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28. Feb 2022 - 7 min Lesezeit

Schneekristalle – Juwelen des Himmels

Dr. Norbert Span, Meteorologe und Geophysiker hat seine Leidenschaft den Sternen verschrieben. Den selbstleuchtenden Himmelskörpern im Weltall, wie auch den faszinierenden Sternen aus Eis. In seinen schöpferischen Arbeiten versucht er den Naturraum in Kunstraum umzulegen und stellt seit beinahe 20 Jahren Schneekristalle photographisch in Szene. Seine Bilder zeigen die ganze Komplexität und Schönheit der Natur und verdeutlichen einmal mehr, dass es sich manchmal lohnt sich im Detail zu verlieren.

Schneeflocken bestehen aus nichts anderem als zusammenhängenden Eiskristallen. Die Rezeptur ist dabei denkbar einfach: Ein Sauerstoffatom plus zwei Wasserstoffatome plus Kälte ergibt Eis. Diese scheinbar triviale Struktur steckt jedoch voller Überraschungen, denn kein einziges Eiskristall gleicht dem anderen.

Die Wissenschaft unterscheidet insgesamt zwölf verschiedene Eisarten im Universum. Auf der Erde kommt aber einzig und allein das uns bekannte „normale“ Eis Ih (Eins h) vor und nur dieses Eis hat die Eigenschaft, auf dem Wasser zu schwimmen. Eis auf der Erde hat viele Gesichter: Eisströme an den Polen, Gletscher im Hochgebirge, Permafrostböden, gefrorene Wasserfälle, Schnee, Raureif und Hagel, Eisblumen am Fenster …

Am Anfang war das Sechseck

In welcher Ausformung auch immer: Die Wassermoleküle eines Eiskristalls formen stets ein sechseckiges Gitter, das aus Sauerstoff- und Wasserstoffatomen besteht. An den Eckpunkten sitzen die Sauerstoffatome. Diese werden jeweils durch Wasserstoffatome verbunden. Für jedes Sauerstoffatom werden zwei Wasserstoffatome benötigt. Grundlage dafür ist eine Formel, die wir alle kennen – H2O. Von diesem wundersamen Gitter leitet sich schlussendlich die sechseckige Form der Schneekristalle ab. Das Wassermolekül ist winzig klein: Man benötigt 3,3 Millionen H2O-Moleküle, um eine Kristallkette von einem Millimeter Länge zu bilden. Schneeflocken sind keine gefrorenen Wassertropfen! Manchmal gefrieren Regentropfen zwar, wenn sie herunterfallen, aber dann werden sie Graupel genannt. Diese Graupel weisen keine kunstvollen, symmetrischen Formen auf, wie sie für Schneekristalle typisch sind. Schneekristalle entstehen, wenn Wasserdampf direkt zu Eis kondensiert. Das passiert in den Wolken. Die vielfältigen Formen des Schneekristalls bilden sich dann während des Wachsens heraus. Der Durchmesser eines erstarrten Kristallgitters beträgt 0,0000045 mm, oder zwölf aneinandergereihte H2O-Moleküle. Die Geschichte einer Schneeflocke beginnt also mit Wasserdampf in der Luft. Die Verdunstung von Ozeanen, Seen und Flüssen, aber auch die Atmung der Pflanzen erzeugt diesen Dampf. Hoch oben in der Luft kondensiert Wasserdampf dann auf einem Staubkorn, das in der Luft schwebt.

So entstehen unzählige Tröpfchen, von denen jedes mindestens ein Staubkorn enthält. Eine Wolke ist also eine riesige Menge solcher Tröpfchen, die in der Luft hängt. Der Wassergehalt einer Wolke beträgt zwischen 0,05 und 0,3 g/m3. Das klingt nach wenig und ist doch viel: Eine Wolke mit einer Höhe von 1000 Metern und einer Fläche von einem Quadratkilometer „wiegt“ also zwischen 50 und 300 Tonnen! In einer Wolke ist es sommers wie winters kalt, die Temperaturen liegen fast immer unter null Grad Celsius. Warum frieren die Tropfen dann nicht einfach und fallen zu Boden? Damit die Wassermoleküle zu einem Eisgitter umgebaut werden, braucht es eine Art Schablone. Diese liefert das Staubkorn – an dessen Oberfläche finden die Moleküle die „Anleitung“ zum Frieren. Die Oberfläche des Staubkorns lenkt die wild durcheinander sausenden Moleküle in eine Ordnung – die Eisbildung kann beginnen! Deswegen beginnen die Tröpfchen nicht bereits bei 0°C, sondern ab ungefähr –10°C zu gefrieren. Dieses kleine Teilchen aus Eis wächst zur Schneeflocke heran, wenn umliegende, noch nicht gefrorene Tröpfchen verdunsten und auf seiner Oberfläche kondensieren. Zur Bildung einer einzelnen Schneeflocke ist bereits eine unvorstellbare Menge von 1.338.000.000.000.000.000.000 Wassermolekülen nötig – das sind über 1000 Trillionen! Zur Veranschaulichung: Das Größenverhältnis von Molekül zu Schneeflocke entspricht dem einer Kugel von 10 Metern Durchmesser zur Erde.

Erstaunlich kompliziert

Der Schneekristall, der hoch oben in einer Wolke entsteht, hat zu Beginn die Form eines sechseckigen Prismas. Wenn der Kristall größer wird, beginnen aus den Ecken des Prismas Äste zu sprießen. Durch die fast identen Umweltbedingungen um den kleinen Kristall herum wachsen diese Äste ziemlich gleichmäßig. Während des Wachstums wird der Kristall allerdings in der Wolke herumgewirbelt. Dadurch ändern sich immer wieder die Temperatur und damit auch das Wachstum der sechs Äste. Ergebnis dieser wechselnden Wachstumsbedingungen ist ein komplex verzweigter, sechseckiger Eiskristall. Die verschiedenen Schneekristallarten hängen also von der Temperatur und Luftfeuchtigkeit in der Wolke ab. Und durch die verschiedenen Wege, den die Eiskristalle durch die Wolke nehmen, wird die Vielfalt noch bunter.

Sechster Sinn?

Was synchronisiert aber das Wachstum der sechs Arme von Schneekristallen? Eine komplizierte Frage mit einer einfachen Antwort: nichts. Die sechs Arme wachsen unabhängig voneinander, allerdings unter denselben Umweltbedingungen. Das kann Symmetrie ermöglichen, muss es aber nicht. Auch wenn man immer wieder Bilder von perfekt symmetrischen Schneekristallen sieht, sind die meisten von ihnen doch unregelmäßig. Bei genügend Wasserdampf würde der Kristall immer weiter als Prisma anwachsen und schließlich aus der Wolke fallen. Aber die Wassermoleküle in der Umgebung des Kristalls werden immer weniger und müssen aus größerer Entfernung dazustoßen. Diesen Prozess nennt man Diffusion. Das Diffundieren durch die Luft braucht Zeit, dadurch wird das Wachstum gebremst. Unser sechseckiges Prismenplättchen schwebt aber weiterhin durch die Wolke, wobei die Spitzen des Sechseckes ein klein bisschen weiter in die umgebende Luft hineinragen als der Rest. Deswegen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein diffundierendes Wassermolekül daran andockt. Damit lugt diese Spitze noch ein wenig mehr hinaus und sammelt noch mehr Moleküle – es startet ein sich selbst verstärkender Kreislauf! Die am Beginn winzigen Ecken werden zu Armen. An den Seiten dieser Arme landen wieder zufällig verteilt weitere Moleküle, welche wiederum Seitenarme wachsen lassen. Die Bedingungen für das Wachstum, für die Form und Größe der Schneekristalle hängen also von der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit ab, die Komplexität des Wachstums vom Luftdruck: Je höher der Luftdruck, umso verzweigter die Struktur.

Formenzauber

Auch beim Züchten von Schneekristallen im Labor sieht man, dass ihre Form von Temperatur und Feuchtigkeit abhängt. Dieses Verhalten wird im sogenannten morphologischen Diagramm zusammengefasst. Dort lässt sich ablesen, welche Schneekristalle sich unter welchen Bedingungen bilden. So sehen wir zum Beispiel, dass zwischen 0°C und –3°C dünne Plättchen und die klassischen Schneesterne (Dendriten) wachsen, während unter –3°C schlanke Nadeln und Säulen entstehen. Ab –10°C bis –22°C formen sich wieder die ästhetischen Sterne, gemeinsam mit Plättchen und Sektorenscheiben. Unter –22°C schneit es schließlich nur noch kleine Prismen und Plättchen.

Die Formvielfalt der Schneekristalle. Grafik: Norbert Span
  • Sterndendriten können bis zu fünf Millimeter groß werden und sind sehr flach (ca. 0,1 mm). Sie haben sechs symmetrische Äste mit vielen zufälligen Seitenästen. Die größten Sterndendriten entwickeln sich bei ca. –15°C und erfreuen uns in Form des berühmten Pulverschnees. Der Winkel zwischen den einzelnen Ästen beträgt immer 60° oder ein Vielfaches davon. Die Hauptarme sind deshalb so erstaunlich symmetrisch, da diese immer zur gleichen Zeit aus den Ecken des Eisprismas herauswachsen.
  • Sektorenscheiben fallen durch ihre schmalen Grate auf, welche den Kristall in einzelne Sektoren unterteilen. Die einfachste Form ist dabei ein einfacher sechseckiger Kristall, welcher durch die Grate in sechs Sektoren eingeteilt wird. Manchmal erscheinen Sektorenscheiben als Erweiterung an den Ästen von Dendriten oder anderen Scheiben. Diese Kristalle brauchen ganz spezielle Bedingungen: Ist die Luftfeuchtigkeit zu groß, bilden sich sofort die sternförmigen Äste; ist die Luftfeuchtigkeit zu niedrig, wachsen Scheiben langsamer und werden nicht so dünn.
  • Säulen und Nadeln schneit es relativ oft, sie wachsen bei ca. –5°C oder bei deutlich kühleren –25°C. Bei diesen Kristallen wachsen die Grundflächen schneller als die Seiten und so entstehen bleistiftförmige hexagonale Prismen, welche innen meist konisch und hohl ausgebildet sind. Bei hoher Luftfeuchtigkeit und einer Temperatur von ca. –5°C werden die Säulen so dünn, dass sie aussehen wie Nadeln, die auch wieder hohl wachsen können.
  • Gedeckelte Säulen entstehen, wenn normale Säulen durch den Wind in der Wolke in eine andere Umgebung mit einer unterschiedlichen Temperatur verfrachtet werden. Dann können sich an den Deckeln wieder Scheiben ausbilden. Bei kurzen Säulen wird eine der beiden Scheiben die Oberhand gewinnen und die verfügbaren Wasserdampfmoleküle bei sich einbauen. Es zeigt sich, dass einfache Formen eher bei niedriger und komplizierte Formen eher bei hoher Feuchtigkeit zu beobachten sind. Warum sich die Form von Schneekristallen bei verschiedener Temperatur und Feuchtigkeit so sehr verändert, ist noch ein wissenschaftliches Geheimnis. Sicher ist aber eines: Es gibt keine zwei gleichen Schneekristalle. Jeder einzelne Schneekristall existiert in dieser jeweiligen Form nur ein einziges Mal – die Juwelen des Himmels sind lauter Unikate!

(Artikel erstmals erschienen im Alpenvereinsjahrbuch BERG 2021.)


Video: Vortrag ÖGSL

Im ÖGSL Schnee.Semmelnar hat er kürzlich von seiner Arbeit berichtet, von der Entstehung der Schneekristalle und ihrem langen Weg zurück in den Kreislauf der Natur. Eine Reise ins 3-Phasen-Land.