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Beinahe schiefgegangen: Das Unfallpotenzial beim Bergwandern

Die DAV-Sicherheitsforschung führte im Frühjahr 2021 eine Online-Befragung von Bergwander*innen zum Themenkomplex „Unfälle und Notlagen“ durch. Ziel war es, umfassende Erkenntnisse über diejenigen Bedrängnisse und Notlagen beim Bergwandern zu gewinnen, bei denen nicht notwendigerweise die Bergrettung gerufen wurde, sondern die Situation vielleicht kritisch war, aber es letztlich nochmal gut gegangen ist. Zudem wurde der Frage nachgegangen, ob aus den Daten typische Vorstellungen („Stereotypen“) über Bergwander*innen wie „Ehrgeizige Ältere bringen sich beim Bergwandern gesundheitlich in Schwierigkeiten“ oder „Junge Socialmedianutzer*innen gefährden sich mangels alpiner Erfahrung“ abgeleitet werden können.

Von Michaela Brugger, Julia Janotte, Ragna Krückels, Martin Schwiersch, Bernhard Streicher und Stefan Winter (Forschungsgruppe Bergwandern der DAV-Sicherheitsforschung)

Bergwandern: Definition, Risiko und Präventionsbedarf

Bergwandern wird in der DAV-Bergunfallstatistik als das Begehen von markierten Wegen und Steigen (auch mit kurzen, leichten drahtseilgesicherten Passagen) bis zum Schwierigkeitsgrad T5 sowie Klettersteigpassagen im Schwierigkeitsgrad A (DAV Bergunfallstatistik 2018/2019, S. 12) definiert. Damit beinhaltet es die gesamte Bandbreite des (sommerlichen) Bergsteigens außerhalb des Kletterns, des Klettersteiggehens und der Hochtouren.

Bergwandern Notsituationen Unfallpotenzial Prävention
Abb. 1: Risikobewertung Bergwandern.
Quelle: DAV-Bergunfallstatistik 2018/19, S. 27

Auch wenn Bergwandernde durchaus anspruchsvolles Berggelände begehen, schneidet das Bergwandern bei einer Risikobewertung gut ab: Bezieht man die Unfallmeldungen, die in die DAV- Bergunfallstatistik eingehen, auf eine Hochrechnung der Tourentage pro DAV-Mitglied (gemäß einer Mitgliederbefragung 2017), so werden pro 100 Tourentage ca. 0,0025 Betroffene der Versicherung gemeldet. In diese Zahl gehen sowohl Unfälle als auch Notlagen ohne Verletzungen, bei denen aber eine Bergrettung erfolgte, ein (Abb. 1).

Trotz geringem Risiko stellen bergwanderbezogene Unfälle knapp ein Drittel aller Meldungen

Auch ein geringes Risiko kann zu hohen absoluten Häufigkeiten von Unfällen und Notlagen führen, wenn es genügend Bergwandernde gibt, was der Fall ist. Bergwanderbezogene Unfälle und Notlagen stellen knapp ein Drittel und damit den größten Anteil aller Meldungen (DAV-Bergunfallstatistik, S. 26) dar.

Gemeldete Unfälle und Notlagen bilden nur die sichtbare Spitze des Eisbergs.

DAV-Sicherheitsforschung

Gemeldete Unfälle und Notlagen bilden allerdings nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Medienwirksam sind solche Fälle, wo Menschen im Gebirge die Bergrettung anfordern, um sich aus einer Notlage befreien zu lassen, die sie mit ihren Mitteln selbst zu einem guten Ende hätten bringen können. Nicht bekannt werden dagegen die Bedrängnisse und Notlagen, in denen sich Bergwandernde selbst oder wechselseitig geholfen haben oder die schlicht gerade noch mal gut gegangen sind. Dieser verborgene Teil des Eisbergs stellt das eigentliche Unfallpotenzial dar.

Dem Unfallgeschehen voraus sein

Die DAV-Sicherheitsforschung möchte mit ihrem Projekt „Schief – gegangen“ diese Lücke schließen. Die Idee ist: Wenn das Unfallpotenzial beim Bergwandern nach Art und Häufigkeit besser verstanden wird, dann verfügt man über bessere „Marker“, um Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Unfallmeldungen oder Unfallanalysen – so notwendig diese sind – allein reichen nicht aus, denn das Ziel ist es, dem Unfallgeschehen voraus zu sein – also nicht erst darauf zu warten, bis sich Unfälle und Notlagen ereignen.

Bergwandern Notsituationen Unfallpotenzial Prävention
Tabelle 1: Erfragte Bedrängnissituationen

Das Projekt „Schiefgegangen“: Fragestellungen und Methodik

Drei Fragestellungen lagen der Studie zugrunde:

  • Wie häufig begeben sich oder geraten Menschen, die im Gebirge bergwandern, in Bedrängnissituationen? Mit „Bedrängnis“ sind Situationen gemeint, die unfallträchtig sind: Notlagen, in die Bergwandernde geraten, auch wenn diese glimpflich ausgehen. Situationen, die zu körperlichen oder psychischen gesundheitlichen Auswirkungen führen können und schließlich Situationen, in denen Bergwandernde aufgrund gesundheitlicher Faktoren in Schwierigkeiten geraten.
  • Wie erleben Bergwandernde diese Bedrängnissituationen? Eine Bedrängnissituation kann „objektiv“ gefasst werden: Eine Person, die im Gebirge schutzlos einem Gewitter ausgesetzt ist, ist faktisch in Bedrängnis. Damit sie aus einer solchen Bedrängnis auch einen richtigen Schluss zieht (z. B. früher aufzubrechen), sollte die Bedrängnis auch als solches erlebt worden sein und nicht nur als ein Naturspektakel. Drei Aspekte wurden identifiziert, die dazu führen, dass eine Bedrängnis auch zur Bedrängniserfahrung wird: die erlebte Gefährlichkeit der Situation, der Grad der Überraschung für die Betroffenen (z. B. vor einer weggerissenen Brücke zu stehen) und die Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit.
  • Beeinflussen Personen- oder Gruppeneigenschaften, ob bzw. in welche Bedrängnissituationen Bergwandernde geraten und wie häufig? So könnte man vermuten, dass junge und nicht formal ausgebildete Bergwandernde, die ihre Touren vor allem nach Hotspots sozialer Medien auswählen, sich möglicherweise vor Ort weniger gut orientieren können als erfahrene Bergwanderer. Oder man könnte annehmen, dass ältere Bergwanderer mit alpinem Ehrgeiz eher Gefahr laufen, sich gesundheitlich zu überfordern und in Bedrängnis zu geraten.

Lässt sich die Auftretungshäufigkeit abschätzen?

Methodisch zielte die Studie darauf ab, die Prävalenz (Auftretenshäufigkeit) von Bedrängnissituationen beim Bergwandern abzuschätzen. Für die Befragung wurde ein Zeitfenster der letzten 10 Jahre gewählt. Zur Erstellung der Umfrage sammelte und formulierte das Projektteam möglichst vollständig unfall- bzw. notfallträchtige Vorkommnisse beim Bergwandern und orientierte sich dabei an alpinkundlichen Fachpublikationen und Lehrplänen, integrierte Erfahrungen von Fachpersonen (Berg- und Bergwanderführer*innen, Alpinausbilder*innen, Bergrettungsärzt*innen) und sichtete Fragebogenentwicklungen der Bergwanderstudie 2020 der bfu, Schweiz (Flavia et al., 2020).

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Es ergaben sich 59 Bedrängnissituationen (Tabelle 1). Jede Bedrängnis wurde konkret beschrieben und mit einer standardisierten Frage eingeleitet. Die Aspekte Überraschung, Gefahr und Handlungsfähigkeit wurden vor Beginn der Befragung mit Beispielen beschrieben (Abb. 2) und für den Fall, dass eine Bedrängnissituation mindestens einmal aufgetreten war, erfragt (Abb. 3). Neben den Bedrängnissen wurden soziodemographische und gruppenspezifische Merkmale erhoben. Die Studie wurde als Onlineerhebung von Mai bis Juni 2021 durchgeführt und über diverse Online-Portale beworben (sämtliche deutschsprachige Alpenvereins-Medien, Online-Magazine und eine Online-Kampagne im Webportal des Münchner Merkurs). Den gesamten Fragebogen füllten N = 1235 Personen vollständig aus.

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Abb. 2: Beschreibung der Aspekte Überraschung, Gefahr und Handlungsfähigkeit

Personenmerkmale der Bergwander*innen:
erfahren und seit 20 Jahren in den Bergen unterwegs

Die Studienteilnehmer*innen können überwiegend als erfahrene Bergwander*innen angesehen werden, die auch längere Wanderungen durchführten (Näheres Tabelle 2). Fast 70 % der Teilnehmer*innen waren zwischen 30 und 60 Jahren alt. Das Durchschnittsalter war mit 44 Jahren etwas niedriger als in der bfu-Studie (Flavia et al., 2020) und deckte sich mit den Zahlen der Wandertourismusstudie Tirol (Ortner et al., 2020). 57 % der Befragten gaben einen Universitätsabschluss als höchsten Bildungsgrad an. 69 % waren Mitglied des Deutschen Alpenvereins, 13 % Mitglied im OEAV, AVS oder SAC.

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Tabelle 2: Relative Häufigkeiten zu Merkmalen der Studienteilnehmer*innen
Anmerkung: Es wurden alle Personen berücksichtigt, die die jeweilige Frage beantworteten, daher unterscheiden sich die Stichprobengrößen. Die Summe der Prozentwerte bei Tage Bergwandern/Jahr ergibt 101%, dies ist der kaufmännischen Rundung der Einzelwerte geschuldet.

Ergebnisse: die häufigsten Bedrängnisse

Sich an einer Wegpassage unwohl fühlen und Rutschen bzw. Stolpern waren die beiden häufigsten Bedrängnisse

Im Durchschnitt erlebten die Befragten 13 (SD = 8.88) der 59 Bedrängnisse am Berg einmal bis öfter. Das Bedrängnis mit der häufigsten absoluten Nennung war, sich an einer Wegpassage unwohl oder unsicher zu fühlen; eng gefolgt davon, schon einmal ausgerutscht oder an einer Stelle gestolpert zu sein. Die überwiegende Mehrheit (77 % bzw. 82 %; siehe Abb. 4) der Befragten gab an, diese Bedrängnisse erlebt zu haben. Und dies nicht nur einmal: 35 % der Befragten gaben an, sich zwei- bis dreimal unwohl gefühlt zu haben, weitere 22 % bejahten ein noch öfteres Auftreten. Bzgl. Rutschen und Stolpern zeigte sich ein ähnliches Bild bei der Häufigkeit des Auftretens (2- bis 3-mal: 30 %, öfter: 33 %).

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Abb. 4: Rangreihe der häufigsten Bedrängnisse
Anmerkung: Die Rangreihe wurde nach der Anzahl der absoluten Nennungen (mindestens einmal bis öfter) gebildet. Die Prozentzahl bezieht sich auf die Anzahl der Beantwortungen des Items. Beispiel für „Weg unwohl fühlen“: N = 1676 beantworteten die Frage; N = 1292 gaben an, dieses Bedrängnis mindestens einmal erlebt zu haben. Das ergibt 77%.

Bedrängnisse aus dem Bereich der Tourenplanung (siehe Tabelle 1) waren unter den 10 häufigsten Bedrängnissen mehrfach vertreten: schlechtere Wegverhältnisse, Tourenabbruch, erhöhter Zeitbedarf oder eine Tour, die schwieriger war, als erwartet. Auch Orientierungsschwierigkeiten wurden häufig berichtet. Ebenso berichteten mehr als die Hälfte der Befragten (57 %), dass sie in den letzten 10 Jahren ein Gewitter in der Nähe erlebt haben. Auch hier zeigte sich, dass diese Bedrängnis von vielen Bergwander*innen nicht nur einmal erlebt wurde.

Stolpern, Umknicken oder Ausrutschen für knapp die Hälfte der Unfälle verantwortlich

Das Ausmaß, in dem Bedrängnisse aus dem Bereich Trittsicherheit und souveränes Gehen auftraten, überrascht. Gleichwohl spiegelt sich dies auch klar in den Unfallursachen gemäß der Unfallmeldungen, die in die DAV-Bergunfallstatistik eingehen: Stolpern, Umknicken oder Ausrutschen sind für 46 % der Unfälle verantwortlich. Müssen wir daher annehmen, dass Unwohlgefühl bzw. Stolpern oder Ausrutschen „normal“ sind im Gebirge (zumindest einmal in 10 Jahren) oder eine zu verbessernde Fähigkeit? Immerhin muss ein Ausrutschen oder ein Stolpern im Absturzgelände abgefangen werden, um nicht zum Unfall zu führen.

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Abb. 5: Rangreihe der Bedrängnisse nach der erlebten Gefahr (absolute Häufigkeit: Blau – relative Häufigkeit: Orange)
Lesebeispiel: 267 Personen erlebten die Situation, sich direkt in einem Gewitter zu befinden, als ziemlich oder sehr gefährlich (absolute Häufigkeiten), das sind 51% derjenigen, die diese Bedrängnis in den letzten 10 Jahren mindestens einmal erlebten (relative Häufigkeiten).

Diese Ergebnisse bestätigen, dass souveränes Gehen und Trittsicherheit das A und O beim Bergwandern sind und daher persönliches Entwicklungsziel der Bergwandernden sein sollte. Ebenso sollte eine gute Tourenplanung und die Aneignung von Orientierungskompetenzen die möglichen Gefährdungen beim Bergwandern reduzieren. Angesichts der Tatsache, dass Gewitter von den Wetterberichten zuverlässig vorhergesagt werden bzw. die Voranzeichen in der Regel gut erkennbar sind, gibt es zu denken, wie häufig diese Gefahr erlebt wurde. Der Abruf aktueller, regionaler Wettervorhersagen und eine Wetterbeobachtung auf Tour können diese Gefahr ebenfalls deutlich reduzieren.

Um die Relevanz einer Bedrängnissituation zu bewerten, reicht deren Häufigkeit allein nicht aus. Es kann nämlich sein, dass sich eine Person an einer Wegpassage unwohl fühlt, sich aber dennoch als handlungsfähig erlebt. Dies müsste dann als tolerable Grenzerfahrung gewertet werden. Daher werden nun die Aspekte Gefahr, Überraschung und Handlungsfähigkeit betrachtet.

Erlebte Gefährlichkeit der Bedrängnisse

Direkt in ein Gewitter zu geraten, wurde lediglich von der Hälfte der Bergwander*innen als sehr gefährlich eingeschätzt.

Im Folgenden die drei am gefährlichsten erlebten Bedrängnisse (Abb 5):

  • 519 Personen gaben an, mindestens einmal direkt in ein Gewitter geraten zu sein; gut die Hälfte (51 %) erlebte dies als ziemlich oder sehr gefährlich. Nach Expertenmeinung muss die direkte Exposition in einem Gewitter als hoch gefährlich eingestuft werden; dies wurde aber nur von gut der Hälfte der Befragten so gesehen. Dies verstärkt den Eindruck, der sich bereits bei der Häufigkeit der Bedrängnisse ergeben hat: Gewittererfahrungen treten nicht nur durchaus häufig auf, sie werden zum Teil in ihrer Gefahr unterschätzt. Allerdings zeigte sich auch, dass die Befragten offensichtlich dafür sorgten, dass diese Erfahrung sich nicht zu oft wiederholt: Lediglich 17 Per- sonen gaben an, mehr als zwei- bis dreimal direkt in ein Gewitter geraten zu sein.
  • 444 (33 %) Personen gerieten mindestens einmal in einen Stein- schlag. 50 % der Befragten erlebten dies als ziemlich oder sehr gefährlich. Möglicherweise wird Bergwandern nicht mit „Steinschlaggefahr“ in Verbindung gebracht. Bergwege führen aber durchaus durch oder unter steinschlaggefährdetem Gelände, z. B. unter Felswänden, durch.
  • Panikzustände wurden von knapp 14% der Befragten mindestens einmal in den letzten 10 Jahren berichtet. Die zugehörige Beschreibung lautete: „Aufkommende Angst, die nicht oder nur schwer kontrolliert werden konnte. Gemeint ist auch, wenn die Panik die Befürchtung auslöste, sich selbst nicht mehr kontrollieren zu können.“ Wiederholte Panikzustände sind selten: Sie wurden von knapp 4 % der Befragten berichtet. Gleichwohl erschienen Panikzustände 45 % der Befragten als gefährlich. Hier kann nicht unterschieden werden, ob die erlebte Gefahr mit dem Panikzustand selbst zu tun hat (z. B. Gefahr, an der Panikattacke zu versterben) oder mit einer indirekten Gefahr durch die Panikattacke (z. B. in ein Gewitter zu geraten, weil die Angst blockiert, oder sich nicht mehr kontrollieren zu können und zu befürchten abzustürzen). Diese Unterscheidung ist oft nicht klar zu treffen und in der Regel wird eine Gefahr wohl in beiden Bereichen erlebt werden.

Grad der Überraschung der Bedrängnisse

Wenn einem Bergwanderer oder einer Bergwanderin ein Tritt ausbrach, überraschte das die Betroffenen: Diese Bedrängnis wurde von 71 % als sehr überraschend empfunden.

Im Folgenden diejenigen Bedrängnisse, die innerhalb der 10 überraschendsten Bedrängnisse häufiger vorkommen (Abb. 6):

  • 33% de rBefragten erlebten das Ausbrechen eines Trittes. In Anbetracht der Tatsache, dass die Festigkeit eines Tritts optisch zumeist gut eingeschätzt und im Zweifelsfall geprüft werden kann, überrascht es, dass dieses Bedrängnis für 71 % der Befragten als überraschend erlebt wurde.
  • Eine akute Steinschlaggefahr kann schwierig einzuschätzen sein, da oberhalb gelegene Wildwechsel oder andere Wandernde als Gefahrenquelle nicht immer auszumachen sind. Diese Bedrängnis ist ebenfalls relativ häufig (bei 33 %) und überraschte zwei Drittel der Befragten deutlich (67 %).
  • An einer Passage zu rutschen oder zu stolpern, war das zweithäufigste Ereignis dieser Erhebung. Knapp zwei Drittel erlebten dies als überraschend. Mit alpiner Erfahrung kann die Beschaffenheit der Wegoberfläche in der Regel auf ihren Halt bzw. ihre Reibung gut eingeschätzt werden, so dass sowohl die Häufigkeit wie auch der Überraschungsgrad nachdenklich stimmen.
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Abb. 6: Bedrängnisse nach dem Grad der Überraschung (absolute Häufigkeit: Blau – relative Häufigkeit: Orange)
Lesebeispiel: 183 Personen erlebten das Versagen ihrer Ausrüstung als ziemlich oder völlig überraschend, das sind 79% derjenigen, die Ausrüstungsversagen überhaupt erlebten.

Erlebte Handlungsfähigkeit bei den Bedrängnissen

Bergwander*innen schätzten sich in den Bedrängnissituationen grundsätzlich als recht handlungsfähig ein.

Im Unterschied zu den Aspekten Überraschung und Gefahr sahen die Befragten sich in den Bedrängnissituationen meist noch als handlungsfähig an (Abb. 7). Die relativ deutlichste Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit wurde seitens der Betroffenen bei Panikzuständen erlebt. Doch auch hier geben nur 33 % an, kaum oder nicht handlungsfähig gewesen zu sein.

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Abb. 7: Rangreihe der Bedrängnisse nach dem Grad der Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit (absolute Häufigkeit: Blau – relative Häufigkeit: Orange)

Zusammenfassung: Die problematischsten Bedrängnisse

Präventionsansätze sollten sich auf die – im Hinblick auf mögliche Unfälle – problematischsten Bedrängnisse konzentrieren. Um diese zu identifizieren, wurde nach folgender Priorisierung vorgegangen: Gefährlichkeit ist der wesentlichste Aspekt, gefolgt von Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit. Bedrängnisse, die häufig auftreten, sollten auch dann präventiv berücksichtigt werden, wenn sie weniger gefährlich sind. Auf die letzte Priorisierungsebene wurde der Grad der Überraschung gesetzt.

Nach diesem Vorgehen wurden aus den 59 Bedrängnissen 18 vor allem problematische Bedrängnisse herausdestilliert, die in Tabelle 3 wiedergegeben sind. Diese bilden nicht mehr eine Rangreihe und sind daher alphabetisch gelistet.

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Tabelle 3: Übersicht der 18 problematischen Bedrängnisse

Folgende Bereiche sollten bei Präventionsmaßnahmen besondere Aufmerksamkeit erhalten:

  • Souveränes Gehen und Trittsicherheit sind das A und O beim Bergwandern und sollten daher persönliches Entwicklungsziel der Bergwandernden sein.
  • Bedrängnisse werden nicht immer als so gefährlich eingeschätzt, wie sie sind, insbesondere Gewittererfahrungen nicht.
  • Auch die Orientierung und die Tourenplanung scheinen Bereiche zu sein, in denen Bergwander*innen trotz umfangreicher Literatur, Karten und digitaler Apps (siehe Abb. 8) Schwierigkeiten haben, diese adäquat im Gelände umzusetzen.
  • Bessere Kommunikation der alpinen Gefahren beim Bergwandern wie z. B. möglicher Steinschlag.

Stereotypen in dem Sinne: „Bestimmte Bergwander* innen geraten typischerweise in bestimmte Bedrängnisse“ konnten keine gefunden werden.

Wir alle tragen Stereotypen in uns. Jeder und jede wird eine Annahme darüber haben, ob gesundheitliche Schwierigkeiten eher den älteren Bergwanderer auf anspruchsvoller Tour oder den 20-jährigen Hotspotsucher heimsuchen, oder auch Annahmen darüber, wer von den beiden sich eher verlaufen wird.

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Abb. 8: Informationsquellen, die Bergwandernde zu Planung nutzen

Um mögliche Personencluster und Unterschiede zwischen Gruppen in Bezug auf Bedrängniserfahrungen aufzudecken, wurden drei unterschiedliche statistische Verfahren gewählt (Unterschieds- und Zusammenhangsanalysen sowie ein exploratives-clusteranalytisches Vorgehen mit jeweils personenbezogenen Merkmalen). Insgesamt konnten keine überzeugenden Cluster gefunden werden. Wenn Personengruppen sich in der Realität klar voneinander abgrenzen würden, hätte sich dies angesichts der Stichprobengröße auch in den Daten zeigen müssen. Wir schließen daraus, dass – auch wenn Stereotypen im Einzelfall immer wieder auch bestätigt werden – wir uns als Fachpersonen darüber bewusst sein müssen, dass Vorstellungen wie „typisches Instagram-Haserl“ oder „alternder Bergsteiger, der nicht nachlassen kann“ Einzelpersonen beschreiben können, jedoch nicht zu Verallgemeinerungen taugen und damit unseren Blick auf „den oder die Bergwandernde/n“ nicht prägen sollten.

Fazit und Entwicklungsperspektive

Die komplexe Situation am Berg und der Faktor Mensch lassen sich nicht mit einfachen Stereotypen beschreiben. Die Studie zeigt, dass Bergwander*innen vor allem in den Bereichen Trittsicherheit – souveränes Gehen, Tourenplanung und Orientierung Bedrängnissituationen erleben, diese jedoch meist nicht als sehr gefährlich einschätzen. Jedoch führen genau diese Bedrängnisse zu Unfällen, wie die Bergunfallstatistik zeigt. Auch werden Gewittererfahrungen oft als nicht so gefährlich eingeschätzt, wie sie eigentlich sind.

Was bedeutet das für die Prävention von Unfällen?

Bei der Planung von Präventionsansätzen muss gelten, dass im Gebirge nicht immer alles glattgeht. Es wird eine Basisrate von Bedrängnissen geben, die auch den umsichtigsten und souveränsten Bergwandernden passieren. Präventionsmaßnahmen sind gleichwohl nie überflüssig, da Umsichtigkeit und Souveränität ja erworben werden müssen.

Dabei muss weiter zugestanden werden, dass Menschen in der nachträglichen Reflexion von Bedrängnissen dazu neigen, den Grad der Gefahr der Situation etwas abzuschwächen. Dies geschieht vermutlich, um ihr allgemeinmenschliches Bedürfnis zu befriedigen, Situationen unter Kontrolle zu haben, und auch, um sich grundsätzlich als jemand sehen zu können, der richtige Entscheidungen treffen kann.

Eine Bedrängnis kann daher vor allem dann uneingeschränkt reflektiert werden, wenn Betroffene feststellen, dass er oder sie damit nicht allein ist. Ideal geschieht das im Gespräch mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben und in einer Atmosphäre der vertrauensvollen Selbstöffnung. Dann kann ein Bedrängnis eine persönliche Entwicklung anstoßen. Glücklich, wer ein solches Umfeld hat.

Diese Verortung des eigenen Erlebens im Erleben von anderen nimmt das DAV-Ressort Sportentwicklung als Ansatzpunkt für die Entwicklung eines strukturierten webbasierten Präventionsportals. Nutzer*innen dieses Portals werden zukünftig Rückmeldungen bekommen, wo im Vergleich zu anderen sie mit ihren Erfahrungen stehen, und sie erhalten zu ihren Bedrängniserfahrungen konkrete Erläuterungen. Damit sollen Bergwander*innen unterstützt werden, aus dem Erlebten die richtigen Konsequenzen zu ziehen und sie erhalten Vorschläge für persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. Ziel des zukünftigen Online-Tools ist es, Bergwander*innen zu helfen, sich gut einschätzen zu können, alpines Wissen und damit Umsicht aufzubauen und sich souverän im Gebirge zu bewegen.

Literatur

Erschienen in der
Ausgabe #119 (Sommer 22)

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