bergundsteigen #130
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Illustration Lawinenbergung
30. Juni 2025 - 8 min Lesezeit

Lawinenunglück: Die ersten 10 Minuten zählen

Bei einem Lawinenabgang zählt jede Sekunde. Eine neue Studie zeigt: Die höchste Überlebenswahrscheinlichkeit liegt nicht bei 15, sondern nur bei zehn Minuten. Was 40 Jahre Forschung darüber verraten – und was für Tourengeher besonders wichtig bleibt

Die Entwicklungen der letzten 40 Jahre

Jeder Bergsteiger und Skitourengeher weiß, dass bei einem Lawinenunglück jede Sekunde zählt. Doch wie hat sich die Überlebenswahrscheinlichkeit von Lawinenverschütteten im Laufe der Jahre verändert? Die wegweisende Studie von Eurac Research in Bozen, Schweizer Notfallmedizinern und dem Schweizer WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF in Davos liefert spannende Antworten.

Illustration Lawinenrettung schaufeln

Die Untersuchung: Lawinenopfer von 1981 bis 2020

Insgesamt wurden vom Studienteam anhand von Schweizer Daten 1643 „kritisch” verschüttete Lawinenopfer aus den Jahren 1981 bis 2020 in die Studie eingeschlossen, bei denen mindestens Kopf und Oberkörper vom Schnee bedeckt waren. Teilverschüttete und nicht verschüttete Personen, die beispielsweise mithilfe eines Lawinenairbags nicht kritisch verschüttet wurden, sind nicht mit eingeschlossen.

Verglichen wurden diese Daten mit jenen aus den Jahren 1981 bis 1991, welche 1994 von Markus Falk und Hermann Brugger in Nature publiziert wurden. Bei beiden Studien wurde dasselbe statistische Verfahren (Turnbull-Algorithmus) zur Berechnung der Überlebenswahrscheinlichkeit angewandt.

Die Ergebnisse, die in der renommierten Zeitschrift JAMA Network Open veröffentlicht wurden, zeigen, dass die Überlebensrate bei Lawinenverschüttungen in den letzten 40 Jahren deutlich gestiegen ist. Doch es gibt auch Hinweise auf eine verkürzte Zeitspanne, in der Überlebende noch mit hoher Wahrscheinlichkeit gerettet werden können.

Höhere Überlebensrate, aber weniger Zeit

Ein wesentlicher Faktor für diese positive Entwicklung ist die verkürzte Verschüttungsdauer bei kritischer Verschüttung (Kopf und Oberkörper verschüttet). Dank Handyalarmierung, moderner Lawinenverschüttetensuchgeräte und Lawinenschaufeln, besserer Ausbildung der Wintersportler und effizienteren Rettungsdiensten gelingt es, Verschüttete schneller zu bergen.

Kein Handy in der Jackentasche bei der LVS.

Hintergrundartikel: Störquellen bei der Lawinenrettung. Wie stark stören elektronische Airbagsysteme, Handys & Co. die LVS-Suche und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Praxis?

Diese Technologien und Organisationen haben es den Rettungsteams ermöglicht, ihre Reaktionszeiten erheblich zu verkürzen, was sich positiv auf die Überlebenschance auswirkt. So hat sich die durchschnittliche Rettungszeit insgesamt von 45 auf 25 Minuten verkürzt (Abb. unten).

Wahrscheinlichkeit der Bergung von kritisch verschütteten Lawinenopfern
Wahrscheinlichkeit der Bergung von kritisch verschütteten Lawinenopfern in Abhängigkeit von der Verschüttungszeit in Minuten. Die blaue Linie stellt die neue Kurve dar (Daten von 1981 bis 2020), die schwarze zeigt die in Nature publizierten Daten (1981-1991). Die rot gepunkteten Linien markieren Referenzwerte bei 15 und 30 Minuten.

Bei der Kameradenrettung hat sich im Schnitt die Verschüttungsdauer von 15 auf 10 Minuten verkürzt, bei der organisierten Rettung sogar von 153 auf 90 Minuten. Entsprechend der kürzeren Verschüttungsdauer hat sich auch die Überlebensrate von 43,5 % bis 1990 auf 53,5 % im Jahr 2020 um ganze 10 % erhöht.

Diagramm der Überlebensrate von kritisch verschütteten Lawinenopfern in der Schweiz
Überlebensrate von kritisch verschütteten Lawinenopfern in der Schweiz im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte in Prozent.

Besonders bemerkenswert ist auch die Verbesserung der Langzeitüberlebenschancen: die Wahrscheinlichkeit, nach mehr als 130 Minuten Verschüttungsdauer lebend geborgen zu werden, ist von 2,6 % auf 7,3 % gestiegen. Dies zeigt, dass sich auch die organisierten Rettungsmethoden und die notfallmedizinische Versorgung deutlich verbessert haben.

Dennoch: Die Zeit bleibt der Endgegner

Trotz dieser Fortschritte gibt es auch beunruhigende Ergebnisse: So hat sich die Zeitspanne verkürzt, in der die Überlebenswahrscheinlichkeit von Lawinenopfern höher ist als 90 % (Abb. 3). In den frühen 1990er-Jahren lag dieser Zeitraum bei 15 Minuten, heute beträgt er nur noch 10 Minuten.

Überlebenswahrscheinlichkeit bei kritischer Lawinenverschüttung (Kopf und Oberkörper verschüttet)
Überlebenswahrscheinlichkeit bei kritischer Lawinenverschüttung (Kopf und Oberkörper verschüttet) in Abhängigkeit von der Verschüttungsdauer in Minuten. Die blaue und die schwarze (mit korrigierten fehlenden Zeiten) Linie stellen die neue Überlebenskurve dar (Daten von 1981 bis 2020). Das graue Band zeigt das 95-%-Konfidenz intervall. Die schwarz gestrichelte Linie zeigt die erste Überlebenskurve (Daten von 1981–1991). Die rot gepunktete Linie markiert einen Referenzwert bei 15 Minuten.

Anschließend an diese „Überlebensphase“ stürzt die Überlebenswahrscheinlichkeit innerhalb von 20 Minuten auf 30 % ab. Aus den Studiendaten ist keine klare Ursache für diesen früheren Abfall der Überlebenschancen ersichtlich. Wir können jedoch nicht ausschließen, dass diese Entwicklung auf eine höhere Schneedichte zurückzuführen ist, möglicherweise bedingt durch den Klimawandel.

Je dichter der Schnee, desto weniger Luft enthält er. Bei Fehlen einer Atemhöhle erschwert dies die Atmung und verkürzt die Zeit, in der eine Person unter dem Schnee noch überleben kann. Derzeit ist dies eine Hypothese, da Daten zur Schneedichte unmittelbar nach Lawinenabgängen nicht erhoben werden. Es bleibt eine Herausforderung für die Wissenschaft, diesen Zusammenhang genauer zu untersuchen und besser zu verstehen.

Kameradenrettung bleibt entscheidend

Die wichtigste Erkenntnis der Studie ist jedoch eindeutig: Es gilt eine Verschüttung zu vermeiden – und sollte es doch dazu kommen, dann bleibt die Rolle der Kameradenrettung weiterhin von größter Bedeutung. Die ersten Minuten nach einer Lawine sind entscheidend: Eine schnelle Kameradenrettung kann den Unterschied zwischen Leben und Tod aus machen.

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Hintergrundartikel: Fastest Rescue System. Eine schnelle Suchstrategie, die LVS-Gerät und die vollelektronische Lawinensonde (iProbe) kombiniert

Laut der Studie ist die Überlebenswahrscheinlichkeit bei Bergung durch Kameraden dreimal so hoch wie bei einer späteren Bergung durch organisierte Rettungsteams. Für alle Wintersportler bedeutet dies, dass sie bei einer Lawine sofort handeln müssen.

Wer einen Lawinenverschütteten selbst retten kann, hat weitaus bessere Chancen, diesen lebend zu bergen, als wenn er auf die Ankunft der Rettungskräfte warten muss. Es ist daher unerlässlich, dass Wintersportler stets die notwendigen Fähigkeiten zur Kameradenrettung beherrschen und mit der richtigen Ausrüstung ausgestattet sind.

Illustration Bergsilouette

Prävention und Schulung: der Schlüssel zum Erfolg

Neben der Bedeutung der schnellen Rettung ist auch die präventive Arbeit entscheidend. Diese umfasst sowohl die Informationen der Lawinenwarnsysteme als auch die Ausbildung und Schulung von Tourengehern und Rettungskräften inklusive Training in Lawinenrettung und Erster Hilfe als unverzichtbarer Teil der Vorbereitung auf den Wintersport.

Chinlift-Manöver

Hintergrundartikel: Notfall Alpin – Ablaufschema Lawinenverschüttung. Ein übersichtlicher Fahrplan, das die relevanten Handlungen und Weichenstellungen zusammenfasst

Heute führen fast alle Tourengeher Lawinenverschüttetensuchgeräte mit, die das Auffinden von Verschütteten erheblich erleichtern. Die Weiterentwicklung dieser Geräte hat dazu beigetragen, dass die Zahl der Toten bei kritischer Lawinenverschüttung im Vergleich zu früheren Jahren stark gesenkt werden konnte.

Interessanterweise fällt die Zunahme der Überlebensrate hauptsächlich in die Dekade zwischen 1990 und 2000, also in die Zeit, in der die Alarmierung durch Mobiltelefone beschleunigt und effizientere Lawinenverschüttetensuchgeräte entwickelt wurden.

Seitdem ist die Überlebensrate konstant geblieben, was darauf hinweist, dass es seitdem nicht mehr gelungen ist, die Dauer einer kritischen Lawinenverschüttung weiter zu verringern. Inzwischen wurden zusätzliche Rettungsgeräte entwickelt, welche das Überleben während einer kritischen Verschüttung verlängern können (z. B. AvaLung, Airsafe, Safeback).

Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Ausmaß sich diese Ausrüstungen in Zukunft auf das Überleben auswirken. Auftriebssysteme wie der Lawinen-Airbag wurden in dieser Studie nicht untersucht, haben aber die Zahl der kritischen Verschüttungen deutlich verringert, wie andere Studien bereits gezeigt haben.

Fazit: Der Kampf gegen den Schnee bleibt hart

Insgesamt zeigt die Studie eine positive Entwicklung bei der Rettung von Lawinenverschütteten. Die Überlebensrate bei kritischer Verschüttung hat sich erhöht, die Verschüttungsdauer ist gesenkt worden und es gibt Fortschritte in der Langzeitüberlebensrate.

Dennoch bleibt die Lawinenverschüttung ein lebensbedrohliches Risiko, das immer noch extrem hohe Anforderungen an die schnelle und kompetente Reaktion der Beteiligten stellt. Die Rolle der modernen Rettungstechnik, gut ausgebildeter Rettungskräfte und vor allem der Kameradenrettung wird daher auch in den kommenden Jahren von herausragender Bedeutung sein.

Die wichtigste Erkenntnis lautet: Jeder Wintersportler sollte sich bewusst sein, dass es entscheidend sein kann, sich für die Lawinensicherheit zu schulen, die richtige Ausrüstung zu tragen und vor allem zu wissen, dass in den ersten Minuten nach einer Lawine jede Sekunde zählt.

Die Kameradenrettung bleibt der Schlüssel zum Überleben.

Bergsport und Gesundheit, #11

Diese Serie organisieren und betreuen Dr. Nicole Slupetzky (Vizepräsidentin des ÖAV und Präsidentin des Clubs Arc Alpin) und Prof. Dr. Marc Moritz Berger (Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Essen, Deutschland; Präsidiumsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin). Der Experte für Prävention und Therapie der akuten Höhenkrankheiten und für alpine Notfallmedizin ist Mitinitiator des Symposiums für Alpin- und Höhenmedizin Salzburg, das gemeinsam mit dem Österreichischen Alpenverein organisiert wird.

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Hier geht’s zum vorherigen Artikel aus der Serie Gesundheit und Bergsport.


Originalstudie

Rauch S., Brugger H., Falk M., et al. Avalanche Survival Rates in Switzerland, 1981-2020. JAMA Netw Open. 2024;7(9):e2435253. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.35253

Weitere Autoren

  • Benjamin Zweifel ist Lawinenprognostiker am SLF Davos und Experte für Lawinenunfälle. Gleichzeitig ist er begeisterter Freerider und Tourenfahrer.
  • Giacomo Strapazzon, Arzt und Forscher sowie Leiter des Instituts für alpine Notfallmedizin bei Eurac Research in Bozen, Italien. Er ist Präsident der Società Italiana di Medicina di Montagna (SIMeM) und arbeitet im Corpo Nazionale del Soccorso Alpino e Speleologi co (CNSAS). Zudem ist er delegierter Teilnehmer der International Commission for Alpine Rescue. In seiner Freizeit fährt er leidenschaftlich gerne Freeride und Tourenski.
  • Roland Albrecht ist Anästhesist, Intensiv- und Notfallmediziner. Er ist sowohl bei der schweizerischen Rettungsflugwacht Rega als auch bei der alpinen Rettung Schweiz der Ärztliche Leiter und arbeitet am Kantonsspital St. Gallen. Zusätzlich ist er Wissenschaftler an der Uni Bern.
  • Urs Pietsch ist Anästhesist, Intensiv- und Notfallmediziner am Kantonsspital St. Gallen, Schweiz, Wissenschaftler an der Uni Bern sowie bei der schweizerischen Rettungsflugwacht Rega. Er ist als aktiver Notarzt bei der Air Zermatt bei zahlreichen Lawineneinsätzen involviert gewesen.

Erschienen in der Ausgabe #130 (Frühling 25)

Cover bergundsteigen #130: Fomo.