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Nasim Eshqis Iran
von Tom Dauer
25. Okt 2023 - 21 min Lesezeit

Nasim Eshqi: Die Kraft des Wirbelwinds

Die Kletterin Nasim Eshqi ist fast so alt wie die Islamische Republik Iran. Im September 2022 hat sie ihre Heimat verlassen. Seitdem gibt sie den Iranerinnen und Iranern, die gegen ein grausames, durchtriebenes und korruptes Regime kämpfen, eine Stimme. Wir sollten ihr zuhören. Tun wir das nicht, scheitern alle. Wir, die Unterdrückten und die Freiheit.

Am 9. September 2022 balanciert, schiebt, spreizt und klemmt sich Nasim Eshqi den „Digital Crack“ (8a) empor, am großen Gendarme der Arêtes des Cosmique, hoch über Chamonix, in atemraubenden 3800 Metern. Nicht Rotpunkt, aber macht nichts, sie ist zufrieden. Wie immer, wenn sie klettert, ist die Iranerin farbenfroh gekleidet: hellblaue Hose, blauer Pulli, knallgelber Chalkbag, rot der Helm, ein schöner Tupfer im graubraunen Granit. Überhaupt ist ihr Leben bunt und fröhlich, zumindest auf ihrem Instagram-Account.

Bis zum 16. September 2022, dem Tag, an dem die 22-jährige Mahsa Amini im Teheraner Kasra-Krankenhaus an den Verletzungen stirbt, die ihr von der Gascht-e Erschad zugefügt wurden. Die „Sittenpolizei“ hatte die junge Frau festgenommen, weil sie ihren Hidschab nicht korrekt getragen habe. Nachdem ihr Tod bekannt wird, postet Eshqi ein schwarzes Bild, unter das sie schreibt: „Gewidmet allen Frauen in Iran, die bis zuletzt ihre Hoffnung nicht verloren.“

Kletterin Nasim Eshqi „Digital Crack“ (8a) Chamonix
Kletterin Nasim Eshqi versucht sich im „Digital Crack“ (8a) hoch über Chamonix. Foto: Monica Dalmass

Diesen Frauen eine Stimme zu geben, wird Eshqis Mission. Um ihre persönliche, hart errungene Freiheit für die Freiheit aller Iranerinnen und Iraner einzusetzen. Nasim Eshqi, geboren zu Nouruz, der Tagundnachtgleiche, dem persischen Frühlingsbeginn, ist sechs Jahre alt, als die Islamische Republik Iran tausende politische Häftlinge hinrichten lässt. Frauen und Männer, ohne Urteil gehängt, immer sechs an einem Galgen, beginnend am 29. Juli 1988, über fünf Monate hinweg.

Dem so genannten „Komitee des Todes“, das für die Vollstreckung verantwortlich ist, gehört auch Ebrahim Raisi an, damals stellvertretender Generalstaatsanwalt Teherans, seit 2021 Präsident des Iran. Die Männer, die heute die Machtelite Irans stellen und gegen die Eshqi und viele ihrer Landsleute kämpfen, haben eine lange politische Karriere und an ihren Händen klebt Blut.

Sport als Ventil

Natürlich weiß das Mädchen nicht, wie perfide das System ist, in das es hineingeboren wird. Ayatollah Ruhollah Chomeini hat es nach seiner Rückkehr aus dem französischen Exil aufgebaut. Am 1. April 1979 ruft der Geistliche die Islamische Republik aus und schafft mit dem Amt des Rahbar, des „Revolutionsführers“, ein auf ihn zugeschnittenes Machtzentrum.

Fortan wird er die Richtlinien der Politik bestimmen, die Justiz kontrollieren, die reguläre Armee befehligen, ebenso die neu gegründeten Revolutionsgarden, Polizei und Geheimdienste sowie staatliche Medien. Der Revolutionsführer steht damit auf Lebenszeit über allen Organen; auch Parlament und Präsident tanzen nach seiner Pfeife. Die Islamische Republik ist ein einzigartiges Hybrid, eine Mischung aus Theokratie und Republik, die eine religiöse Diktatur mit pseudodemokratischen Elementen geschickt verschleiert.

In Eshqis Familie wird der abrupte Übergang von der Monarchie unter Shah Mohammad Reza Palavi zur Islamischen Republik als unabänderlich hingenommen. Nasims Mutter ist Lehrerin, eine „brave Frau“, die sich weder für Politik noch für Sport oder die Künste interessiert. An den Protesten der Frauen, die im März 1979 gegen die Pläne Ayatollah Chomeinis zur Zwangsverschleierung demonstrieren, nimmt sie nicht teil.

Schon bald wird deutlich, dass die Feindschaft gegen Frauen zu den Grundpfeilern seiner Ideologie gehört: Mit der Kontrolle der Frau kontrolliert das Regime die Gesellschaft. Iranerinnen werden zu Menschen zweiter Klasse. Wenn sie arbeiten, reisen oder sich scheiden lassen wollen, brauchen sie das Einverständnis ihrer Ehemänner, Väter oder Brüder. Ab dem Alter von neun Jahren dürfen sie verheiratet werden. Im öffentlichen Leben wird Geschlechtertrennung eingeführt.

Frauen dürfen nicht vor Publikum singen oder schauspielern. Sie werden aus Justiz und hohen Ämtern entfernt, und sie haben keinen Anspruch auf das Sorgerecht für ihre Kinder. Eshqis Vater ist Universitätsprofessor, ein eher konservativer Mensch. Gläubig ist er nicht, aber sehr belesen und immer darauf bedacht, sich eine eigene Meinung zu den Geschehnissen um ihn herum zu bilden.

Dennoch muss seine Tochter wie alle Mädchen einen Hidschab tragen. Das ist Pflicht in der Islamischen Republik, für Frauen seit 1980, für Mädchen ab neun Jahren seit 1983. „Wenn die Islamische Revolution kein anderes Ergebnis haben sollte als die Verschleierung der Frau“, räsonierte Ayatollah Chomeini, „dann ist das per se genug für die Revolution“. Die symbolische Bedeutung des Kopftuchs kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Von der Brise zum Wirbelwind

„Hyperaktiv“ sei sie als Kind gewesen, sagt Eshqi, „aggressiv und zerstörerisch“. Vielleicht muss sie das sein, um den Druck auszuhalten, der von allen Seiten größer wird. Mit ihrer jüngeren Schwester darf sie spielen, mit ihren beiden Brüdern auch, nicht aber mit anderen Jungen. Sobald sie aus dem Haus geht, fühlt sie sich wie von tausenden Augen beschattet. In der Schule muss sie Regeln folgen, die sie nicht versteht. Wer aus dem Rahmen fällt, dem wird das Leben schwer gemacht.

„Nasim“ ist Farsi und bedeutet „Brise“. Tatsächlich aber ist dieses Kind ein Wirbelwind.

Und immer sieht Eshqi, dass die Jungen ihres Alters ganz anders leben dürfen, wilder, freier. „Ich hasste es, ein Mädchen zu sein.“ Als sie wie alle Schüler den Koran lesen muss, besteht sie darauf, auch die Bibel lesen zu dürfen – mit keinem der heiligen Bücher kann sie etwas anfangen. Eshqi, das wird Eltern und Lehrern bald klar, gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Sie ist neugierig, sie hinterfragt scheinbare Gewissheiten, sie will wissen.

Und in Bewegung sein. „Nasim“ ist Farsi und bedeutet „Brise“. Tatsächlich aber ist dieses Kind ein Wirbelwind. Als sie im Alter von elf Jahren ein Ferienlager besucht, beginnt sie mit dem Kickboxen, Vollkontakt. Ihre Eltern sind dagegen, wollen ihr den Sport verbieten. Eshqi macht heimlich weiter, zehn Mal wird sie iranische Meisterin. Ihre Pokale und Urkunden versteckt sie vor Mutter und Vater. Wichtig sind sie ihr eh nicht.

Nasim Eshqi iranische Meisterin im Kickboxen
Zehn Mal wird Nasim Eshqi iranische Meisterin im Kickboxen, das sie gegen den Willen ihrer Eltern praktiziert. Weil sie sich nicht den Konventionen beugt, muss sie mit 18 ihre Familie verlassen.

Wichtig ist ihr, dass sie mit dem Sport ein Ventil findet für ihre unbestimmte, allumfassende Wut. Ihr Selbstbewusstsein wächst. Ebenso der Glaube daran, einen eigenen Weg gehen zu können. „Der Sport rettete mir das Leben.“ Und er hilft ihr in dem langen Kampf um Anerkennung, den sie mit ihren Eltern ausficht.

Sport zu treiben, laut zu sein, zu feiern, spät heimzukommen, bunte Kleider zu tragen – anders zu sein, ist etwas, wofür sich die Eltern schämen. Sie akzeptieren das Verhalten ihrer Tochter nicht, Eshqi gibt nicht klein bei. Mit 18 muss sie das Haus verlassen.

Weckruf und Warnung

2000 beginnt sie, Sportwissenschaft zu studieren. Das Studentenleben ist wie eine Befreiung. Eshqi blüht auf, erntet die Früchte ihres langen inneren Widerstands. Seit Juni 1999 gehen tausende Studenten und Studentinnen auf die Straße, um gegen verschärfte Pressegesetze und das Verbot der Reformzeitung „Salam“ zu trommeln. Es sind die größten Proteste seit dem Sturz von Shah Mohammad Reza Palavi. Zum ersten Mal erheben sich die Kinder der Islamischen Revolution gegen den Staat, in dem Glauben, der gemäßigte und reformorientierte Präsident Mohammad Chatami würde sie unterstützen.

Schließlich hat er noch bei seiner Wiederwahl 2001 Dialog versprochen, die Stärkung der Pressefreiheit, den Einsatz für Frauenrechte. Auch Eshqi hat ihm ihre Stimme gegeben. Doch die systemimmanenten Grenzen fortschrittlicher Politik werden grausam deutlich. Chatami knickt vor dem Klerus ein, Reformpolitiker werden verhaftet, die Presse eingeschüchtert. Eshqi erlebt, wie brutal die Proteste niedergeknüppelt werden.

Als sie mit anderen Studierenden eingekesselt wird, fürchtet sie um ihr Leben. Bitter enttäuscht, schwört sie sich, nie wieder zur Wahl zu gehen. So wie ihr geht es hunderttausenden anderen. Wieder einmal ist es der Sport, der Eshqi Halt gibt. Neben Kickboxen praktiziert sie an der Universität Siebenkampf, Schwimmen, Basketball, Handball, Volleyball, Badminton, Tischtennis, Schießen und Aerobic.

Bloß kein Stillstand zum Durchhalten

Und wenn sie mal Ruhe gibt, dann liest sie alles, was sie in die Finger kriegt, wie sie es von ihrem Vater abgeschaut hat. Zwei Autoren haben es ihr besonders angetan: Friedrich Nietzsche, in dessen Sport ist Konzept des „Übermenschen“ sie ihren Wunsch nach Unabhängigkeit gespiegelt sieht. Und Arthur Schopenhauer, dessen Lektüre und die Erkenntnis, dass der unbedingte Lebenswille der Motor jeglicher Existenz ist, für sie „ein Schlag ins Gesicht“ gewesen sei, Weckruf und Warnung zugleich.

Nasim Eshqis Laufen
Sport ist Nasim Eshqis Ventil, und das Laufen bis heute eine der wichtigsten Ausgleichsmöglichkeiten geblieben. Foto: Ray Demski

Als Eshqi 2005 ihr Studium abschließt, wird der konservative Hardliner Mahmoud Ahmadinedschad zum Präsident gewählt; vor allem von armen Bevölkerungsschichten, denen der Veteran des Iran-Irak-Kriegs (1980–1988) das Blaue vom Himmel verspricht. Alle vier Jahre dürfen Iranerinnen und Iraner zur Urne gehen. Mit einer freien Entscheidung hat das wenig zu tun, denn über die Kandidaten für Parlament und Präsidialamt entscheidet der zwölfköpfige Wächterrat, dessen Mitglieder – zur Hälfte Kleriker, zur Hälfte Juristen, keine Frauen – direkt und indirekt vom Revolutionsführer bestimmt werden.

Natürlich lässt der Wächterrat nur systemtreue Kandidaten zu, die der Veleyat-e Faqih, der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“, dem Kernkonzept der Verfassung, zustimmen. Die erste Regierungsperiode Ahmadinedschads wird für den Großteil der Zivilbevölkerung eine Zeit bleiernen Stillstands. Reformen werden zurückgenommen, Moral- und Kleidungsvorschriften noch strenger überwacht. Die Zahl der Hinrichtungen vervierfacht sich.

Handelsbeziehungen erreichen einen Tiefpunkt, die Wirtschaft schwächelt, Arbeitslosigkeit und Armut nehmen zu, Korruption grassiert. Es ist Eshqis großes Glück, dass sie in dieser Zeit das Klettern für sich entdeckt. Sie ist 23. Und hört von heute auf morgen mit allen anderen Sportarten auf. Weil sie in den Bergen, an den Felsen, in der Wildnis Irans die Freiheit findet, nach der sie sich stets gesehnt hat.

Die „Grüne Bewegung“

Als Ahmadinedschad 2009 nur aufgrund massiver Wahlfälschung im Amt bleibt, reißt der urbanen Mittelschicht Irans der Geduldsfaden. Die „Grüne Bewegung“ fordert Aufklärung, Konsequenzen, Veränderungen. Auch ihre Proteste werden mit Gewalt niedergeschlagen. Dutzende Tote, hunderte Verletzte, Verhaftungswellen und Schauprozesse sind die Folge.

Danach fühlt es sich an, als sei jegliche Opposition erstarrt. Eshqi ist zu dieser Zeit nicht in Iran. Ihr Wunsch nach einem anderen Leben hat sie in die Vereinigten Arabischen Emirate geführt, wo sie in einer Kletterhalle arbeitet. Sie hat sich in eine Art innere Emigration begeben und kostet die persönliche Freiheit aus, die sie im Klettern findet – Freiheit gegenüber den ständigen Drangsalierungen, Freiheit aber auch von ihren eigenen Dämonen.

Das Klettern lehrte mich, dass ich nicht beständig kämpfen muss.

„Das Klettern lehrte mich, dass ich nicht beständig kämpfen muss. Bevor ich zu klettern begann, musste ich mich ständig beweisen, mich wehren, zurückschlagen. Jetzt nahm ich Energie auf, vom Fels, vom Berg. Ich verstand, dass es immer mehrere Wege im Leben gibt. Wenn einer versperrt ist, nimmt man eben einen anderen.“

The Power of Pink

Doch leider wirkt sich die jahrzehntelange, staatlich verordnete Gehirnwäsche auch an den Felsen von Bisouton und Baraghoun aus. Eshqi wird mehrfach von der Polizei verhaftet. Einmal, weil sie mit vier Männern beim Zelten ist. Die Begründung: Man wolle sie vor einer Vergewaltigung schützen. Ihr Vater muss sie aus dem Polizeigewahrsam abholen, und natürlich jedes Mal Bestechungsgeld bezahlen.

Eshqi lässt sich von diesen Erfahrungen nicht abschrecken. Es ist ihr auch egal, was hinter ihrem Rücken über sie geredet wird. Sobald sie an den Felsen ist, legt sie ihr Kopftuch ab, klettert im Top. „Ich hatte gelernt, dass ich, egal was ich mache, als ,Hure‘ beschimpft werde. Irgendwann sagte ich mir, was soll’s, dann bin ich halt eine, und mache trotzdem weiter.“

Nasim Eshqis Markenzeichen
„The power of pink“ – Nasim Eshqis rosa Fingernägel sind zu ihrem Markenzeichen geworden. Wenn sie den Lack abends erneuern muss, weiß sie, dass es ein guter Klettertag gewesen ist. Foto: Moritz Attenberger

Weil den Menschen nichts anderes übrigbleibt, weil sie im engen Korsett des Sitten- und Moralkodex der Islamischen Republik Luft zum Atmen brauchen, hat sich in Iran eine Parallelgesellschaft entwickelt. Nicht nur im öffentlichen, auch im privaten Raum muss man jederzeit mit Übergriffen der Sicherheitskräfte rechnen – es reicht eine Haarsträhne, die unter dem Kopftuch hervorragt. Die vielen Verbote, Einschränkungen und Tabus führen zu einer allumfassenden Unzufriedenheit, die die Menschen wie eine Art öffentliches Geheimnis verbindet.

Jeder weiß, dass auch das Gegenüber, die Nachbarin, der Bazaarhändler, die Studentin, der Taxifahrer die Machthabenden gerne zum Teufel wünschen würde – doch der Widerstand äußert sich, wenn überhaupt, nur im engsten Familien- und Freundeskreis, im Geheimen, Vertrauten. Auf ihre Weise hat sich auch Eshqi mit dem erzwungenen „Leben in der Lüge“ arrangiert – so beschrieb der tschechische Freiheitskämpfer und einstige Präsident Václav Havel das Prinzip, mit dem Unterdrückungssysteme ihre Macht aufrechterhalten.

Kletterkurse um „aus Eichhörnchen Tiger zu machen“

Allerdings geht sie ein gutes Stück weiter als die Mehrheit ihrer Landsleute, und dazu gibt ihr das Klettern die Kraft. Natürlich könnte sie für sich allein ihrer Leidenschaft frönen. Stattdessen beginnt Eshqi, Kletterkurse zu geben. Für Kinder, um „aus Eichhörnchen Tiger zu machen“. Für Frauen, um ihnen das Selbstvertrauen zu geben, ihre Träume zu realisieren. Und für Frauen und Männer gemischt, was in Iran verboten ist. Eshqi macht es dennoch, denn „es ist egal, ob du reich oder arm bist, schwarz oder weiß, Iraner oder Italiener, Mann oder Frau: Die Schwerkraft zieht jeden nach unten, mit derselben Kraft.“

Kletterkurse Nasim Eshqi
Kletterkurse zu geben, ist für Nasim Eshqi mehr als nur Lebensunterhalt. Ihr Ziel ist es, iranische Frauen zu ermächtigen, ihren eigenen Lebensweg zu finden. Foto: Archiv Eshqi.

Eshqi klettert seit knapp zehn Jahren, als 2013 mit Hassan Rouhani ein moderater Konservativer ins Präsidialamt einzieht. Seine pragmatische Politik führt am 14. Juli 2015 zur Unterzeichnung des Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA). Iran muss seine nuklearen Aktivitäten herunterfahren, sein Atomprogramm wird streng überwacht. Das „Internationale Atomabkommen“ zwischen den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats USA, China, Russland, Frankreich, Großbritannien plus Deutschland und dem Iran erlaubt dafür die schrittweise Aufhebung von Handelssanktionen.

In der iranischen Bevölkerung keimen zarte Hoffnungen – auf eine Rückkehr in die internationale Gemeinschaft, auf Stärkung der moderaten Kräfte in der Regierung, auf Lockerung der rigiden Moralvorschriften. Und Eshqi? Bereist inzwischen die Welt: Oman, Armenien, Indien, Georgien und die Türkei, wo die Felsen von Geyikbairi zu ihrem Lieblingssportklettergebiet und „einer zweiten Heimat“ werden.

Im Sommer 2015 ist sie auf Einladung von Stefan Glowacz und dessen Unternehmen Red Chili zum ersten Mal in Europa unterwegs. Ihr Visum ist 30 Tage lang gültig. An 27 Tagen klettert sie, angetrieben von unbändiger Lebenslust, Technomusik, einer nie versiegenden Energie und „the power of pink“ – ihre stets rosa lackierten Fingernägel sind zu ihrem Markenzeichen geworden.

Internationale Kletterkarriere

Eshqi selbst sind Details unwichtig, doch auch in Zahlen drückt sich eine erfolgreiche Kletterkarriere aus: An die 100 Sportkletter- und Mehrseillängenrouten hat sie erschlossen. Mit „Mrs. Nobody“ (8b+) eröffnet sie 2019 eine Verlängerung zu „Mr. Nobody“ im Klettergebiet Baraghoun; die Namen sind Programm. Zusammen mit ihrem Freund Sina Heidari, einem erfahrenen Allroundalpinisten, kann sie 2021 am Südpfeiler des Alam Kooh im Elburs-Gebirge, mit 4850 Meter zweithöchster Gipfel Irans, die Route „Jangjooyankohestan“ (7b+) erstbegehen.

Dass eine Frau und ein Mann eine Seilschaft bilden, wäre in Iran – wüssten die Sittenwächter davon – streng verboten. Dass Nasim und Sina es trotzdem tun, zeugt nicht nur von Liebe und geteilter Bergleidenschaft, sondern auch von Vertrauen und Mut. Und davon, dass es in Iran viele Männer gibt, die den Ruf ihrer Frauen nach Gleichberechtigung unterstützen.

„Bevor ich zu klettern begann, musste ich mich ständig beweisen, mich wehren, zurückschlagen. Jetzt nahm ich Energie auf, vom Fels, vom Berg. Ich verstand, dass es immer mehrere Wege im Leben gibt.“

Die innere Stärke

Die Zeit des Aufschwungs und der Zuversicht ist leider nur von kurzer Dauer. Unter Präsident Donald Trump steigen die USA am 8. Mai 2018 aus dem Internationalen Atomabkommen aus. Die Wiedereinführung von Handelssanktionen kombiniert mit Misswirtschaft und Korruption führt zu rasant steigenden Lebensmittelpreisen, massivem Währungsverfall, ausbleibenden Lohnzahlungen, wachsender Arbeitslosigkeit.

Der Funke Hoffnung, der Iraner und Iranerinnen drei Jahre lang wärmte, ist erloschen. In der Bevölkerung wachsen Enttäuschung, Unzufriedenheit und Wut. Als im November 2019 die Benzinpreise unangekündigt in die Höhe schnellen, kommt es landesweit zu Protesten. Und wieder werden tausende Tote beklagt. Der Vormarsch der Hardliner und Ultrakonservativen erreicht seinen vorläufigen Höhepunkt am 18. Juni 2021 mit der Wahl des neuen Präsidenten Ebrahim Raisi.

Der Vormarsch der Hardliner und Ultrakonservativen

Der Geistliche hat schon 1988 gezeigt, dass er ein loyaler Gefolgsmann des Revolutionsführers ist, und sei der Preis auch noch so hoch. Die Wahl ist eine Farce, nur 49 Prozent der 58 Millionen Berechtigten beteiligen sich, davon geben zwölf Prozent eine ungültige Stimme ab. Selbst diejenigen, die jahrzehntelang an die Reformierbarkeit der Islamischen Republik von innen glaubten, sind desillusioniert.

Revolutionsführer Ayatollah Seyyed Ali Chamenei, bei dem seit 5. Juni 1989 die Fäden der Macht zusammenlaufen, hat ein System geschaffen, das wie eine Membran auf Staat und Gesellschaft liegt. Geschickt versteht es Chamenei, die Interessen innerhalb der Machtelite auszugleichen, die größtenteils aus über 70-jährigen Klerikern besteht. Seine Herrschaft stützt sich zudem auf die 1979 gegründeten Sepah-e Pasdaran-e Enghelab-e Islami, die „Revolutionsgarden“.

Sie sind eine zweite Armee im Staat, der laut Verfassungsartikel 150 die Aufgabe zukommt, „über die Revolution und ihre Errungenschaften zu wachen“. Mit eigener Luftwaffe, Marine, Heer, Geheimdienst und den Basidsch- Milizen, einer paramilitärischen Schlägertruppe, haben die Revolutionsgarden einen Unterdrückungsapparat aufgebaut, der brutal gegen Oppositionelle und Kritiker vorgeht. Darüber hinaus stellen die Revolutionsgardisten die Mehrheit der Abgeordneten, bekleiden zahlreiche Ministerämter und leitende Rollen in Wirtschaft und Verwaltung.

Ihr wichtigstes Werkzeug sind etwa 50 informelle Organisationen, Finanztrusts und Holdings religiös-karitativer Stiftungen, die den Großteil des Staatshaushalts verwalten. Der Allianz zwischen religiösen, politischen, militärischen und wirtschaftlichen Machtzentren steht die Zivilbevölkerung ohnmächtig gegenüber. Die Angst vor Gewalt, Repressionen, Verfolgung, willkürlichen Bestrafungen und Diskriminierung bestimmt ihren Alltag.

Die Strategie des Regimes

Die Strategie des Regimes besteht darin, die Menschen zu isolieren, auseinanderzubringen: Arbeitergegen Mittelschicht, Schiiten gegen die sunnitische Minderheit, Männer gegen Frauen. Alle sollen sich mit ihren Problemen, Sorgen, ihrem Zorn allein fühlen. Dazu ist dem Regime jedes Mittel recht. Nasim Eshqi erlebt dies mehrfach am eigenen Leib. Als sie durch die Straßen Teherans läuft, wird sie von der Sittenpolizei angehalten, in einen Minibus gesperrt, in die berüchtigte Haftanstalt Vozara gebracht, drei Tage lang verhört, beschimpft, angeschrien.

Nasim Eshqis Iran
Portrait Nasim Eshqis

„Das ist einige Jahre her, und ich traute mich danach lange nicht mehr aus dem Haus. Und das ist genau das, was das Regime will“, sagt Eshqi. „Ich wurde depressiv und weinte tagelang. Sie rauben dir deine Würde. Sie brechen dich. Und du musst die einzelnen Stücke wieder zusammenfügen.“ Es zeugt von ihrer inneren Stärke, dass Nasim Eshqi immer wieder ganz wurde, immer wieder aufstand und weitermachte. „Iran“, sagt sie, „machte mich zu der Frau, die ich bin.“

Proteste seit dem Tod von Mahsa Amini

Im September 2022 zieht nach dem Mord an Mahsa Amini eine Protestwelle durch Iran, die bis heute nicht abebbt und die sich zur Revolution entwickelt. Angeführt wird sie von vornehmlich jungen, unerhört mutigen Frauen, die vereint unter dem Slogan „Women – Life – Freedom“ auf die Straße gehen. Unter ihnen sind viele Studentinnen, die inzwischen 57 Prozent der Studierenden stellen. Gleichzeitig wirkt die Frauenbewegung in alle Schichten und Ethnien Irans hinein. Die Chance auf einen radikalen Wandel, auf ein Ende des Regimes, scheint so groß wie nie. Weil er sich auf Frauen stützt, die über Generationen hinweg Opfer brachten, ohne sich einschüchtern zu lassen.

Der Preis in der Zivilbevölkerung ist hoch: Nach einem Bericht der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Activists in Iran“ (HRAI) wurden zwischen September und Dezember des vergangenen Jahres 481 Frauen und Männer von Sicherheitskräften getötet, darunter 68 Minderjährige. Über 18.000 Menschen wurden verhaftet, gefoltert, vergewaltigt, mindestens drei Männer nach Schauprozessen hingerichtet. Ihr angebliches Vergehen: Moharebeh, „Krieg gegen Gott“.

Neue Wege für die Protestierenden und Esqhi

All das kann die Revoltierenden nicht aufhalten. Sie gehören mehrheitlich der nach 2000 geborenen Generation Z an, die die Islamische Revolution nur noch vom Hörensagen kennt. Sie hat die Traumata der Studentenunruhen und der „Grünen Bewegung“ nicht erlitten, ist unverwundet und mutig. Und sie weiß dank Internet und sozialen Medien, wie junge Frauen und Männer in anderen Teilen der Welt leben können, leben dürfen.

Im Winter 2017 stieg Vida Movahed, alleinstehende Mutter eines Säuglings, in der Enqelâb-e Islâmi, der „Straße der Islamischen Revolution“, auf einen Verteilerkasten, streifte ihr weißes Kopftuch ab, hing es an einen Holzstab und wedelte damit stumm hin und her, die langen Haare offen. Drei weitere Frauen folgten in den Jahren danach ihrem Beispiel – ihr Fanal endete jeweils mit Verhaftung, Gefängnis und Flucht.

In diesen Tagen legen Frauen in den Städten und Dörfern Irans scharenweise ihr Kopftuch ab. Aus einer symbolischen Handlung wird konkreter Widerstand, sagt die Menschenrechtsaktivistin Masih Alinejad: „Der Hidschab-Zwang ist unsere Berliner Mauer, und wenn er fällt, bricht ein ganzes System zusammen.“ Wie die Revolution ausgehen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt (1. Januar 2023) ungewiss.

Sicher ist dagegen, dass sich Nasim Eshqis Leben grundlegend verändert hat. Die 40-Jährige hat sich zunächst in Europa niedergelassen. Sie fürchtet, dass Iran „noch lange kein demokratischer, liberaler Staat sein wird“. Zugleich ist sie sicher, dass sich das Regime nicht von selbst verändern wird. „Deshalb muss es verschwinden. Denn wir werden erst dann erfolgreich sein, wenn Staat und Religion voneinander getrennt sind und wenn die Diktatur scheitert.“

„Der Hidschab-Zwang ist unsere Berliner Mauer, und wenn er fällt, bricht ein ganzes System zusammen.“

Wie lange dies dauern wird, kann niemand vorhersagen. Noch wirkt das Regime stark, doch die machthabenden Eliten sind verängstigt. Sie haben alles, die wütende Mehrheit nichts zu verlieren. Die Angst des Regimes vor Menschen, die sich zusammenschließen, ist seine größte Schwäche. Wenn Iranerinnen und Iraner es schaffen, das öffentliche Geheimnis der Unzufriedenheit zu teilen, das Schweigen zu brechen, Tag für Tag, in Wellen des Protestes, quer durch alle Bevölkerungsgruppen, soziale Schichten und Altersklassen, dann kann die Revolution erfolgreich sein.

Kletterin Nasim Eshqis
Kletterin Nasim Eshqis

Ihrem neuen Leben in Europa blicken Nasim Eshqi und Sina Heidari mit Zuversicht entgegen. Als Erstbegeher wissen sie, wie man neue Wege öffnet, auch im Leben. Irgendwann wird das Klettern darin wieder eine Hauptrolle spielen. Weil es ihre Leidenschaft ist; die Tätigkeit, bei der sie alles um sich herum vergessen können.

Unterdessen wird Eshqi nicht aufhören, die Aufmerksamkeit der internationalen Kletterszene via soziale Medien, ihren Film „Climbing Iran“, Vorträge und Interviews auf die Revolution in Iran zu lenken. Sie macht das, weil für diejenigen, die gegen eine Tyrannei kämpfen, nichts vernichtender ist als das Gefühl, vergessen worden zu sein. Eshqi weiß, wie sich Unfreiheit anfühlt – und wie die Freiheit, die wir für selbstverständlich halten. Und die Iranerinnen und Iraner wie alle Menschen auf der Welt verdient haben.

Literatur

Amiri, Natalie. Zwischen den Welten: Von Macht und Ohnmacht im Iran. Berlin: Aufbau Verlag, 2021. Kenntnisreich und unterhaltsam berichtet die Deutsch-Iranerin aus ihrer zweiten Heimat Iran. In Reportagen und Porträts lässt die ehemalige Leiterin des ARD-Büros Teheran und „Weltspiegel“-Moderatorin die Geschichte der Islamischen Republik ebenso wie menschliche Schicksale lebendig werden.

Atai, Golineh. Iran: Die Freiheit ist weiblich. Berlin: Rowohlt Verlag, 2021. Die in Teheran geborene Autorin, die seit 2022 das ZDF-Studio in Kairo leitet, porträtiert sieben iranische Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen und unter großen Opfern seit langem gegen das islamische Regime kämpfen. Hervorragend recherchiert, liest sich das ein Jahr vor Beginn der aktuellen Kämpfe erschienene Buch wie eine Prophezeiung.

Hejazi, Arash. The Gaze of the Gazelle: The Story of a Generation. London: Seagull Books, 2011. Während einer Demonstration der „Grünen Bewegung“ am 20. Juni 2009 wird Neda Agha-Soltan in Teheran von Regierungsmilizen erschossen. Der Arzt und Schriftsteller Arash Hejazi versucht vergeblich, ihr Leben zu retten. Der Tod der jungen Frau, auf Video festgehalten, erschüttert die Welt. Hejazi verlässt Iran – und erzählt in einer Mischung aus Autobiografie, Reportage, Hintergrundbericht und Mythologie die Geschichte seiner Generation.

Michel, Serge und Paolo Woods. Land des Lachens, Land der Tränen: Die vielen Gesichter des Iran. München: Riemann Verlag, 2011. In 45 Porträts von Iranerinnen und Iranern – reichen Händlern, jungen Revoltierenden, mächtigen Mullahs, Popstars und Prostituierten – entfalten die beiden erfahrenen Journalisten ein facettenreiches Bild eines ebenso faszinierenden wie widersprüchlichen Landes, seiner Kultur und seiner Menschen.

Pryce, Lois. Im Iran dürfen Frauen nicht Motorrad fahren … Was passierte, als ich es trotzdem tat. Ostfildern: DuMont Reiseverlag, 2017. Mit Leichtigkeit und Understatement, stellenweise auch etwas naiv, erzählt die Britin Lois Pryce von ihrer Motorradfahrt, die sie „5000 Kilometer mit Helm und Hidschab“ durch Iran führte. Ein Reisebericht, der wirkt wie aus einer anderen Zeit. Und der zugleich Hoffnung gibt für eine Zukunft, in der solche Abenteuer für Besucherinnen und Iranerinnen möglich sein werden.

Weitere Quellen

  • Bundeszentrale für politische Bildung, umfangreiches Dossier zu historischen, politischen und gesellschaftlichen Hintergründen.
  • Human Rights Activists in Iran, A Comprehensive Report on the First 82 Days of Nationwide Protests in Iran (Sept–Dec 2022); eine detailliert recherchierte Analyse der ersten drei Revolutionsmonate.
  • Zenith, Dossier Iran; Ausgabe 3/2017, S.42–117; das Magazin für den Nahen und Mittleren Osten beschreibt Iran und unseren Blick auf das Land mit all seinen Widersprüchen.