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Robert Renzler im Masherbrum-Lager.
20. Sep 2023 - 13 min Lesezeit

Robert Renzler: Die letzte Bergfahrt

Eine Reise zum Ende der Welt: Mit diesem Untertitel erschien dieser autobiografisch angehauchte Essay von Robert Renzler, der im Mai 2023 bei einem Abseilunfall tödlich verunglückte, im Alpenvereinsjahrbuch BERG 2020. In Memoriam Robert Renzler.

Giorgio schloss die Holztür des kleinen Chalets. Das Knarren der durch Wind und Wetter in Mitleidenschaft gezogenen Türangeln durchdrang die Lichtung vor dem Haus bis hin zu den riesenhaften Zirben, die den Übergang in den lichten Bergwald markierten. An den Bergen hing noch die Nacht. Zaghaft brach von Osten her das erste Licht durch den gezackten Horizont, leise kämpfend mit den herbstlichen Nebelschwaden. Ein Käuzchen rief verloren und etwas unheilvoll.

Giorgio war Bergführer. Sein mittlerweile stark ergrautes, aber immer noch dichtes und struppiges Haar begann in der Feuchtigkeit des Novembermorgens am Kopf zu kleben. Den Waden entlang lief der Tau vom hochstehenden Gras in seine Schuhe. Ein leichter Ekel erfasste ihn und passte so gar nicht zur Stimmung, mit der er abends eingeschlafen war. Die Vorfreude, jene senkrecht aufragende Wand im Herzen der bleichen Berge allein zu durchklettern, hatte ihn in seine Träume begleitet. In seiner Jugend war er gern öfters, ohne Klettergurt und Seil mitzunehmen, in leichten, aber auch schwierigen Wänden unterwegs gewesen. Und genau jenes Gefühl des Aufgehens in selbstvergessenem Tun, des Zerfließens in Bewegung, die tief aus der Mitte des Körpers kommt, und das Wissen, dass dieses, sein Leben zur Gänze in seinen Händen liegt, hatte ihm einen emotionalen Rausch beschert. Ein Hochgefühl, das ihn oft wochenlang begleitete und ihm Sinnbild des Lebens war. Und jene glücklichen Momente, geboren an der Grenze zwischen Himmel und Abgrund, wollte Giorgio wieder beschwören als Aufschrei und Zustimmung in einem angesichts der Absurdität des Daseins.

Der Mensch ist vergänglich, das mag sein. Wir aber wollen widerstrebend vergehen und dem Nichts, wenn es unser wirklich wartet, keinen Anschein von Gerechtigkeit geben.

Senancour

Er ging schneller, und mit der Anstrengung kamen erneut Routine und Sicherheit in sein Bewegen. Höchste Zeit, denn inzwischen warf eine klare, unverhüllte Sonne ihr scharfes Herbstlicht auf die sechshundert Meter hohe Felswand, so dass alle Konturen und Strukturen in der Wand sich auflösten und diese ein mauerglattes, unnahbares Profil zeigte. Hätte Giorgio die Felsformation nicht von mehreren Begehungen her gekannt und gewusst, dass tiefe Risse, ja sogar ein schluchtartiger Kamin die Glätte und Steilheit milderten, wäre er wohl in seiner noch immer ambivalenten Gemütslage umgedreht.

Ausschnitt aus „Glärnisch und Vorderglärnisch“. Druckgrafik von Esther Angst
Ausschnitt aus „Glärnisch und Vorderglärnisch“. Druckgrafik von Esther Angst

So aber wechselte er die Schuhe und kletterte los. Und mit der zunehmenden Schwierigkeit der Kletterstellen fand er zu seiner in einem Leben am Fels gewonnenen Sicherheit des Steigens zurück. In Wandmitte etwa erreichte er einen breiten Absatz unter einem Felskamin, der von hier weg den Berg auf hundert Meter spaltete. Er setzte sich, zog seine schmerzenden Kletterschuhe aus und blinzelte in die Sonne. Die Nebel hatten sich zur Gänze aufgelöst und ein makelloser Himmel überspannte das tiefe Dunkelbraun der Täler. Eine späte Fliege umschwirrte ihn, rieb sich Beine und Flügel und vertraute schließlich seinem nackten Fuß als Landeplatz. Giorgio atmete den scharfen Herbstgeruch der kargen Graspolster und sah lange dem Treiben des geschäftigen Insekts zu. Nach einer Weile – es war bereits früher Nachmittag – zog er wieder seine Schuhe an und kletterte weiter.

Entspannt und völlig frei stieg er höher, bis er schließlich fast das Ende des senkrechten Ausstiegskamins erreichte. Nur wenige Meter trennten ihn vom leichten Grat, der die letzten Meter zum Gipfel führte, als jäh und ansatzlos ein Tritt unter seinen Füßen wegbrach. Seine Hand glitt vom abschüssigen Griff, und Giorgio stürzte etwa sechs Meter tief auf einen Felsblock, der unter ihm verkeilt den Kamin versperrte und wie durch ein Wunder einen weiteren Absturz ins Bodenlose stoppte. Giorgio atmete heftig aus, als plötzlich ein scharfer Schmerz sein Innerstes zerriss. Benommen versuchte er zögernd seine Arme und Beine zu bewegen und stellte fast erstaunt und wie durch einen Schleier fest, dass diese zwar abgeschürft, aber ansonsten heil schienen. Er versuchte sich vorsichtig aufzurichten. Urplötzlich flammte ein grelles Licht in seinem Körper auf und ließ ihn zusammensacken. Ein metallischer Geschmack erfüllte seinen Mund. Vor Anstrengung und Schmerz hatte er sich die Lippe zerbissen. Wieder und wieder kämpfte er sich hoch, bis schließlich kalter Schweiß auf seinem ganzen Körper die Kapitulation vor dem Schmerz besiegelte.

Giorgio schloss die Augen, und ein wirrer Strom von Gedanken spülte eine Vision einer aus den Fugen geratenen Welt an die Oberfläche seines Bewusstseins.

Mühsam und mit großer Behutsamkeit zog er seinen schwarzen Fleecepullover an, den er beim Klettern um seine Hüften gebunden hatte. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Die Täler versanken in tiefe Schatten und das Licht an den Spitzen der Berge wurde milder. Die Zunge klebte fiebrig an seinem Gaumen. Wie sehr wünschte er sich einen Schluck aus der Wasserflasche. Doch diese lag in seinem Rucksack am Fuß der Wand, den er dort deponiert hatte, um leicht und unbeschwert klettern zu können. Giorgio wusste, dass um diese Jahreszeit kaum Wanderer unterwegs waren, die ihn bemerken könnten. Und selbst wenn er welche gesehen hätte, wäre es nahezu hoffnungslos gewesen, Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Stimme war dünn und heiser, und es war ihm unmöglich, laut zu rufen. Wenn er sich nicht bewegte, fühlte er kaum einen Schmerz, und so krümmte er sich auf dem großen Klemmblock zusammen und presste seine Wange an den kalten Fels, der ihm immer Freund gewesen war. Mit der Dämmerung verflogen seine Pein und seine Furcht nahezu vollständig. Giorgio schloss die Augen, und ein wirrer Strom von Gedanken spülte eine Vision einer aus den Fugen geratenen Welt an die Oberfläche seines Bewusstseins; eine Vision, die ihn in den letzten Jahren immer wieder begleitet hatte.

Wie Figuren in einem Spiel

Eine Welt, die die Wahrheit verloren hatte. Die Lüge war politisches Programm geworden. Proklamiert vom Präsidenten der Europäischen Kommission und zur Vollendung gebracht durch den mächtigsten Mann der Welt, verloren ihre Schwestern, die Freiheit und die Demokratie, ihre Wurzeln. Nicht auf wahrhaft zu sein, kam es an, sondern darauf, das Spiel mit der Angst und den Medien zu beherrschen. Die Kluft zwischen Recht, Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit wuchs und wuchs, und die Menschen, die sich um die Brosamen stritten, die vom Tisch der Macht fallen gelassen wurden, vergaßen, dass es ihre Aufgabe und Pflicht war, die unter Blut, Schweiß und Tränen erkämpften Errungenschaften liberaler Gesellschaften zu hüten.

Anstelle kämpften sie mit der zunehmenden Angst, ihren Platz in der Mitte zu verlieren und damit auch ihre Würde, die jenen, die sich mit dem Staub zwischen den Brosamen begnügen mussten, schon längst geraubt war. Und die immer größer werdende Zahl der Abgehängten, der Verlorenen in der Welt des Überflusses, den sie täglich hautnah und doch als unerreichbar erlebten, spürten Hilflosigkeit und später dumpfen Zorn ob der Ungerechtigkeit und angesichts ihrer Würdelosigkeit. Herumgestoßen in ihren ein, zwei oder mehr Jobs, die gerade fürs Nötigste reichten und keiner Zukunft Raum ließen, wussten sie doch ganz tief in ihrem Innersten, dass diese eine Welt auch ihnen gehörte und sie Opfer übler Machenschaften waren. Die Figuren dieses Spiels aber bildeten Staaten und ganze Kontinente, die gegeneinander gesetzt Opfer und Täter in einem waren.

„Bodenlos“.
Druckgrafik von Esther Angst
„Bodenlos“. Druckgrafik von Esther Angst

Die sozialen Medien, einst gepriesen als schwarmintelligente Instrumente gegen totalitäre Regime, als Botschafter eines demokratischen Frühlings, wurden zunehmend Träger irrationaler Stürme von Hass und Verleumdung und des Missbrauchs durch Manipulation und Überwachung. Die scharfe Waffe der Wahrheit rostete vor sich hin und mit einem „Es gilt die Unschuldsvermutung“ wusch man seine Hände rein und schlug auch Unschuldige ans Kreuz. Die Wahrheit war der schnellen Behauptung gewichen und die Vernunft der Effekthascherei und der eruptiven Emotion. Jene Freiheit, für die so viele Menschen in zahllosen Kriegen gestorben waren, opferte man bereitwillig auf dem Altar der Beliebigkeit, wenn Freiheit gegen Fortschritt oder Wachstum zur Entscheidung stand. Und mit einem Male erschienen die Dämonen, die das Licht der Wahrheit scheuen, und raunten, dass die unvollkommene und doch unverzichtbare Herrschaft des Volkes ein Ende finden würde.

Nie zuvor hatte Giorgio jene größte aller Ungerechtigkeiten, die beim Zufall der Geburt beginnt und erst mit der Gewissheit des Todes endet, so leibhaftig erspürt.

Giorgio schreckte jäh aus seinem Halbschlaf. Ein Stein surrte vorbei und verschwand in der schwarzen, bodenlosen Tiefe. Über ihm stand ein klarer, gestirnter Himmel. Ganz in der Ferne nur zogen dunkle Wolken und verschmolzen mit dem Horizont zum Ende seiner Welt. Die Erinnerung an jenen einsamen Jungen am Strand des Indischen Ozeans stieg in ihm auf, neben den er sich gesetzt hatte, als er bei einer Expedition in den Karakorum einen unfreiwilligen Zwischenstopp in Karachi einlegen musste. Giorgio sah die unglaublich dünnen Unterschenkel, um die der Knabe seine Arme geschlungen hatte, das Kinn auf die Knie gelegt. Und dessen verlorenen, auf das Meer und ein verrostetes Schiffswrack gerichteten Blick, in dem nichts Kindliches mehr war, hatte er nie mehr vergessen. In diesen Augen lag der Schmerz eines Lebens, das schon mit der Kindheit gelebt war. Nie zuvor hatte Giorgio jene größte aller Ungerechtigkeiten, die beim Zufall der Geburt beginnt und erst mit der Gewissheit des Todes endet, so leibhaftig erspürt. Er hatte verstanden, warum wir mit einem Schrei auf den Lippen die Welt erblicken. Und er hatte sich geschämt für die blasierte Überheblichkeit, mit der die Privilegierten dieser Welt den Zufall der Geburt als Recht und nicht als Gnade in Anspruch nahmen. Statt etwas von dem Unverdienten zurückzugeben, durchdrang eine als Erfolg beschönigte Gier die Welt der Maßlosen. Und jene fast nachtschwarzen, verlorenen Augen des Jungen blickten stumm auf ein Geschlecht von Menschen, das seelenlos die Wurzeln zu seiner Mutter Erde verleugnet und durchtrennt hatte und jenem glich, das vom griechischen Dichter Hesiod als das eiserne benannt worden war.

Ausschnitt aus „Glärnisch“.
Druckgrafik von Esther Angst
Ausschnitt aus „Glärnisch“. Druckgrafik von Esther Angst

Gleichgültig schufen sie neue Kontinente aus Plastik in den Meeren der Welt. Gleichgültig nahmen sie das große Sterben der Arten, das Verschwinden der emsigen Insekten und das Verstummen unserer gefiederten Freunde hin. Gleichgültig huldigten sie einem Götzen, der Wachstum und Gier hieß, und warfen das heilige Brot, um das die Eltern noch gebetet hatten, zu Abermillionen Tonnen in den Abfall. Und gleichgültig schauten sie auf das unsägliche Leid der Tiere bei ihrem Transport in die Schlachthöfe und sahen in die ausgestochenen Augenhöhlen von Rindern, die, aufgehängt an den Beinen, stundenlang auf ihren Tod warteten. Trotz Seen an Milch und Bergen von Butter züchteten sie Kühe, die das Sechsfache an täglicher Milch gaben. Die Rinder wie auch die Legionen der hochgemästeten Schweine und Hühner, die während ihres kurzen Lebens nie einen Strahl der Sonne spüren durften, litten unsäglich wegen eines an Absurdität nicht zu überbietenden Systems von Subventionierung und globalen Preiskampfes. Und die Menschen erkannten nicht, dass mit der Transformierung von Leben in Produktionsmittel die Menschheit selbst jegliche Unschuld und Würde verlor.

Und obschon ihre Zahl ständig gewachsen war und die Ressourcen der Erde im gleichen Maße abgenommen hatten, pflegten sie nun einen Lebensstil, der ein Vielfaches an Energie und Rohstoffen erforderte. Gleichgültig betrieben sie Mundraub an den Menschen der ausgebeuteten Kontinente und an der Zukunft ihrer eigenen Kinder. Diese Menschheit war so ungeheuer geschäftig geworden, dass sie vergessen hatte, dass es ein Bündnis gab mit der Erde und allen ihren Lebewesen und sie am eigenen Ast des Lebens sägte. Und als die Welt in Folge zu heiß geworden war, trieben sie den Teufel mit dem Beelzebub aus und errichteten riesige Windparks, die weiter und noch schneller Landschaft und Vögel fraßen, anstelle die Ursachen der Katastrophe, die in ihrer Art des Wirtschaftens und in ihrem Lebensstil wurzelte, zu ändern.

Der Wahnsinn der Welt

Und Giorgio fühlte den Wahnsinn, der die Welt in einem kaum merkbaren und doch eisernen Würgegriff gepackt hielt. Die Erinnerung an ein kleines Gedicht, das er in den eisigen Weiten des Karakorums mit klammen Fingern in seinem Zelt auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte, drängte an die Oberfläche seiner verschwimmenden Wahrnehmung:

Memento mori
Breite deine Schwingen aus,
du großer, schwarzer Vogel,
wirf ihre Schatten über kahles Land und nimm
der nackten Erde des Lebens Wärme.
Einer schweren Wolke gleich
auf die Ebenen dich leg, du Totenvogel.
Reiß von den Lippen das Lachen und kralle
die Angst aus der Dummheit Vergessen.
Der Friede starb, die sanfte Taube,
am achten Tage der Schöpfung.
Stille wird dann sein oder nur mehr das Nichts –
endlos?

Und mit dieser Erinnerung schrie seine Seele in Zorn und Trauer zugleich, denn sie konnte nicht verstehen, wie diese Menschen, die so viel an Humanität und Kunstvollem, an Schöpferischem und Fortschrittlichem, an Handwerk und Kultur geschaffen hatten, jeglichen Maßes verlustig gegangen waren. Jenes Göttliche, das in den Menschen wohnt und in der Musik eines Mozart oder Beethoven in Tönen schwingt, drohte einer selbstzerstörerischen Hybris zu weichen und einem Zeitalter, das sich bereitwillig und kritiklos der Herrschaft künstlich geschaffener Intelligenz und ihren Algorithmen unterwerfen würde. Digitale Zeichen aber fühlen keine Empathie und halten sich nicht mit Gewissensfragen auf.

Und Giorgio sah die Menschen dieser Welt, wie sie in den Bahnhöfen, Gasthäusern und Wohnzimmern, ja sogar bei ihrem Unterwegssein in der Natur jene kleinen Spiegel ihrer Seele in der Hand trugen, die ihre Verständigung mit und ihre Erfahrung von der Welt filterten und bestimmten. Und am Ende des Tages hatten jene Spieglein mehr an Aufmerksamkeit und liebevoller Berührung erfahren als die Menschen, um die es eigentlich ging. Und sie wussten alles und verstanden wenig. Und der Tod war ihnen fremd geworden und damit auch das Leben, das sich unverhüllt in Größe und Würde und Demut zeigt, im Erleben jener erfüllten Augenblicke der vorbehaltlosen Liebe zur Welt, in denen das Glück so heftig mahnt, dass in unseren Herzen eine leise Trauer aufsteigt.

Giorgio nahm das dunkle Grau am Horizont wahr, mit dem sich der Tag anzeigte und das Versprechen nährte, dass mit dem Licht auch die Wärme der Sonne seine Insel in dieser Welt der Senkrechten erreichen würde. Er spürte, dass Gipfel und Abgrund in Eins beschlossen waren und dass es seine Aufgabe war, zu verstehen und nicht zu richten.

Sich ins Rot wandelnde Wolkenfetzen zogen in schwirrendem Flug zum Horizont, ihren Kampf mit einer im Dunst erwachenden Sonne aufnehmend. Und Giorgio vernahm in völliger Klarheit den Hilfeschrei jener vor ihm ausgebreiteten Welt und ihrer leidenden Kreaturen. Zorn, aber mehr noch stilles Glück breitete sich in ihm aus, als er sah, wie die Menschen sich erhoben und stumm und unerbittlich begannen, ihre Verantwortung gegenüber sich selbst und der Welt wahrzunehmen, indem sie ihre gekrümmten Rücken gerade streckten und ihre Augen und Ohren öffneten, um zu sehen, was wahr ist.