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Wenig Sicht, viel Luft für Interpretation. Foto: Rabea Zühlke
26. Jun 2023 - 4 min Lesezeit

Verhauer: Vom Einsteigen in eine falsche Route

Beim Bergsteigen passieren ständig Fehler, die beinahe zu Unfällen führen. Niemand spricht gerne darüber. Wir schon! Diesmal: Rabea Zühlke über das Schönreden von Topos.

Die Fähigkeit, sich die Realität schönzureden, erleichtert uns das Leben. Sie erspart uns die Auseinandersetzung mit Problemen, verhindert ein emotionales Ungleichgewicht, negative Gefühle und schützt unsere Psyche. Klingt zunächst positiv, ist aber am Ende doch nicht so simpel – im Alltag wie beim Bergsteigen. 

Wenig Sicht, viel Luft für Interpretation. Foto: Rabea Zühlke
Wenig Sicht, viel Luft für Interpretation. Foto: Rabea Zühlke

Wie schnell man sich beim Klettern selbst belügen kann und wie stark man an einer falschen Überzeugung festhält, habe ich vor rund fünf Jahren erlebt. Nach gründlicher Recherche suchen meine Kletterpartnerin und ich eine Mehrseillängenroute im Massiv der Aiguilles Rouges oberhalb von Chamonix. Über den Süd-Südostgrat wollen wir auf die Aiguille de la Glière (2852 m): zwölf Seillängen, 400 Meter, gebohrte Stände, meist um 4c/5a, die Schlüsselstelle ist mit 6a bewertet. 

Der graue Schleier

Als wir aus dem Sessellift am l’Index aussteigen, zieht ein dichter Nebel ein. Wir queren nach Westen in Richtung unserer Route, die in rund 45 Minuten problemlos erreicht werden sollte. Wenige Minuten später hat der Nebel uns vollständig eingehüllt. Ein paar Granitzacken blitzen in den Himmel, darunter ist alles von einem grauen Schleier umgeben. Wir sind verunsichert, verlieren Zeit – und Zeitgefühl. Irgendwann erkennen wir eine Seilschaft am Wandfuß. Wir folgen ihnen und stehen unter einer markanten Einstiegsverschneidung. Passt laut Topo – denken wir zumindest. 

Gefährlich wird es also, wenn wir unbedingt eine Route klettern möchten – und nicht mehr offen für Informationen sind, die uns zum Umkehren zwingen würden. 

Die zweite Seillänge soll über eine weitere schöne Verschneidung auf den Grat führen, danach geht es in leichter Kletterei über den Grat – passt ebenfalls. Was allerdings nicht mehr stimmig ist: die Seillängen, die Standplätze, die Querungen genauso wie die markante „Passage du rasoir“, eine steile zu querende Platte. Dass wir falsch sein könnten, kommt uns trotzdem nicht in den Sinn. Vielleicht sind wir einfach schnell – oder das Topo nicht korrekt gezeichnet.

Die zwei Gipfel auf der Karte. Screenshot: alpenvereinaktiv.com

Nach wenigen Seillängen stehen wir an der Schlüsselstelle, so unsere Interpretation: Eine glatte Kante der Chapelle führt zur Gipfelnadel hinauf. Meine Kletterpartnerin steigt vor, ich stehe am Grat und rede ihr gut zu. Nach mehrfachen Versuchen, eine senkrechte Platte zu klettern, schaut sie mich an: Das könne sie nicht klettern. Kurz lichtet sich der Nebel und wir sehen die vorherige Seilschaft östlich von uns beim Abseilen. Nach einigem Hin und Her queren wir schließlich unterhalb der „Gipfelnadel“ und erreichen den Abseilstand, wo sich der Bergführer mit seinem Gast zum Abseilen bereit macht.  

Jetzt können wir es nicht mehr leugnen, wir sind in einer falschen Route.

Falsches Topo, falsche Tour - schöne Route. Foto: Rabea Zühlke
Aus Versehen im Südostgrat der Aiguille d’Index. Foto: Rabea Zühlke

Jetzt können wir es nicht mehr leugnen: Wir sind in einer falschen Route. Statt in den Südostgrat der Aiguille de la Glière sind wir unwissentlich in den Südostgrat der Aiguille de l’Index (2595 m) eingestiegen. Wir hatten mehr Glück als Verstand: Die Route war leichter, kürzer und der Abstieg über eine Abseilstelle auch bei kaum Sicht gut machbar. Natürlich hätte es auch anders kommen können: Eine Route, deren Schwierigkeiten wir beide nicht gewachsen gewesen wären, die sich logischerweise bei einer Gratkletterei nicht zum Abseilen geeignet hätte oder deren Abstieg weitaus komplizierter gewesen wäre. 

Im Nachhinein haben wir uns oft gefragt, warum wir uns so lange bestätigt gefühlt haben – obwohl wir offensichtlich an einem anderen Grat und in einer anderen Tour unterwegs waren. Zwei Theorien sind wir aus meinem Psychologie-Studium eingefallen, die uns sicher alle unbewusst das eine oder andere Mal beeinflusst haben.

Warum wir uns selbst belügen

Die kognitive Dissonanz ist eine von Leon Festinger (1957) entwickelte Theorie, die – vereinfacht ausgedrückt – davon ausgeht, dass Personen unangenehme Spannungszustände (Dissonanz) vermeiden. Eine solche Dissonanz entsteht, wenn zwei Kognitionen (z.B. Überzeugungen oder Wertvorstellungen) im Widerspruch zueinander stehen – oder aber wenn Kognitionen und Handlungen nicht miteinander vereinbar sind.

Nach Festinger strebt der Mensch stets nach einem Gleichgewicht bzw. nach einer Widerspruchsfreiheit und möchte so zwingend diesen unangenehmen Zustand (Dissonanz) reduzieren. Während eine Verhaltensänderung mit vergleichsweise hohem Aufwand verbunden ist, wählen wir zur Spannungsreduktion häufig oft andere Maßnahmen wie Einstellungsänderungen oder das Hinzufügen neuer Kognitionen. 

Der Vater aller Denkfehler

Eine Maßnahme, den unangenehmen Spannungszustand (Dissonanz) aufzulösen oder zu verringern, beschreibt die gezielte Informationssuche: Menschen suchen nach Informationen, welche die getroffene Entscheidung richtig erscheinen lässt. Gegenteilige Informationen, die nicht zu der bestehenden Meinung passen, werden ignoriert oder abgewertet, um die kognitive Dissonanz zu verringern.

So haben meine Kletterpartnerin und ich beispielsweise alle Fels-Informationen, die zufällig mit dem Topo einhergehen, als „wichtigere“ Informationsquelle bewertet als gegenteilige Hinweise. Dieses Phänomen der kognitiven Verzerrung, im Fachjargon Confirmation Bias genannt, wurde in den 1960er Jahren von dem Psychologen Peter Wason erstmals untersucht. 

Karte zur Verortung: Alpintour in der Nähe des Verhauers

via alpenvereinaktiv.com