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23. Mrz 2020 - 5 min Lesezeit

COVID-19 #4: Stefan Steinegger, AVS

„Bergsteigen ist eine Freizeitaktivität, die für die meisten von uns zum selbstverständlichen Luxus geworden ist.“

Stefan Steinegger arbeitet beim Alpenverein Südtirol (AVS) im Referat Bergsport & HG und ist im Redaktionsbeirat von bergundsteigen. Er hat uns in den letzten Tagen und Wochen über die Situation in Italien sowie die Stimmung unter den Bergsteigerinnen auf dem Laufenden gehalten und uns über die Empfehlungen der Bergrettung Südtirol und des AVS informiert.

Gestern hat er uns ein Update von seinem Zuhause in Tramin im Südtiroler Unterland gegeben:

Aussicht vom AVS-Büro in Bozen vor dem Shutdown in Richtung Norden – kein einziger Kondensstreifen am Himmel. Foto: Archiv Steinegger

Stefan, was hat sich in den letzten Tagen bei dir getan?

Kurzfristig hatten wir Mitarbeiter am Dienstag, den 10. März, eine Teamsitzung im AVS-Büro und besprachen gemeinsam die aktuelle Situation aufgrund der neuen Verordnungen. Bis dahin änderte sich fast täglich das entsprechende Dekret zur Eindämmung der Corona-Krise; auch seit heute (22. März) gibt es erneute Einschränkungen, neue Verbote.

Ich arbeite nun seit einer guten Woche – wie viele andere auch – von zu Hause aus, was bei meinem Job gut geht, da ohnehin sehr viel Organisatorisches und Redaktionelles für den Alpenverein zu erledigen ist. Meine Frau unterrichtet täglich unsere drei Jungs, die seit 5. März keine Schule mehr haben, dafür aber jede Menge Hausaufgaben und Lehrmaterial.

Die ganze letzte Woche war strahlend schönes Wetter, Frühling eben. Ich vermisse schon die unzähligen Kondensstreifen der Linienflugzeuge, die normalerweise den Himmel säumen. Es ist ruhiger geworden, auf der Autobahn ebenso wie am Himmel.

Tägliche Schulstunden zu Hause. Foto: Archiv Steinegger

Wie gehst du mit den Bewegungseinschränkungen um?

So oft es geht, sind wir als Familie im Freien. Ich habe fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich das hier schreibe, aber wir haben das Glück, außerhalb des Dorfes am Waldrand zu wohnen und können uns bewegen, ohne anderen Menschen zu begegnen. Was man darf und was nicht, ist zwar mit heute erneut schärfer geregelt, aber es gilt, mit Hausverstand durchs Leben zu gehen.

Dennoch ist der Wandel der Gesellschaft schnell erfolgt. Einzelne Bekannte oder Pärchen trifft man zwar immer wieder im Wald – gut, dass sich auch andere etwas Bewegung verschaffen –, doch Gespräche finden nur mit großem Abstand statt, als wäre es normal, mehrere Meter Entfernung voneinander zu haben.

Heute ist ein regnerischer Sonntag; wir sind zu Hause. Mal schauen, wie lange es mit den drei Jungs gut geht, bevor wir den Fernseher einschalten müssen, damit sie nicht die ganze Bude auf den Kopf stellen. An solchen Momenten denke ich oft daran, wie andere Familien diese Zeit überstehen, die in einer Stadt im 5. Stock leben und wirklich in der Wohnung bleiben müssen – seit zwei Wochen, bei jedem Wetter …

Meine Familie beim Mittagessen in unserem Kräutergarten – auf 700 Metern im Wald sind wir von früh bis abends allein. Foto: Archiv Steinegger

Was habt ihr den Bergsteigerinnen empfohlen?

Zweimal bereits hatten wir als Alpenverein Südtirol gemeinsam mit den Bergrettungsdiensten daran appelliert, auf Berg- und Skitouren zu verzichten. Das zweite Mal sicher umsonst, da Bergsteigen in Südtirol nun wirklich für alle in den Hintergrund gerückt ist. Bergführer sitzen zu Hause herum, Kletterhallen haben geschlossen und meine Kletterfreunde hängen am Fingerboard, während die Skitourengeher vom Fenster auf die verschneiten Gipfel schauen und träumen.

Bergsteigen ist eine Freizeitaktivität, die für die meisten von uns zum selbstverständlichen Luxus geworden ist. Genau deswegen müssen wir jetzt akzeptieren, dass in Notzeiten darauf als Erstes verzichtet werden kann. Aber wenn wieder eine Normalität zurückgekehrt ist, dann sind die Berge immer noch da: Bergführer werden wieder Arbeit haben und die Mitglieder der Alpenvereine und alle anderen Bergsteiger werden wieder unterwegs sein. Vielleicht begegnen wir dann unseren Bergen mit mehr Ehrfurcht und Respekt und schätzen aufs Neue, wie gut es uns als Bewohner der Alpen geht.

Möchtest du sonst noch etwas loswerden?

Verfolgt man die Medien in Österreich, Deutschland und der Schweiz, so erkennt man schnell, dass diese Länder nur etwas hinterherhinken, aber sich vieles wiederholt, was in Italien seit zwei Wochen „Normalität“ ist. Bei uns sind vor allem jene Gebiete massiv betroffen, wo durch den Tourismus ein reger internationaler „Austausch“ möglich war. Hier in Tramin gibt es bis heute keinen positiv getesteten Fall; wobei es natürlich schwer ist, abzuschätzen, wer infiziert ist, vielleicht hatten wir es ja alle schon …

Das Virus und dessen schlimme Auswirkungen sind zwar medial das einzige Thema, doch es scheint hier alles weit weg, ich kenne persönlich niemanden, der infiziert ist – es scheint, als wenn es mich und meine Familie nicht direkt betreffen würde.

Doch dieser Schein trügt, wir alle sind betroffen: von den Bewegungseinschränkungen, dem wirtschaftlichen Stillstand, der Schließung der Schulen, dem Fehlen des gesellschaftlichen Dorflebens. Noch vor einem Monat in der Fasnacht-Zeit haben wir unbekümmert gemeinsam gefeiert, gesungen und gelacht, vor zwei Wochen waren wir noch zum Skifahren und saßen zu Mittag mit drei anderen „fremden“ Familien an einem Tisch …

Aus Respekt gegenüber unserer ganzen Gesellschaft und den Risikogruppen halten wir uns aber alle an die aktuellen gesetzlichen Vorgaben, auch wenn es schwerfällt. Das Schlimme daran ist, dass man noch nicht genau weiß, wann ein Ende in Sicht ist. Noch gibt es keinen Stichtag, an dem man endlich wieder rauf auf die Berg’ darf, an dem man wieder seinem Bewegungsdrang freien Lauf lassen kann, die Schulen, Gasthäuser, Geschäfte und Hotels öffnen und an dem man wieder seiner gewohnten Arbeit nachgehen kann.

Ohne diesen Stichtag sind die Corona-Einschränkungen Tag für Tag schwerer einzuhalten. Doch so wie aktuell Hashtags wie #zommholtn, #alleswirdgut oder #ichbleibezuhause uns motivieren, nach vorne zu schauen und durchzuhalten, so werden wir gemeinsam auch diese Krise, diesen Stillstand überstehen.

Geburtstagsfeier meines ältesten Sohnes – schlicht und einfach mit der Familie, aber mit dem Versprechen, wenn alles vorbei ist, eine Feier mit seinen Freunden nachzuholen. Foto: Archiv Steinegger