Huber 2007 bei ihrem Speedrekord an der Nose. Der Kinofilm und der Milchschnitte-Werbespot dazu machten sie berühmt. Foto: Heinz Zak|Vitaly Abalakov (1906–1986) war ein russischer Ingenieur und Bergsteiger. Auf ihn geht nicht nur die Abalakov-Eissanduhr zurück
01. Jun 2021 - 19 min Lesezeit

Speed-Bergsteigen: Schnell in die Zukunft

Wo sind die Harten, die sich mit der Gitanes im Mundwinkel tageweise durch finstere Nordwände biwakieren? Wo sind die Standhaften, die nicht aufgeben, selbst wenn sie sich hoffnungslos verstiegen haben? Wo sind die Wilden, die sich nicht kümmern um die Konventionen im Tal? Das Bergsteigen und seine Protagonisten haben sich anscheinend stark verändert. Wer heute ambitionierten Alpinismus betreibt, ist in erster Linie sehr, sehr schnell.

Speed-Bergsteigen ist nicht neu

Dämmerlicht. Blaue Stunde. Winterliches Hochgebirge. Makellos weiße Bergflanken. Im Vordergrund: Ein Skibergsteiger im schnellen Laufschritt. Der Körperbau athletisch, die Gestik dynamisch. Kein Schweiß, kein Schmerz. Der wache Blick zeigt zielstrebig und selbstbewusst in Richtung Gipfel. – Die Szene ist bekannt. Es handelt sich um ein Werbefoto. Beworben werden leichtgewichtige und funktionelle Produkte für konditionsstarke Bergsteiger, die Wert legen auf ein schnelles Tempo, auf Speed.

Andy Steindl und Johanna Swatosch bei einem Fotoshooting in Zermatt. Foto: Dynafit

Speedguide, Speedlight, Speedpro, Speedfit, Speedcraft, Speedtrace heißen dann sinnigerweise die Modellbezeichnungen für ultraleichte Tourenskiern, Kunstfasertrikots, Funktionsleggings, Bergschuhe, Gletscherbrillen, Rucksackwesten und andere Ausrüstungsgegenstände dieser Art. So ziemlich alles rund um das Thema Speed-Bergsteigen verkauft sich derzeit gut, die Nachfrage steigt. Die Reklame scheint also zu wirken.

Paul Preuß, Ikone des sauberen Alpinstils, erlangte seiner Zeit endgültige Berühmtheit, als er im Jahr 1911 in nur zweieinhalb Stunden die Westwand des Totenkirchls im Wilden Kaiser über die Piaz-Führe durchstieg. Die vormalige Bestzeit von sieben Stunden war damit pulverisiert. Wie war das möglich, wo Preuß die Route doch zuvor noch nicht einmal gekannt hatte? Seine Schnelligkeit kam einerseits von der flinken und umsichtigen Art sich im steilen Gelände zu bewegen, andererseits von seinem Verzicht auf Teile der Standardausrüstung. Sicherungsmittel wie Seil und Haken beispielsweise fielen seiner Reduktion zum Opfer. Heute würde man das wohl als Free-Solo-Onsight-Speed-Rekord bezeichnen.

Paul Preuß seilfrei in Aktion. Minimalismus (heute „fast and light“) war sein Programm. Foto: Archiv DAV

Die Totenkirchl-Aktion von Preuß beinhaltet bereits wesentliche Elemente des modernen Speed-Bergsteigens: Da ist zum einen der Ort des Geschehens – das Gebirge, da ist die bedeutende Rolle von Muskelkraft und Geschicklichkeit. Vor allem ist da aber das zentrale Interesse an der Zeit, die für das Zurücklegen der vorher definierten Strecke benötigt wird. Als Maß der Dinge gilt heutzutage die schnellste bekannte Zeit, die Fastest Known Time, kurz FKT. Standard ist mittlerweile eine Verifizierung per GPS. Es gibt eine Männer- und eine Frauenwertung. Außerdem unterscheidet man bei einer FKT zwischen der Aufstiegszeit und der Zeit für Aufstieg plus Abstieg. Eine wichtige Rolle spielt die Frage, inwieweit man Unterstützung in Anspruch genommen hat – supported oder unsupported. Zwangsläufig ergibt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Disziplinen denn nun zum Speed-Bergsteigen gehören. Leider fällt eine einfache und prägnante Antwort schwer. Am besten nähert man sich dem Phänomen Speed-Bergsteigen über die beiden Schienen an, denen es entstammt: Dem Ausdauerbereich auf der einen Seite, dem Alpinkletterbereich auf der anderen Seite.

Speed-Bergsteigen hat viele Facetten

Die Protagonisten des Ausdauerbereichs sind hauptsächlich alpin ambitionierte Läufer, die mehrere Jahre systematisches Ausdauertraining hinter sich haben. Um ihren Radius zu erweitern, haben sie alpinistische Kompetenzen erworben, die sie fortwährend weiterentwickeln. Ihr Interesse liegt aber vorrangig auf der Ausdauerleistung. Zu ihrer Domäne zählen neben besonders langen Bergläufen alle alpinen Aufstiege im technisch mehr oder minder einfachen Gelände, also auch leichte Normalwege auf 3000er und 4000er in den Alpen. Bei ausreichend Schnee findet Speed-Bergsteigen im technisch leichten Terrain auch auf Tourenskiern statt. Spitzenleistungen erzielen Trailrunner auf Ski meistens nur dann, wenn sie seit ihrer Kindheit an die zwei Bretter gewöhnt sind. Innerhalb der Anhängerschaft des Speed-Bergsteigens bilden die Skibergsteiger jedoch vielmehr eine eigene Fraktion. Rekorde werden meist bei Wettkämpfen aufgestellt.

Schwer ist leicht was! Und so sind auch für Speed-Bergsteiger die Grenzen zwischen leichtem und schwerem Gelände fließend. Anspruchsvolle Routen wie der Hintergrat am Ortler oder gar der Hörnligrat am Matterhorn bilden eine eigene Kategorie. Weder lange Passagen im Absturzgelände noch brüchiger Fels sind hier eine Seltenheit. Die schnellsten bekannten Zeiten gehen in dieser Sparte meistens auf das Konto derjenigen, die gemessen an ihrem Training seit jeher in gleicher Weise sowohl Ausdauerathleten als auch Kletterer sind. In den USA wird dieser Typus als Skyrunner bezeichnet. Wie aber sieht es aus bei den alten Extrem-Klassikern? Was ist mit Routen wie dem Peutérey Integral am Mont Blanc, der Heckmair-Führe am Eiger oder dem Walker-Pfeiler an der Grandes Jorasses? Neben Ausdauer und klettertechnischen Anforderungen ist hier vor allem alpinistisches Knowhow gefragt. Betrachtet man den Werdegang von Speed-Bergsteigern, die sich in diesem Terrain bewegen, so wird eines ganz deutlich: Je höher die technischen Anforderungen eines Berges oder einer Route, desto mehr punkten die Kletterer. Genauer gesagt handelt es sich dabei um Kletterer, die erst später auf das Ausdauerthema gestoßen sind und bis dahin damit beschäftigt waren, ihre alpine Erfahrung aufzubauen. In gewisser Weise haben sie sich Reinhold Messner zum Vorbild genommen, der als fertiger Alpinkletterer die Bedeutung eines systematischen Lauftrainings erkannt hatte.

Werden die technischen Schwierigkeiten noch größer und bleibt die benötigte Zeit für die Klettertour der wesentliche Faktor, so spricht man von Speed-Climbing, vom Speed-Klettern. Im deutschsprachigen Raum ist diese Spielform in den vergangenen Jahren vor allem bekannt geworden durch Unternehmungen der Brüder Alexander und Thomas Huber an den Granitriesen des kalifornischen Yosemite-National-Parks.

Thomas und Alexander Huber 2007 bei ihrem Speedrekord an der Nose. Der Kinofilm und der Milchschnitte-Werbespot dazu machten sie berühmt. Foto: Heinz Zak

Aus westlicher Perspektive mag es sich beim Speed-Klettern um eine Randerscheinung handeln. Ganz anders verhält es sich allerdings in Russland: Hier gab es bereits in den 1930er-Jahren regelrechte Wettbewerbe, bei denen die schnellsten Kletterer zu Siegern gekürt wurden. Unter Josef Stalin versuchte man sich damit ganz bewusst von einer bourgeoisen Art des Kletterns abzugrenzen. Ab 1955 wurden die Wettbewerbe unter dem Einfluss der Bergsteigerlegende Vitaly Abalakov zunehmend standardisiert. Schließlich waren sogar Besucher aus dem Ausland zugelassen. Zusammen mit seinem französischen Kollegen Robert Paragot erhielt 1975 auch Otto Wiedemann aus Deutschland eine Einladung. Die zwei gehörten zu den schnellsten und versiertesten Alpenkletterern ihrer Zeit. Im Anschluss an den damaligen Speed-Kletter-Wettkampf in der abchasischen Yupshara-Schlucht bemerkten beide in etwa: Dieser Sport des Wettkampfkletterns ist etwas Fabelhaftes! Er erfordert ein extrem hohes Trainingsniveau!

Wer als Speed-Kletterer bei den Wettbewerben erfolgreich war und technisch schwierige Anstiege an den Bergen der Sowjetunion gemeistert hatte, erhielt den Titel Meister des Sports. Als solcher durfte man dann auf die Teilnahme an einer Auslandsfahrt hoffen.

Vitaly Abalakov (1906–1986) war ein russischer Ingenieur und Bergsteiger. Auf ihn geht nicht nur die Abalakov-Eissanduhr zurück, sondern auch der Vorläufer des Friends.

Nicht nur enorme Anforderungen an die Klettertechnik sorgen für größere Schwierigkeiten. Zu einer Steigerung des Anspruchs tragen auch niedrige Temperaturen und große Höhe bei. Besondere Aufmerksamkeit erregt, wer ohne Verwendung von Flaschensauerstoff eine Fastest Known Time an einem Himalayakoloss für sich verbuchen kann. Eine Sonderstellung nimmt dabei allein schon seiner schieren Größe wegen der Mount Everest ein. Aber auch die höchsten Berge der Kontinente, die sogenannten Seven Summits, sind unter Speed-Bergsteigern begehrt.

Was das Bergsteigen im Himalaya angeht, so hat in den letzten Jahren der Begriff Speed einen weiteren Bedeutungsaspekt hinzugewonnen. Frei nach dem Motto Zeit ist Geld bietet der kommerzielle Anbieter Furtenbach-Adventure aus Tirol den Teilnehmern seiner sogenannten Flash-Expeditionen die Möglichkeit an, innerhalb von 21 Tagen auf den Gipfel des Mount Everest zu gelangen. Die Erfolgsquote übertrifft bisher alle Erwartungen. Ausschlaggebend ist in erster Linie ein ausgeklügeltes System für die Akklimatisation. Die startet dank des Einsatzes von Hypoxie-Zelten bereits im heimischen Schlafzimmer, lange bevor es eigentlich losgeht. Wer eine solche Flash-Expedition ab 95.000 Euro bucht, sich vorab nach Plan akklimatisiert und fleißig trainiert, kommt schon zum Zeitpunkt der Anreise mit Höhen von 7000 Metern zurecht. Es bleibt also spannend, denn die Zukunft birgt einige Fragezeichen: Werden Spitzenathleten von den Erfahrungen profitieren können, die Lukas Furtenbach mit seinen Flash-Expeditionen gemacht hat? Oder kommt es angesichts der verbesserten Gipfelchancen eher zu einer übersteigerten Nachfrage seitens der Betuchten? Droht auf den bekannten Routen der höchsten Berge bald jedes Jahr das völlige Verkehrschaos?

Viel los am Gipfel des Mount Everest. Foto: Furtenbach Adventures

1000 gute Gründe

Aller Anfang – leichter als gedacht
Speed-Bergsteigen sei die Sache weißer schmalbrüstiger Männer, wie manche Spötter behaupten. Orientiert man sich an den medial präsenten Rekordleistungen, um einen ersten Überblick über die einzelnen Disziplinen zu erhalten, scheint das tatsächlich der Fall zu sein. Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass Speed-Bergsteigen keineswegs besonders elitär ist. Zur Erinnerung: Speed-Bergsteigen ist Bergsteigen gegen die Uhr. „Bergsteigen“ aber ist seit jeher ein äußerst dehnbarer Begriff. Eine gewisse Großzügigkeit vorausgesetzt beginnt ja alles schon auf Forstwegen und einfachen Pfaden in den Voralpen. Bei defensiver Routenwahl reichen für den Einstieg etwas Grundlagenausdauer, ein Paar Laufschuhe und ein kleiner Rucksack mit dem Allernötigsten. So gesehen ist Speed-Bergsteigen sogar äußerst zugänglich. Ob man aus Brasilien, Äthiopien, Armenien oder Ost-Timor stammt, ist nicht entscheidend. Und wer am Berg noch nie von einer Frau überholt worden ist, kann sich ja einmal auf https://fastestknowntime.com die weiblichen Bestzeiten an den großen und kleinen Bergen dieser Welt oder an seinem Hausberg anschauen. – Na servus!

Fernanda Maciel 2020 bei ihrem Rekordlauf auf den Gran Paradiso in 2:40 Stunden. Foto: Mathis Dumas.
Fernanda Maciel 2020 bei ihrem Rekordlauf auf den Gran Paradiso in 2:40 Stunden. Foto: Mathis Dumas.

Fantasie ohne Grenzen
Jedem Menschen steht es frei, Bergtouren unter dem Hauptgesichtspunkt der zeitlichen Effizienz zu planen und durchzuführen. Man wird damit nicht automatisch zum Lakaien des Sekundenzeigers. Häufig entstehen kreative Unternehmungen: Im Frühjahr 1945, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, dachten die beiden 18-jährigen Raublinger Bertl Rahm und Adolf Wilhelm über Möglichkeiten nach, den vom Gemeindegebiet ihres Heimatortes aus sichtbaren, 3666 Meter hohen Großvenediger zu besteigen. Als der Grenzübertritt nach Tirol und ins Salzburger Land wieder gestattet war, starteten sie. Die knapp 120 km lange Anreise über Kitzbühel und Mittersill zum Hopffeldboden legten sie mit dem Fahrrad zurück. Es folgte die Besteigung mit Skiern über das Obersulzbachkees. Nach der Abfahrt entlang der Aufstiegsroute radelten sie wieder nach Hause zurück. Die exakte Zeit für diese Aktion ist nicht mehr zu recherchieren. Jedoch steht fest, dass deutlich weniger als 24 Stunden benötigt worden waren. Die nachfolgenden Kandidaten in den Jahren darauf versuchten daher auch niemanden zu übertreffen, sondern lediglich ebenfalls unter 24 Stunden zu bleiben.

Im Zeitalter von Carbonrennrädern und Neoprenanzügen kommen auch andere Projekte in Frage: Wie wäre es, von München aus an den Königssee zu radeln, nach Sankt Bartholomä zu schwimmen und im Anschluss die Watzmann-Ostwand zu durchsteigen? Zu den kreativen Zielen gehören auch die sogenannten Enchaintments, bei denen mehrere Routen hintereinander begangen werden: Walkerpfeiler rüber – Peuterey-Grat zurück! Oder: Morteratsch – Biancograt – Palü-Überschreitung – Morteratsch! Egal ob Amateur oder Profi, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist am Ende nur, dass die Ziele – gemessen an den eigenen Kapazitäten – realistisch bleiben. Der Genuss von Panoramen oder das Studium der alpinen Flora am Wegesrand kommt bei derartigen Vorhaben eindeutig zu kurz. Viele Menschen begreifen sich unter Anstrengung aber besser als Teil einer großartigen Natur. Sie kommen raus aus der Rolle eines stillen Beobachters und erleben mit erhöhter Aktivität Steilheit, Witterung, Temperatur und Gelände intensiver – ganz im Sinne von Willy Michls Lied „Ich möcht‘ so gern ein Wildpferdl sein!“

Auf die Plätze …
Man kann sich auch für weniger Ausgefallenes begeistern, wie zum Beispiel für die Watzmann-Überschreitung. Sind die äußeren Bedingungen ähnlich, lassen sich die Begehungen der verschiedenen Athleten bei einer solchen Route gut miteinander vergleichen. Eine Dokumentation anhand von GPS-Aufzeichnungen hilft zusätzlich. Im Vergleich liegt ein elementarer Wesenszug des Speed-Bergsteigens. Vergleicht man nun den Lauf von Hannes Namberger über alle drei Watzmanngipfel hinweg mit dem kurz danach aufgestellten Rekord von Toni Palzer, so wird zum Beispiel deutlich, wie viel Zeit man mit einem schnellen Abstieg einsparen kann. Darüber hinaus helfen Vergleiche auch bei der Darstellung besonderer Unternehmungen. Denn wie soll man Nicht-Bergsteigern die Schwierigkeiten des Hintergrats erklären? Zeit jedoch ist eine für alle Menschen zugängliche Größe. Wer von der Rekordzeit erfährt und zusätzlich die Durchschnittszeit normaler Alpinisten genannt bekommt, erahnt ansatzweise die Fähigkeiten von Philipp Brugger. Spitzenzeiten bedürfen keiner komplizierten Erklärungen. Sie passen perfekt ins Instagram-Format. Die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums ist beinahe garantiert. Vor allem Profis sind abhängig von dieser Aufmerksamkeit. Denn nur so gewinnen sie gegenwärtig Sponsoren, mit deren Unterstützung sie ihre Ausgaben finanzieren können.

Philipp Brugger bei seinem Rekord von Sulden über den Hintergrat auf den Ortler (1:48 Stunden).
Philipp Brugger bei seinem Rekord von Sulden über den Hintergrat auf den Ortler (1:48 Stunden).

Safety first

Doch was ist der Vergleich zwischen den Athleten wert, wie viel bedeutet mediales Aufsehen, wenn es um die persönliche Unversehrtheit geht? Bei zu viel schnellschnell ist das Hudeln nicht weit. Dann ist das Risiko nicht mehr zu kalkulieren. Solange man aber die eigenen Fähigkeiten nicht außer Acht lässt, gilt am Berg immer noch: Schnelligkeit ist Sicherheit. Schnell weg, wo Steinschlag droht! Schnell den noch hart gefrorenen Hang hinunter, bevor starke Sonneneinstrahlung für Lawinengefahr und kollabierende Gletscherbrücken sorgt! Schnell durch die Todeszone, um nicht den Gefahren der Höhenkrankheit zu erliegen! Gerade wegen ihrer Schnelligkeit befinden sich Speed-Bergsteiger oftmals auf der sicheren Seite. Ein besseres Argument für hohe Geschwindigkeit ist schwer zu finden.

Von nichts kommt nichts

Die Voraussetzung für mehr Speed beim Bergsteigen bildet ein systematisches Ausdauertraining. Hier eine grobe und unwissenschaftliche Skizze aktueller Trainingsprinzipien: 80 % bis 85 % der Trainingszeit finden im sogenannten Grundlagenbereich statt. Die beanspruchten Muskeln beim Laufen oder Skitourengehen sollen möglichst alle Energie mit Hilfe von Sauerstoff produzieren. So fällt praktisch kein Laktat an, das extra in einer Ruhephase abgebaut werden müsste. In der Konsequenz kann dafür mehr und mit großen Umfängen trainiert werden. An diesen großen Umfängen führt kein Weg vorbei, Abkürzungen gibt es nicht. Um Leistungskurven zu erstellen, werden Herzfrequenz, Distanz, Geschwindigkeit und das subjektive Empfinden beim Training dokumentiert. Dabei kommen Pulsmesser, GPS-Uhren, foot pods (digitale Schrittzähler) und eine schriftlich auszufüllende Skala zum Einsatz. Ausgewertet werden die Messungen mit einer speziellen Software. Ergänzend wird zudem vor allem die Rumpfmuskulatur trainiert, z.B. mittels kräftigender Yoga-Übungen. Es geht in erster Linie darum, Fehlhaltungen und Verschleißerscheinungen vorzubeugen, damit das stetige Grundlagentraining nicht gefährdet ist. Nur vor wenigen ausgewählten Leistungsphasen steigert man über einen kurzen Zeitraum die Intensität durch Intervall-Einheiten, Hill-Sprints und Squat-Jump-Training (Hocksprünge auf und von speziellen Boxen). Zusätzlich versucht man, je nach Bedarf die konditionellen und motorischen Fähigkeiten, die für das Klettern notwendig sind, zu erhalten oder auszubauen.

Bei Anbietern wie uphillathlete.com können personalisierte Trainingspläne für anstehende Projekte oder für das ganze Jahr gebucht werden. Auf Wunsch bekommt man in Videokonferenzen oder einfach via Email Beratung von einem Trainer oder einer Trainerin.

Als ein bedeutender Indikator gilt die Summe der Trainingsstunden pro Jahr. Kilian Jornet kommt auf bis zu 1300 Stunden. Man weiß mittlerweile von einst motivierten Nachahmern seines Programms. Sie hielten ein bis zwei Jahre durch, bevor die körperlichen Schäden zu massiv wurden. Eine fachkundige Einführung in die Grundlagen des modernen Ausdauertrainings ist für Ambitionierte also unerlässlich, schon allein der eigenen Gesundheit wegen. Training For New Alpinism von House und Johnston sowie Uphill Athlete Training für Skibergsteiger und Bergläufer von Jornet, House und Johnston gelten als Standardwerke. Leistungsstarke Höhenbergsteiger kommen in guten Jahren auf über 750 Trainingsstunden. Im Unterschied zu Jornet haben sie das systematische Ausdauertraining nicht als Erstklässler, sondern meist mit Anfang 20 begonnen. Doch Anzahl der Trainingsstunden hin oder her, das vorrangige Ziel lautet immer: Die Trainingsfähigkeit langfristig erhalten!

Unabhängig von den leistungssteigernden Effekten hilft Training oft, den Alltag zu strukturieren. Sorgten früher Kirchgang und Gebet für eine Rhythmisierung des Tages, der Woche oder des Jahres, treten heute als Konsequenz einer weit verbreiteten physikalistischen Weltanschauung vielfach Trainingsübungen und -pläne in den Vordergrund.

Kilian Jornet Foto: Ray Demski, Red Bull
Kilian Jornet Foto: Ray Demski, Red Bull

Schattenseiten und Stolpersteine 

Mehr Speed dank Speed
Leider bleibt der erhoffte Erfolg des Trainings manchmal aus. Hier ein fast schon klassisches Exempel: Viele Athleten geraten bei den umfangreichen Grundlage-Einheiten trotz ihrer Smartwatches zu häufig in den anaeroben Bereich. Die Energiebereitstellung erfolgt dann auch ohne Sauerstoff und produziert zu viel Laktat. Hört man hier nicht auf den eigenen Körper, gönnt man ihm nicht die nötigen Ruhephasen, so droht eine Art Übertraining. Ein Teufelskreislauf beginnt. Abgeschlagenheit und Schmerzen sind die Folge. Auch Konzentrationsfähigkeit und Zielstrebigkeit nehmen ab. Alles, was vormals selbstverständlich schien, steht in Frage. Es geht nicht allein um Leistungsfähigkeit, sondern auch um das eigene Wohlbefinden, den gewohnten Erfolg, die damit verbundene Anerkennung, schlicht um das ganze Selbstverständnis der eigenen Person. Dann muss ein rascher Ausweg aus der Krise her: Speed! Und zwar in diesem Fall das Amphetamin. Von solchen und ähnlichen Substanzen verspricht man sich, zu alter Stärke zurückkehren und vom vormaligen Niveau aus weitertrainieren zu können. Der ersehnte Ausweg ist jedoch eine Sackgasse. Abgesehen davon, dass es sich bei Doping schlichtweg um Betrug handelt, steht die eigene Gesundheit auf dem Spiel. Die pharmakologische und medizinische Expertise im Umgang mit den vielversprechenden Wundermitteln fehlt nämlich meistens. Anders als große Fußballvereine oder Radsportmannschaften verfügen auch die berühmtesten unter den Speed-Bergsteigern nicht über ein eigenes Team zur gezielten medizinischen Unterstützung. Im schlimmsten Fall kommt es bei der unsachgemäßen Einnahme von Dopingpräparaten zu einem völligen Ausbrennen des Körpers, zu Gehirnschäden und Herzversagen. Wohl auch so mancher Speed-Bergsteiger lässt sich davon trotzdem nicht abschrecken.

Doping ist nicht ausschließlich ein Phänomen der Gegenwart. Der kompromisslose Einsatz von Amphetamin bzw. Methamphetamin zur Leistungssteigerung scheint in Deutschland und Österreich keine Seltenheit gewesen zu sein. Die Frontsoldaten und Kampfpiloten der Wehrmacht verfügten über Methamphetamin-Rationen. Im Volksmund sprach man von Stuka-Tabletten, Panzer-Schokolade oder Göring-Pillen. Gedacht waren sie für den „Notfall“, also für den Kampfeinsatz. Einen „Notfall“ erkannte am 3. Juli 1953 auch Hermann Buhl. Nachdem er Methamphetamin in Form von Pervitintabletten zu sich genommen hatte, brach er um 2:30 Uhr morgens zum Gipfel des Nanga Parbat auf, den er dann am frühen Abend desselben Tages als erster Mensch erreichte. Sogar die deutsche Nationalmannschaft steht unter dem Verdacht, vor dem Finalspiel der Fußballweltmeisterschaft von 1954 Pervitin in Form einer Injektion erhalten zu haben.
Tatsächlich geht es beim Doping im Ausdauerbereich aber gar nicht so sehr um Amphetamine und Methamphetamine, sondern um Epo (Erythropoetin) und Asthmasprays. In jedem Fall lässt sich aber festhalten: Speed-Bergsteigen ist potentiell anfällig für den Dopingmissbrauch. Und das wird auch so bleiben. Denn abgesehen von Skitourenwettkämpfen und Trailrunning-Veranstaltungen gibt es am Berg keine Dopingkontrollen – weder für Profis noch für Amateure.

Sparen bis der Arzt kommt
Die allermeisten Speed-Bergsteiger lehnen Doping strikt ab. Aufgeschlossener sind sie gegenüber einer radikalen Reduzierung bei der Ausrüstung. Jedes scheinbar unnütze Gramm soll eingespart werden. Verzichtet wird auf das Erste-Hilfe-Set, auf den Notbiwaksack oder auf die Überhose. Geht es auf zerklüftete Gletscher, lässt sich die Mitnahme eines Seils meist nicht mehr vermeiden. Dann kommen kurze Varianten der sechs bis sieben Millimeter dünnen, halbstatischen Exemplare zum Einsatz. Die dazu passenden Klemmgeräte wie Micro Traxion oder Spoc sind eigentlich schon wieder zu schwer. In Notfällen bleibt dann nur wenig Spielraum. Schnell ist man gänzlich auf die Hilfe von außen angewiesen. Was darüber hinaus leicht vergessen wird: Speed-Bergsteiger mit einer extrem reduzierten Ausrüstung können nur schwer helfen, wenn andere in Not geraten.

Ein Beispiel für diese Problematik liefert Kilian Jornet, obwohl es ihm nicht an alpinem Knowhow fehlt. Zusammen mit Emily Forsberg, mit der er jetzt verheiratet ist, bestieg er zum wiederholten Male den Frendopfeiler in Laufschuhen und leichter Kleidung. Dann schlug das Wetter um. Forsberg war bereits unterkühlt. Jornet konnte nicht helfen. Am Ende musste sich das Paar von den Rettungskräften herausholen lassen. Die beiden versichern, aufgrund dieser Erfahrung nun sensibilisiert zu sein. Ohne Einschränkungen gestehen sie ihren Fehler ein.

Kilian Jornet leicht bekleidet bei seinem Rekord am Liongrat am Matterhorn (2:52 Stunden rauf und runter). Foto: Summits of My Life
Kilian Jornet leicht bekleidet bei seinem Rekord am Liongrat am Matterhorn (2:52 Stunden rauf und runter). Foto: Summits of My Life

Das achte Gebot
Der offene Umgang mit Fehlern und fehlenden Erfolgen ist nicht immer selbstverständlich. Da werden Gipfelbesteigungen von schwierigen Achttausendern behauptet, ohne stattgefunden zu haben. GPS-Geräte gehen vollkommen unerwartet kaputt oder verloren. Menschen, die gar nicht existieren, werden als Zeugen für Rekorde genannt. Und erfundene Podiumsplatzierungen bei der Patrouille de Glacier werden unter „Vita“ auf der eigenen Homepage veröffentlicht. – Doch bei diesen Ungereimtheiten geht es ja nicht darum, anderen zu schaden, sondern sich selbst in ein besseres Licht zu stellen. Welche Krämer-Seele will da allen Ernstes den Richterstab brechen über einen Menschen, der nicht wahrheitsgetreu berichtet, über einen Menschen, der sich verrannt hat, über einen Menschen, den die innere Not treibt? Interessant wäre es zu erfahren, was sich Superspürnasen und Chefaufklärer erwarten. Mehr als ein „Gut kombiniert, Watson!“ kann für sie letztlich doch nicht dabei rauskommen. Ganz egal aber wie es um die Ehrlichkeit einzelner Protagonisten bestellt ist – der Faszination des schnellen Bergsteigens tut das alles keinen Abbruch.

Schnell am Ende
Problematisch sind eher die Geschichten, die das Speed-Bergsteigen produziert. Sie folgen beinahe immer dem gleichen, auf Dauer langweiligen Muster: Der Athlet hat ein großes Ziel. Er ist fit oder gar nicht mal so fit. Er schafft die weltbeste Zeit. Damit ist der alte Rekord vernichtet. Wahnsinn.

Dieses Narrativ entstammt eigentlich der Trivialliteratur. Es wiederholt sich immer und immer wieder. Jornets Frendo-Episode bildet da eine spannende Ausnahme. Wieso nicht mal was über das eigene Versagen erzählen? Wie ist es eigentlich, wenn die gerade eben aufgestellte Bestzeit wenig später kassiert wird? Wie ist es, wenn man bei der Skipatrouille zu langsam ist und damit das ganze Team ausbremst? Wie ist es, bei perfekten Verhältnissen vor lauter Angst umdrehen zu müssen? Wie ist es, einem anderen nicht zu helfen, weil Kraft, Ausrüstung und Knowhow fehlen? Das Interesse an Berichten über solche Situationen hat nur wenig mit Voyeurismus zu tun. Vielmehr geht es darum, nicht nur eine Kultur des Siegens zu befördern, sondern auch eine Kultur des Scheiterns zu etablieren, wie sie zum Beispiel bei britischen Kletterern gepflegt wird. Sie hören und erzählen am liebsten von Epics, von Aktionen, wo alles schiefläuft. Denn nicht so sehr die Siege, sondern vielmehr die Niederlagen halten wichtige Erfahrungen bereit. Diese Erfahrungen mit anderen zu teilen bedeutet Gemeinschaft, sie für sich zu behalten Einsamkeit. Fehlt aber die Gemeinschaft, fehlt am Ende der Nachwuchs. Wer soll dann noch den Flow des Speed-Bergsteigens erleben?

Einige der schnellsten Zeiten (Damen):

Einige der schnellsten Zeiten (Damen):Einige der schnellsten Zeiten (Herren):

Einige der schnellsten Zeiten (Herren)

Titelbild: Samuel Anthamatten

Erschienen in der
Ausgabe #114 (Frühling 21)