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Blick über den herbstlichen Naturerlebnispark Sihlwald
von Christina
11. Dez 2018 - 6 min Lesezeit

Wildnis – eine Frage des Loslassens

„Natur vor Mensch“ – darf es diese Hierarchiefolge in einer nach unseren Bedürfnissen angepassten Welt überhaupt noch geben? Gibt es echte Wildnis in den Alpen eigentlich noch? Und wenn ja, wie geht man damit um?
Blick über den herbstlichen Naturerlebnispark Sihlwald, in dessen Kernzone freie Naturentwicklung gilt. Im Hintergrund die Urner und Glarner Alpen. Foto: Bruno Augsburger

Mountain Wilderness Schweiz hat sich dem Thema „Wildnis“ im Speziellen angenommen und die Kampagne Wildnis Schweiz gestartet. Im Rahmen einer Tagung am 30. Oktober 2018 wurde die daraus resultierende Studie „Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz“ vorgestellt. Die Studie hat Mountain Wilderness Schweiz gemeinsam mit der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL erarbeitet. Rund 17 % der Landesfläche der Schweiz weisen demnach noch echtes Wildnispotenzial auf – sind also Räume, in denen die Natur noch Natur sein darf und der menschliche Einfluss, wenn überhaupt, nur minimal zu spüren ist. Geografisch gesehen befinden sich diese Flächen praktisch ausschließlich in den schroffen, unzugänglichen Hochgebirgsregionen. Aber wie fast überall in den Alpen wächst auch in der Schweiz der Druck auf diese letzten beinahe unberührten Regionen: Energiewirtschaft und Tourismus präsentieren ihre Pläne und nicht selten werden die Interessen der Natur gegen jene des Klimawandels und der Notwendigkeit von Klimawende und Anpassungsstrategien ausgespielt, obwohl es zur Abdämpfung des Klimawandels wenig Besseres als Wildnis gibt.

Wildnis-Strategie Schweiz

Die „Wildnis-Strategie Schweiz“ soll nun in weiterer Folge einen Diskussionsprozess einleiten, der das Bewusstsein für Wildnis hebt und zu einem allgemeinen Umdenken einladen soll. „Loslassen ist ein schmerzvoller Prozess und viele Menschen haben Angst vor Veränderungen in der gängigen Hierarchie Mensch-Natur“, so Projektleiter Sebastian Moos von Mountain Wilderness Schweiz.

Eine Frage der Definition

Um den Begriff „Wildnis“ greifbar zu machen, braucht es Kriterien. Diese gehen im Prinzip bereits auf das Jahr 2009 zurück. Damals erließ die Europäische Union eine Resolution, in der es um den Schutz, die Förderung und um die Bewusstseinsstärkung für Wildnis ging. Zum ersten Mal war das Thema „Wildnis“ damit auch politisch verankert. Um festzustellen, wo noch Wildnis in Europa vorhanden ist, hat die WSL vier Indikatoren ausgearbeitet, die in ähnlicher Form auch schon in anderen Studien aus Europa angewendet wurden:

  • Natürlichkeit
  • Menschliche Einflüsse
  • Abgeschiedenheit
  • Rauheit der Topographie
Die Wildnisqualität der Schweiz basierend auf den vier Kriterien „Natürlichkeit“, „Menschliche Einflüsse“, „Abgeschiedenheit“ und „Rauheit der Topographie“, gewichtet nach der Meinung von 22 befragten Fachpersonen. Die Wildnisqualität ist auf einer kontinuierlichen Farbskala dargestellt. Dunkelblau sind die Flächen mit der höchsten Wildnisqualität, rote Flächen haben die niedrigste Wildnisqualität. Quelle: Mountain Wilderness Schweiz

Nach diesen Kriterien entstand auch die Wildnis-Karte der Schweiz und logischerweise zeigt sich, dass großflächige Naturgebiete praktisch ausschließlich in den unzugänglichen Hochgebirgsregionen erhalten geblieben sind. Allerdings kommen nun auch jene Gebiete dazu, die sich aufgrund der Landnutzungsaufgabe wieder in Richtung Wildnis entwickeln.

Die Ergebnisse der Wildnis-Studie zeigen dazu aber auch ganz deutlich, wie kritisch vor allem die Landbevölkerung dieser Entwicklung gegenübersteht. Vor allem ist das Verständnis für Wildnis sehr unterschiedlich. Während für die einen damit Regionen gemeint sind, in denen der Mensch überhaupt keine Rolle mehr spielt, sehen die anderen in der forstwirtschaftlichen und jagdlichen Nutzung keinen Widerspruch mit einer freien Naturentwicklung.

Eng gehaltene Definition der IUCN

Auch die IUCN, International Union for Conservation of Nature, gibt dem Begriff „Wildnis“ eine Definition: gemäß dieser sind Wildnisgebiete Kategorie I (Ia und Ib): „Schutzgebiete, die hauptsächlich für Zwecke der Forschung oder zum Schutz großer, unbeeinflusster Wildnisareale verwaltet werden.“ Dem gegenüber stehen Nationalparks, die der IUCN-Kategorie II entsprechen. Dabei handelt es sich um ein „Schutzgebiet, das hauptsächlich zum Schutz von Ökosystemen und zu Erholungszwecken verwaltet wird.“

Im Vergleich Österreich-Schweiz: Gemäß den IUCN-Kriterien beschränke sich gesetzlich verankerter Wildnisschutz in Österreich nur auf zwei anerkannte Wildnisgebiete und auf Teilflächen der sechs Österreichischen Nationalparks. Dies entspräche nur rund 1,2 % der Landesfläche, wie Bernhard Kohler, Programm Großschutzgebiete und Wald WWF Österreich, im Rahmen der Wildnis-Tagung erläuterte. Aber immerhin genießen diese Bereiche gesetzlichen Schutz.

In der Schweiz trifft dies zum einen auf den Schweizer Nationalpark in Graubünden zu (sogar IUCN-Kategorie Ia), der übrigens der einzige Nationalpark in der Schweiz ist. Zum anderen gibt es sogenannte „Naturerlebnispärke“ (der Sihlwald ist bisher der einzige), die in der Kernzone nach IUCN-Kriterien freie Naturentwicklung zulassen. Teilansätze, Wildnis zu schützen, gibt es zudem in Naturwaldreservaten. Erklärtes Ziel der Wildnis-Strategie Schweiz ist es unter anderem, den Wildnis-Schutz bezogen auf jene Gebiete mit hohem Wildnispotenzial jedenfalls auszuweiten und auch auf politischer Ebene zu verankern.

Wichtiger Bestandteil der Wildnis-Tagung waren Ateliers, an denen die Teilnehmenden wichtige Themen aus der Wildnis-Strategie Schweiz diskutierten. Im Bild die Gruppe von Bernhard Kohler vom WWF Österreich (Bildmitte), die auslotete, ob Wildnisgebiete der IUCN-Kategorie Ib geeignet wären, um Wildnis in der Schweiz zu erhalten. Foto: Bruno Augsburger

Die Strategie

Mit der Wildnis-Strategie Schweiz wird aber nicht unbedingt die IUCN-Kategorie I angestrebt. Sebastian Moos ist der Ansicht, dass der Mensch als Erholungssuchender unbedingt Zugang zu Wildnisgebieten haben soll. „Diskutiert wird aber sicherlich, ob es eventuell Einschränkungen bezüglich der Sportarten geben wird. Vorstellbar wäre, dass man gewisse Gebiete nur betreten, aber nicht befahren – z.B. mit dem Mountainbike – oder auch nicht mit Skiern oder Schneeschuhen im Winter begehen darf.“ Jedenfalls soll keine zusätzliche Infrastruktur wie Parkplätze oder Singletrails dazu kommen. Moos kann sich zudem vorstellen, dass es in Einzelfällen auch – naturschutzfachlich begründete – Betretungsverbote gibt; Bereiche also, in denen maximal die Forschung beobachten darf, wie sich ein Gebiet ohne menschliches Zutun entwickelt.

Nur weil man keine Ressourcen direkt aus einem Gebiet entnehmen kann, ist es lange nicht nutzlos. Ganz im Gegenteil. Gerade im Zuge des Klimawandels wird der gesellschaftspolitische Nutzen von großflächigen, intakten Ökosystemen immer deutlicher: Sie sind Rückzugsorte für seltene Tier- und Pflanzenarten, CO2-Puffer und Wasserreservoirs.

Der Prozess

Um das Bewusstsein für Wildnis zu fördern, um ein Verständnis für das Unbekannte zu erwecken, sei  aber ein Prozess notwendig. „Aktuell ist die Vorstellung von Natur rein menschlich geprägt – wir geben vor, wie Natur auszusehen hat. Wildnis ist aber etwas, das wir nicht kennen, das wir nicht in der Hand haben. Es braucht also einen Umdenkprozess, der zulässt, dass wir auch das schützen, was wir nicht kennen“, erläuterte Sebastian Moos. Auch kleine Wildniszonen im urbanen Bereich, in Stadtparks, im eigenen Garten, sollen wieder mehr Platz in unserer Welt haben und den Prozess des „Loslassens“ anregen.

Die Wildnis-Strategie Schweiz ist auf den Zeitraum 2019 – 2030 ausgelegt. Viel Zeit also, um konkrete Maßnahmen zu erarbeiten, die bestehenden Wildnisgebiete zu erhalten und das Potenzial weiterer Flächen in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung und der Politik zu fördern. Zeit, um das Bewusstsein für Wildnis zu erhöhen, um den Wert von unberührten Gebieten für uns Menschen zu erkennen – sei es für die sportliche Herausforderung aus eigener Kraft oder schlicht für die notwendige Erdung. Zeit aber auch für ein Umdenken, ein „Loslassen“ vom Altbekannten, Kontrollierbaren und den Abbau von Ängsten.

In eine ähnliche Richtung geht übrigens auch die Kooperation „Seele der Alpen“ von WWF, Österreichischem Alpenverein und Naturfreunde Österreich. Auch hier steht der Erhalt letzter naturnaher Flächen und ihr Schutz vor einer weiteren touristischen und energiewirtschaftlichen Erschließung im Fokus.