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kühler Kopf, heißes Herz
von Tom Dauer
24. Mai 2022 - 6 min Lesezeit

Kühler Kopf, heißes Herz

Kälte ist ein Zustand niedriger Temperatur. Warum wir sie immer wieder suchen, erdulden, genießen hat auch mit anderen Formen von Kälte zu tun – die uns von innen als Coolness, von außen als gesellschaftliches Phänomen ergreifen. Um nicht zu erstarren, sollten wir uns daher mit heißem Herzen wappnen.

Wir frösteln – mal mehr, mal weniger.

Dreierlei Kälten lassen Bergsteiger, mal mehr, mal weniger, frösteln. In den Tälern und Ebenen, in Straßenschluchten, Gewerbegebieten, Bürokomplexen und manchmal auch im Home-office schaudert uns im „eisigen Wind der Entfremdung“ (Ulf Poschardt), der das moderne Leben durchweht. Auch um ihm den Rücken zu kehren, suchen wir die Berge auf, obwohl es alle 100 Höhenmeter, die wir aufsteigen, gut ein Grad kälter wird. Das ist real und messbar, weshalb wir Höhe und Kälte assoziieren, auch wenn wir in mancher Südwand einen Sonnenbrand erleiden. Kalten und heißen Widrigkeiten zum Trotz bewegen wir uns im Hochgebirge gekonnt, gelassen und grazil, meistens jedenfalls. Womit wir seinen Gefahren mit einer Haltung begegnen, die man „cool“ nennen könnte.

… uns schaudert im „eisigen Wind der Entfremdung“.

Ulf Poschardt

Kälte also allenthalben: als Ergebnis sozialer Abkühlungsprozesse, als vom Luftdruck abhängiges molekulares Verhalten, als sportlich-abenteuerliche Flucht vor Ratio- und Funktionalismus. Keines dieser Phänomene steht für sich allein. Im Gegenteil, gesellschaftliche, naturwissenschaftliche und individuelle Aspekte von Kälte vermengen und bedingen sich. So konnte unlängst nachgewiesen werden, dass Menschen, die einer „frostigen Atmosphäre“ oder „eisigen Blicken“ ausgesetzt sind, also unter Einsamkeit und Ablehnung leiden, ihre Umgebungstemperatur niedriger wahrnehmen als Menschen, die sich integriert und geborgen fühlen.

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Illustration: Lisa Manneh

Vermutlich zeigt die alpine Geschichte nicht umsonst, dass es oft Einzelgänger und Außenseiter – positiv gewendet: freie Geister – waren, die in kältere und dünnere Luft aufbrachen, um sich nach erfolgreicher Rückkehr im Licht öffentlicher Aufmerksamkeit innerlich wie äußerlich aufzuwärmen. Dass die Entwicklung des Alpinismus ebenso wie die Erforschung der Polarkappen „synchron zu den Erkaltungstendenzen der Zivilisation“ (Ulf Poschardt) stattfand, ist jedenfalls kein Zufall. Sowohl der Beginn der Industrialisierung als auch das „Goldene Zeitalter des Alpinismus“, in dem wagemutige Pioniere auf hohen Gipfeln zitterten, siedeln zeitlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Das (thermische) Wagnis.

Im selben Maße, in dem familiäre, soziale und religiöse Auffangnetze porös wurden, entflohen diejenigen, die es sich leisten konnten, den frostigen Begleiterscheinungen der Moderne auf Ausflügen in gebirgige Wildnis. Dem Eingefrorensein in gesellschaftlichen Zuständen und Zumutungen, seiner persönlichen Kältekammer entkam und entkommt der Mensch, indem er sich aufwärts bewegt, dabei Energie verbraucht und Wärme produziert. Für das seelische Wohlbefinden, bildhaft gesprochen. Aber auch ganz konkret – um einer Vasokonstriktion, Gefäßverengung, entgegenzuwirken, mit der Gehirn und Körper auf drohende Unterkühlung reagieren. Denn der Aufbruch in Höhe und Kälte ist auch ein thermisches Wagnis, das mit erfrorenen Zehen und Fingern enden kann.

Wohin wir wollen.

Dass die Privilegierten unter uns überhaupt einen Anspruch auf individuelle Freiheiten geltend machen können – unter anderem auf die Hölderlin‘sche Freiheit, aufzubrechen, wohin wir wollen –, verdanken wir übrigens einer Kälteperiode. Wie der Historiker Philipp Blom überzeugend darstellt, durchlebte Europa während der Kleinen Eiszeit, die im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, „eine ungeheure soziale, wirtschaftliche und intellektuelle Revolution“. Ein durchschnittlicher Temperaturrückgang um zwei Grad Celsius hatte klimatische Kreisläufe gestört, die Ozeanströmungen umgewälzt, extreme Wetterereignisse verursacht und die Alpengletscher bis in die Täler vorstoßen lassen. Traditionen, Lebensweisen, Methoden der Landwirtschaft und des Handels, Glaubensinhalte, Denkarten und Weltsichten veränderten sich. Und am vorläufigen Ende dieser Entwicklung stand eine aufgeklärte Gesellschaft, in der jeder Einzelne es wagen durfte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Schatt(en)seite

Freilich hat diese Geschichte auch eine Schattenseite, in der heute ein nicht geringer Teil der Menschheit darbt und fröstelt. Der freie Markt, „die intellektuelle Sparversion der Ideale der Aufklärung“ (Philipp Blom), bringt leider nicht nur Sieger, sondern auch viele Besiegte hervor. Letztere, und von diesen gibt es immer mehr, werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Kälte greift die Menschen dort buchstäblich an: in Form von Geldmangel, schimmligen Schlafzimmerwänden, einseitiger Ernährung, Bewegungsarmut. Auf der sonnigen Seite der Gesellschaft dagegen übt die Religion des freien Marktes immer höheren Druck aus.

Der freie Markt, „die intellektuelle Sparversion der Ideale der Aufklärung“.

Philipp Blom

Wachstumsideologie, steigende Preise bei gleichbleibenden Löhnen, Konsumwünsche und eine gehörige Portion Gier zwingen die Menschen, stets produktiv und in Bewegung zu sein. Wie ein Gas, das komprimiert wird, überhitzt die Leistungsgesellschaft, weil ihre Humanmoleküle immer stärker aneinander reiben.

Abkühlung

Abkühlung – im Sinne von Erholung – findet der Mensch dort, wo es noch einigermaßen Platz gibt, wo er sich ausdehnen kann, in den Bergen zum Beispiel. Dort lässt der Großteil des Bürgertums fünfe gerade sein und chillt. Ein kleinerer Teil gibt sich dagegen cool und rebellisch – manche sind es wirklich, viele ahmen lediglich nach – und frönen einer Form des Individualismus, der sich in Selbststilisierung verfängt. „Die Ästhetik des „Cool“ (Ulf Poschardt) ist dabei gekennzeichnet von einer lässigen, spielerischen und zugleich souveränen Haltung, die sowohl Selbstkontrolle als auch Kontrolle über die jeweilige Situation ausdrückt, und sei diese noch so haarsträubend. Coolness impliziert aber nicht nur Selbstbestimmung, sondern auch eine gewisse emotionale Distanz zum eigenen Tun.

Hauptsache cool.

Die Hauptsache ist, cool auszusehen – auch wenn es kalt, brüchig, schwierig, steil und überhaupt sehr aufwühlend ist.

Die Bergbilderwelten, die millionenfach für soziale Medien hergestellt und von diesen verbreitet werden, sprechen Bände. Gefühle wie Angst, Schrecken, Schwindel, Unlust, Ernüchterung, Verzweiflung, Entsetzen, Traurigkeit finden darin kaum einen Ausdruck. Die Hauptsache ist, cool auszusehen – auch wenn es kalt, brüchig, schwierig, steil und überhaupt sehr aufwühlend ist. Wie lange die coole Pose, der Nordwandblick, ein aufgesetztes Lächeln das Bild des Bergsteigens noch prägen werden, wird sich in den kommenden Jahren zeigen.

kühler Kopf - heißes Herz - Illustration
Illustration: Lisa Manneh

Tatsächlich ändern sich die Bezüge zwischen Welt und Gegenwelt, zwischen Tal und Berg, Hitze und Kälte rasant. Ähnlich wie während der Kleinen Eiszeit steht unsere Gesellschaft angesichts des Klimawandels vor unabsehbaren Transformationen. Dies betrifft, für jedermann sichtbar, auch die Berge und damit einen Raum, der jahrhundertelang als starr und unveränderlich wahrgenommen wurde. Abschmelzende Gletscher, auftauender Permafrost und ausbleibende Schneefälle führen die herkömmliche Vorstellung ad absurdum – und es wird immer schwieriger werden, „in die Stille, in die Kälte, in das Eis“ (Christoph Ransmayr) zu entfliehen. Wer Erfrierungen erleidet, ist gut beraten, diese vorsichtig und langsam aufzutauen.

Plädoyer für das heiße Herz.

Unsere Coolness sollten wir dagegen sehr schnell ablegen. Sie befördert eine Haltung, die uns das eigene und das Tun anderer unterkühlt betrachten lässt. „Lass Dich getrösten: Frost und Harsch bereiten / die Spannung künftiger Empfänglichkeiten“, dichtete Rainer Maria Rilke in den „Winterlichen Stanzen“. Nicht vornehm reserviert, starr ichbezogen, sondern empfänglich zu sein, genau darum geht es heute. Wir spüren ja, dass etwas Wunderbares passiert: wenn nach eisiger Biwaknacht die ersten Sonnenstrahlen das Gesicht streifen, wenn eine Tasse Tee dampft, wenn wir warmen Kalk mit klammen Fingern greifen, wenn die Kälte der Wärme weicht. Um auch zukünftig in erträglich temperierter Umgebung leben zu können, bedürfen wir nicht nur eines kühlen Kopfes – sondern auch eines heißen Herzens. In dem Mitgefühl, Leidenschaft und die Hitze der Revolution ihren Platz haben und dem nicht egal ist, was rundherum passiert.

Erschienen in der
Ausgabe #117 (Winter 21-22)

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