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Seilschaft_Gemeinsam_ein_Ziel_erreichen
von Andi Dick
05. Dez 2021 - 9 min Lesezeit

Die Seilschaft: notwendiges Übel, Hölle zu zweit oder Team fürs Glück?

Sobald es für solo zu schwer wird oder man sich alleine langweilt, braucht man einen Seilpartner (mwd). Und als ob's nicht schwierig genug wäre, am Berg mit seinen eigenen Wünschen und Erwartungen, Ängsten und Schwächen zurecht zu kommen, muss man sich jetzt noch mit jemandem abstimmen. Das geht nicht von selbst gut – aber wenn's klappt, kann die Seilschaft mehr als die Summe ihrer Teile sein. Andi Dick skizziert Konstellationen und gibt Tipps für die Praxis.

Eine der berühmtesten Seilschaften der Alpingeschichte – und gleichzeitig ihr Negativ-Ideal – war die von Edward Whymper bei der Erstbesteigung des Matterhorns: Eine recht zufällig zusammengewürfelte Zweckgemeinschaft von „Herren“ und Führern, mit einem sehr schwachen Mitglied und einem höchst ehrgeizigen Anführer. Vieles spricht für die These, dass sich Whymper beim letzten Anstieg vom Seil losschnitt, um als Erster der Gruppe seinen Lebenstraum-Gipfel zu erreichen; für den Abstieg musste dann ein dünnerer Strick verwendet werden, der riss, als die unteren vier des Teams ins Stürzen kamen – mit der allgemein bekannten tödlichen Folge (natürlich könnte man auch sagen: Dank dünnen Seils mit reduzierter Folge).

Eine Seilschaft nur als Mittel zum Zweck für ein schwieriges Ziel: Das kann durchaus ok sein. Fraglich ist dann allerdings, ob dieses Bündnis sich auch bei Widrigkeiten bewährt, wenn Verantwortung und Einsatz füreinander gefragt sind. Wie damals am Eiger, wo das Dreamteam Anderl Heckmair und Wiggerl Vörg den durchaus fitten Fritz Kasparek und den wohl stark geforderten und suboptimal ausgerüsteten (keine Steigeisen!) Heinrich Harrer mitnahm und der Anderl die Gruppe durch Wettersturz und Lawinen zum Gipfel hinaufbrachte.

Sind es dagegen mehr als bloße Seil-Partner, sind es Freunde, die sich per Seil verbinden, die sich vertrauen und unterstützen: Dann können beide sich persönlich entwickeln und als Team wachsen, oft über Grenzen hinaus – wie etwa Steve House und Vince Anderson in der Rupalflanke des Nanga Parbat, der vielleicht großartigsten Leistung einer Seilschaft im heutigen Bergsteigen.

Verantwortung, Vertrauen, Entwicklung: Das sind Werte, die wir im gemeinsamen Unterwegssein als Seilschaft erfahren können, über die bloße bergsportliche Aufgabe hinaus. Etwas weniger pathetisch gesagt, und ein bisschen schlichter hingeschaut: raufkommen – und Spaß haben dabei. Aber das Raufkommen steht natürlich meist zuerst mal im Vordergrund.

Seilschaft_Verantwortung
Verantwortung

Die Seilschaft als Problemlöse-Gemeinschaft

Für die Seilschaft in ihrer Funktion als Problemlöse-Gemeinschaft gibt es unterschiedliche Prinzipien der Aufgabenverteilung. Oft nehmen wir diese Strukturen nicht wahr, weil sie sich unbewusst etablieren; die Beziehung kann sich auch ändern, je nach Situation. Deshalb sind die folgenden Typisierungen als abstrakte Idealisierungen zu verstehen. Und die psychologischen Wirkungen als Potenziale, die sich je nach Persönlichkeit unterschiedlich stark realisieren können.

  1. Die Seilschaft auf Augenhöhe
    Sie ist das, was man sich als Normalfall wünscht oder zumindest vorstellt: Zwei Menschen mit ungefähr gleicher Leistungsfähigkeit, Erfahrung und Einstellung bilden ein Team. Sie besprechen gemeinsam Taktik und Risikomanagement, teilen sich Gepäck und Spurarbeit, steigen im Wechsel vor. Mal mag der eine besser drauf sein, mal die andere eine Stelle schneller in den Griff kriegen – unter dem Strich ist die Leistungsbilanz ausgewogen. Auch für Lebens-Partnerschaften ein schönes Ideal: Jeder trägt den gleichen Teil fürs Team bei, darf stolz darauf sein und den Partner dafür würdigen.
  2. Du-Voraus-Garantie (DVG)
    Den Begriff hat ein befreundetes Paar erfunden, bei denen sie einen Tick schwerer klettern kann, er aber meist die besseren Nerven hat. Beide steigen ihren Teil vor – doch wenn es ihr zu haarig wird, darf er das machen. Auch bei Seilschaften auf Augenhöhe kann einer der Joker für die Technolängen sein, der andere fürs steile Eis, so wie im Urlaub ich gerne koche, wenn der Partner abspült. Findet man derartigen Ausgleich, ist das Team wieder ausgewogen. Tendenziell aber bleibt beim „Garantie-Vorsteiger“ mehr Verantwortung hängen, kann eine leichte Schieflage entstehen.
  3. Der Dauer-Vorsteiger
    Natürlich kann es auch die Frau sein, die definitiv stärker klettert, während der nachsteigende Mann sich eher bei Anfahrt und Einparken selbstverwirklicht. Die Dauer-Vorsteiger-Situation kann sich ergeben bei zwei Menschen unterschiedlicher Leistungsstärke, die aber gerne miteinander unterwegs sind; sie kann sich auch in Notsituationen aus Augenhöhe- oder DVG-Teams entwickeln, wenn der oder die etwas bessere das Heft an sich reißt (s. Heckmair) oder wenn sich einer verletzt. Wie ich als Nachsteiger die Tour für mich werte? Wahrscheinlich weniger hoch als wenn ich mich relevant mit eingebracht habe. Ein schönes Berg-, Bewegungs- oder Teamerlebnis kann es trotzdem sein. Und statt als Leistungs- kann ich mich auch als Bedenkenträger profilieren – netter gesagt: Strategisches (Planung, Risikomanagement) und Operatives (Raufmachen) müssen nicht von ein und derselben Person geleistet werden.

Das Konstrukt hat zwei Sonderfälle:

  • den gekauften Vorsteiger, also etwa eine Bergführerin, die Organisation, Taktikplanung und Führung komplett übernimmt – dabei aber durchaus ihren Gast in Richtung Selbständigkeit coachen kann
  • und den verpflichteten Nachsteiger, im Extremfall als „Sicherungsbunny“ mitgeführt. Wenn ein Profi eine schwere Mehrseillängenroute durchsteigen will, geht es ausschließlich um seine Vorstiegsleistung, der Partner wird zum Ermöglicher und Unterstützer, dessen Leistung keine Rolle spielt.

Wie angedeutet, sind die Übergänge zwischen den Idealformen fließend und werden sich sinnvollerweise oft flexibel der Situation anpassen. Vom Augenhöhe-Team bei gut beherrschten Aufgaben hin zu hierarchischeren Aufteilungen, wenn es heikel wird: unerwartete Schwierigkeiten, schlechtes Wetter, Unfall oder „Schwächeln“. Klar ist aber auch, dass die psychologischen Wirkungen den Spaß am gemeinsamen Unterwegssein beeinflussen. Wie man damit als Team umgeht, kann wiederum von Rollen-Konstellationen abhängen.

Seilschaft_Vertrauen
Vertrauen

Emotionale Konstellationen in der Seilschaft

Denn nicht nur, wie viel ich zum Erfolg der Seilschaft beitrage, ist ein emotionaler Faktor – die Umgebung, die Gefahr, Anstrengung und Widrigkeiten tragen dazu bei, dass wir fluchen, weinen, brüllen, bibbern. Die Ausnahmesituation „Berg“ macht die Haut dünn, Emotionen kommen leicht an die Oberfläche. Wie es der deutsche Bergsteiger Mani Sturm über die Beziehung zu seiner Frau Christa geschrieben hat: „Wir kannten nicht nur unser Sonntagnachmittagausgehgesicht, sondern auch unsere ungeschminkte Seele.“

Natürlich sind starke Gefühle nicht nur zwischen Eheleuten oder zwischen Mann und Frau möglich. Und „männliche“ oder „weibliche“ Rollen gelten in der Genderdiskussion als überholte Klischees – Sklaven solcher Rollenerwartungen sind wir gewiss nicht. Dennoch eignen sich die Stereotype, um mögliche Probleme der Rollen-Konstellationen zu skizzieren. Um klarzustellen, dass hier nicht das biologische Geschlecht gemeint ist, verwende ich englische Begriffe.

1) „double male“: Männer unter sich

  • Sie dürfen, ja sie sollen stark sein -> das kann aber zum Wettbewerb ausarten.
  • Ehrgeiz ist anerkannt -> kann aber zu überhöhtem Risiko führen.
  • Sie pushen sich gerne gegenseitig -> aus Unterstützung kann aber Provokation oder Überforderung werden.
  • Und sie brauchen nicht viel reden, um sich wohl zu fühlen -> reden aber vielleicht auch dann nicht, wenn sie sich unwohl fühlen und besser darüber reden sollten.

2) „double female“: Frauen miteinander

  • Sie reden leichter über Gefühle und Ängste -> drehen deshalb aber vielleicht auch mal zu schnell um oder sind generell zu defensiv, schöpfen ihr Potenzial nicht aus.
  • Sie müssen, unter Frauen, keinem Mann etwas beweisen -> „… nur dieser dummen Zicke!“
  • – Es gibt im Frauenteam keinen Stress mit Männern -> erst im Tal, wenn der Begriff „Ausspannen“ manchmal nicht im Sinn von Chillen interpretiert wird, sondern auf den Freund der Partnerin Bezug nimmt (soll allerdings auch in der „male“-Rolle vorkommen …).

3) „male+female“: Im gemischten Team

können Gender-Klischees sich ergänzen – oder zu Problemen führen. Der unhinterfragbare Dauervorsteiger oder der paternalisierende Beta-Zutexter sind nur zwei typische Beispiele, wie Männer Frauen in Seilschaften dominieren und ihre Entwicklung behindern können.

  • Er ist der Held, sie ist sein Schützling -> oder: Er übernimmt sich, sie bleibt schwach
  • Er hat das Ziel im Fokus, sie checkt das Risiko -> oder: Er pusht zu viel, sie bremst zu stark

4) „male+female+eros“:

Wenn die Seil-Partnerschaft auch die Stunden abseits des Bergsports umfasst, verlieren immerhin Regentage ihren Schrecken (solange man überhaupt noch zum Klettern kommt). In der Flirtphase mag das Bedürfnis, den erhofften Partner zu beeindrucken, zu Hochleistungen motivieren – oder aber dazu, Dinge dem anderen zuliebe zu tun und Bedürfnisse und Ängste zu ignorieren. Ist man länger ein Paar, können sich schlechte Gewohnheiten festfressen, und die intensive Nähe senkt oft die Höflichkeitsschwelle. Beim Partner, mit dem man ein Leben verbringen will, summieren sich die kleinen Fehlerchen ins schwer Erträgliche, und leicht fordert man ein übertriebenes Maß an Perfektion ein, weil man ihn ja nicht wie einen unkompetenten oder unzuverlässigen Gelegenheitspartner in die Wüste schicken kann.

Zu schade, dass oft gerade bei Paar-Seilschaften der Segen schiefhängt – sind sie doch primär aus dem Wunsch gebildet, gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen. Natürlich sei Paartherapeuten ihre Berufsperspektive gegönnt. Aber zumindest die gemeinsame Freizeit soll die Partnerschaft nicht ins Wackeln bringen. Dazu helfen ein paar Leitsätze, die wir verinnerlichen können – und dann können wir daran arbeiten, sie zu leben. Das geht nicht von heute auf morgen, aber es geht.

Bedingungen für eine gute (Seil-)Partnerschaft sind:

  1. klare und pragmatische Kommunikation.
  2. Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit.
  3. Sich gegenseitig motivieren.

Zu jeder gemeinsamen Unternehmung gehört neben der klassischen Tourenplanung und der Absprache des Risikokonzeptes auch die Klärung der individuellen Erwartungen: Was will ich? Leistung/Erfolg/Erlebnis/Erholung/Gemeinsamkeit? Die Erwartungen des Partners nimmt man respektierend zur Kenntnis, dann bemühen sich beide, die womöglich unterschiedlichen Ideen unter einen guten Hut zu bringen. In der anschließenden realen Situation haben beide diese Absprache im Hinterkopf und versuchen wahrzunehmen und gegenzusteuern, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Eine Manöverkritik hinterher, die die Frage fokussiert, wie der Kritikpunkt hätte vermieden werden können, lässt beide für die Zukunft lernen.

Seilschaft_Team
Team

Hat die Seilschaft Zukunft?

Diese Frage scheint berechtigt, wenn das einsame Gipfelselfie mehr zählt als die Umarmung. Wenn der Halbautomat jeden Sicherungspartner recht erscheinen lässt – bei Fehlern gibt’s ja Rechtsanwälte. Und wenn das Sicherungsbunny mit dem speckig-staubigen Bunnyclimb in der Efeuzone abgespeist wird. Bahn frei dem Egoismus?

Nein! Ich bin überzeugt, dass diese Aussagen überspitzt sind. Dass die meisten Seilschaften und Bergpartnerschaften mehr sind als ein Mittel zum Erreichen des vereinbarten Zwecks. Diese eigene Erfahrung wird durch Aussagen von Freunden gestützt: Es kann wichtiger sein, mit wem ich unterwegs bin, als welche Tour wir dann gemeinsam machen – der „gemeinsame Weg“ ist das Ziel, eine gute Zeit mit einem vertrauten Menschen und einer passenden Aufgabe.

Aber dass eine Seilschaft funktioniert, ist kein Selbstläufer. Ich muss die Fallen kennen, in die ich dann hoffentlich nicht mehr tappe. Ich sollte die Maßnahmen anwenden, die zu einem besseren Miteinander führen. Ich darf mich öffnen und Offenheit annehmen. Dann kann ich persönlich wachsen, und mein Partner, meine Partnerin genauso. Und der Gipfel ist nur noch der Bonus.

Erschienen in der
Ausgabe #116 (Herbst 21)

bergundsteigen 116 (herbst 2021) cover