
Mentale Gesundheit: So stärkt Bergsport die Psyche
Bewegung als effiziente Maßnahme zur Gesundheitsförderung wird aktuell wieder stärker ins Bewusstsein gebracht. Gesundheitsorganisationen, Krankenversicherungen, politisch Verantwortliche, Sportwissenschaftler und Mediziner propagieren Bewegung als umfassend wirksame und kostengünstige Möglichkeit, Gesundheit zu verbessern und zu bewahren.
Die Erkenntnis ist nicht neu: Bereits Ärzte der griechischen Antike haben (im 5. Jh. v. Chr.!) körperliche Aktivität zur Behandlung von Erkrankungen empfohlen und vor einem Mangel an Bewegung gewarnt. Die Wirkungen von Bergsportarten wie Wandern oder Klettern auf die mentale Gesundheit wurden hingegen erst in den vergangenen zehn Jahren zum Gegenstand medizinischer Forschung. Aber auch hier gab es schon Vorreiter. So hat beispielsweise der Arzt und Bergsteiger Sir Hermann Weber im Jahr 1893 einen umfassenden Artikel in der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet“ publiziert, in dem er heilsame Wirkungen bergsteigerischer Aktivität auf körperliche und mentale Krankheiten beschreibt:
„Bergsteigen, für organisch gesunde Menschen, ist eine der wertvollsten Maßnahmen, da es die Aktivität aller Körperorgane steigert und gleichzeitig die Psyche in Anspruch nimmt . Bergtouren können therapeutisch empfohlen werden, um Gesundheit und Energie wiederzuerlangen und zu fördern . Die häufigsten Fälle in diesem Zusammenhang sind jene von Personen, die geistig hart in ihren verschiedenen Berufen gearbeitet haben und reizbar geworden sind, schlaflos, dyspeptisch, lustlos, deprimiert und unfähig, sich zu konzentrieren.
Jene, die nicht gewöhnt sind an solche Art von Bewegung, müssen angewiesen werden, langsam zu beginnen und das Herz, die Blutgefäße, die Lungen und die Muskeln graduiert zu trainieren . Weiters sollten sie nicht direkt von intensiver Bewegung zu sitzenden Tätigkeiten zurückkehren , sondern damit fortfahren, ein bestimmtes Ausmaß an Bewegung während ihrer üblichen Tätigkeit auszuüben.“ Sir Hermann Weber (Übersetzung des Originaltextes)

Mental oder körperlich: was bedeutet Gesundheit?
Um zu verstehen, weshalb gerade Bergsportarten zur Gesundheitsförderung beitragen können, ist es hilfreich, sich den Begriff „Gesundheit“ etwas näher anzusehen. Meistens wird dabei immer noch zwischen „körperlicher“ und „psychischer“ Gesundheit unterschieden. Die Trennung zwischen „Körper“ und „Geist“ hat in der abendländischen Wissenschafts- und Medizingeschichte eine lange Tradition. Erst unter dem Einfluss der Psychosomatik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts begann sich die Medizin wieder stärker um die Zusammenhänge zwischen diesen Bereichen zu bemühen. Das „Biopsychosoziale Modell“ (Engel, 1977) bezog soziale Umweltbedingungen explizit in das Konzept von Krankheit bzw. Gesundheit mit ein.
Gesundheit und Krankheit sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren.
Kurz gefasst meint dieses Modell, dass sich Krankheit oder Gesundheit immer auf diesen verschiedenen Ebenen gleichzeitig abspielt. Wenn wir uns beispielsweise beim Sport verletzen, liegt der Schwerpunkt des „Krankseins“ sicher auf der körperlichen Ebene. Gleichzeitig werden aber mentale Zustände modifiziert. Es könnte Ärger, Wut, Traurigkeit oder Verzweiflung entstehen. Auf sozialer Ebene wird sich in der Regel ebenfalls etwas merklich verändern. Dies kann negative bzw. unangenehme, theoretisch aber auch als positiv wahrgenommene Folgen haben.
Was aber bedeutet der Begriff Gesundheit?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Gesundheit in ihrer Gründungsurkunde 1948 als einen „Zustand vollkommenen körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens“ definiert. Im biopsycho- sozialen Modell wird Gesundheit u. a. nicht als Zustand, sondern als Prozess aufgefasst. Gesundheit wird demnach durch die Fähigkeit des Menschen bestimmt, Störfaktoren auf allen diesen Ebenen autoregulativ zu kontrollieren. Gesundheit muss in jedem Augenblick des Lebens geschaffen werden.
Neuere Ansätze, die Erkenntnisse der Kognitionstheorie einbeziehen, gehen davon aus, dass Psyche, Seele oder Geist von Natur aus nicht ohne Körperlichkeit existieren können. „Embodied Mind“ heißt: Bewusstsein ist ohne Körperlichkeit nicht möglich. Wahrnehmung ist nicht bloß ein Prozess der Abbildung von äußeren Reizen auf ein inneres Modell der Welt, sondern ein Zusammenspiel von Prozessen verschiedener Ebenen im gesamten Kontext des Individuums. Gesundheit wird maßgeblich bestimmt durch die Beziehungen der einzelnen Ebenen untereinander: die Beziehungen zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Umwelt.
Embodied Mind: Geist und Körper bilden eine untrennbare Einheit
Die Moleküle, die unsere Zellen formen, aus denen sich wiederum unsere Organe zusammensetzen und die Funktionen unseres Körpers sicherstellen, stehen ebenso in Beziehung zueinander, wie das materiell fassbare zum Geistigen und der gesamten Umgebung, von welcher das Einzelne immer einen Teil darstellt. Fünf wesentliche Aspekte der Theorie des „verkörperten Geistes“ sind im Folgenden skizziert:
Die „fünf Es“ der Kognitionstheorie:
„Mind“ (Psyche, Geist, Seele) ist immer:
- „embodied“: ohne Körper kein Geist. Schon in der Antike wusste man: Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper!
- „embedded“: Geistige Funktionen stehen immer in einem sozialen oder kulturellen Kontext; Geist (bzw. Seele, Psyche) ist in diesen Kontext eingebettet.
- „extended“: Geistig-Seelisches dehnt sich immer in die (materielle) Welt hin aus. Ein Gedanke wird zum Beispiel durch Bewegungen mit einem Stift zu Papier gebracht.
- „enactive“: Lebende Organismen sind immer auch handelnd. Man kann nicht nichts tun! Gleichzeitig nehmen wir ständig Reize aus unserer Umgebung auf und müssen darauf reagieren.
- „emotive“: Alles geschieht unter emotionaler Beteiligung. Gefühle sind entscheidende Modifikatoren unseres Denkens, Fühlens und Verhaltens. Gleichzeitig können Emotionen durch unser Denken und Verhalten beeinflusst werden.
Der Nutzen von Bewegung und Bergsport in Bezug auf mentale Gesundheit – oder: Was hat das alles mit Bergsport zu tun?
Gesundheitsfördernde Effekte von regelmäßiger Bewegung sind in der Medizin schon seit Jahrzehnten bekannt. In der Psychiatrie gab es dazu lange Zeit vergleichsweise wenig Forschung, jedoch hat die Wissenschaft in den letzten zwei Jahrzehnten diesbezüglich gehörig aufgeholt. Positive Auswirkungen regelmäßiger Bewegung sind für die meisten psychischen Erkrankungen mittlerweile gut belegt.
Unter den bergsportlichen Disziplinen sind vor allem Klettern und Wandern vielfach untersucht worden, mit durchwegs positiven Ergebnissen. Und es gibt wissenschaftliche Hinweise darauf, dass Bergsport anderen Bewegungsformen in Bezug auf gesundheitsfördernde Aspekte überlegen ist. Generell konnte gezeigt werden, dass mentale Gesundheitsprobleme unter Bergsportlern weniger häufig vorkommen als in der Durchschnittsbevölkerung.

Wie viel (Berg-)Sport aber ist gesund?
Ganz einfach zu beantworten ist diese Frage nicht. Klar ist: Um nachhaltige gesundheitsfördernde Effekte zu erzeugen, braucht es Regelmäßigkeit. Wie beim allgemeinen Training tut sich nicht viel, wenn die Intervalle zwischen den Bewegungseinheiten zu lange sind. Bewegung gehört in den Alltag integriert. Und zwar (fast) jeden Tag. Für Menschen, die sich kaum bewegen, zeigt dann schon wenig Bewegung viel Effekt.
Für jene, die bereits regelmäßig trainieren, bringt eine weitere Steigerung des Bewegungsausmaßes entsprechend weniger. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der gesundheitsfördernde Effekt von Bewegung kippen kann, wenn ein bestimmtes Ausmaß überschritten wird.
Mehr ist nicht immer besser: Zu viel Training kann schaden.
Dies sehen wir deutlich im Leistungssport, aber auch ambitionierte Hobbysportler sind betroffen. Wo diese Grenze liegt, ist unklar. Jedenfalls dürfte dies maßgeblich von individuellen Faktoren abhängen. In Ausgabe #126 von bergundsteigen wurde auf das „Suchtpotenzial“ von Bergsport hingewiesen und darauf, dass die Betroffenen zu weiteren psychiatrischen Erkrankungen neigen. Der „Fonds Gesundes Österreich“ (FGÖ) hat seine allgemeinen Bewegungsempfehlungen im Jahr 2020 neu formuliert. Die Empfehlungen decken sich weitgehend mit jenen der WHO (siehe unten).
Die wichtigsten allgemeinen Bewegungsempfehlungen zur Gesundheitsförderung (FGÖ/WHO) für Erwachsene (18–65 Jahre):
- an zwei oder mehr Tagen der Woche muskelkräftigende Übungen. Alle großen Muskelgruppen sollen berücksichtigt werden.
- mindestens 150 bis 300 Minuten pro Woche Ausdauersport mit mittlerer Intensität oder
- 75 bis 150 Minuten pro Woche Ausdauersport mit höherer Intensität (oder eine entsprechende Kombination aus mittlerer und höherer Intensität)
- ausdauerorientierte Bewegung über mehr als 300 Minuten bringt einen zusätzlichen gesundheitlichen Nutzen.
Ältere Erwachsene (> 65 Jahre) sollen zusätzlich zu den Empfehlungen für Erwachsene regelmäßig Aktivitäten ausüben, die Muskelkraft, Kraftausdauer, Koordination und Gleichgewicht fördern.
Bemerkenswert ist, dass beide Empfehlungen keine „Obergrenze“ enthalten. Dies mag unter anderem daran liegen, dass ein „Zuviel“ an Bewegung nur eine verhältnismäßig kleine Gruppe betrifft. Die meisten Menschen in Österreich bewegen sich viel zu wenig! Sie erfüllen die skizzierten Mindestempfehlungen nicht: Beim „Bewegungsmonitoring“ 2017 gaben lediglich 42 Prozend der Bevölkerung an, 75 bzw. 150 Minuten Ausdauersport gemäß den Empfehlungen (siehe Box) auszuüben. Muskelkräftigende Übungen wurden sogar nur von 18 Prozent angegeben, und dies nur einmal pro Woche.
Kosten in Milliardenhöhe durch zu wenig Bewegung
Dass dieser Bewegungsmangel in der Bevölkerung hohe Gesundheitskosten verursacht, liegt auf der Hand. Die Zahlen dazu variieren je nach Berechnungsmethode, dürften jedoch pro Jahr die Milliardengrenze weit überschreiten. Klar ist auch, dass die durch Bewegungsmangel verursachten Gesundheitskosten die auf Freizeitsport zurückzuführenden Unfallkosten bei Weitem übersteigen. Zu betonen ist, dass auf Freude an der Bewegung, ein vielseitiges Bewegungsspektrum sowie auf ein dem aktuellen Trainingszustand angepasstes Ausmaß der Bewegung geachtet werden soll. Wenig Bewegung ist immer noch besser als keine Bewegung. Wer mit regelmäßiger Bewegung beginnt, soll Häufigkeit, Intensität und Dauer der Aktivität langsam steigern.
Im Hinblick auf mentale Gesundheitsprobleme wurden bislang keine gesonderten Empfehlungen formuliert. Unter Berücksichtigung der oben skizzierten allgemeinen Überlegungen zu mentaler Gesundheit können die Bewegungsempfehlungen von FGÖ und WHO durch einige Punkte ergänzt werden (siehe Factbox 3).
Die Bedeutung der Darstellung des mentalen Gesundheitsbegriffs und der wesentlichen Erkenntnisse moderner Kognitionstheorien sollte nun klarer werden: Bergsport in seinen verschiedenen Facetten ist in der Lage, die wesentlichen Bereiche und Ebenen menschlicher Existenz anzusprechen. Sofern man zwischen verschiedenen bergsportlichen Disziplinen wechselt, können auch die in den allgemeinen Bewegungsempfehlungen angesprochenen Bereiche problemlos abgedeckt werden.
Kletter-, Bike- und Wandertouren tun der Psyche gut – aber nur ohne Leistungsgedanken.
Wer beispielsweise mehrmals in der Woche zum Bouldern oder Klettern geht, dabei regelmäßig auch längere Touren unternimmt und Zustiege bewältigt; wer sich an Arbeitstagen mit abendlichen Mountainbike-Touren oder Lauftrainings fit hält und auch mal eine Halle besucht, wenn outdoor nichts möglich ist; wer dabei regelmäßig in partnerschaftlicher Begleitung, mit Freunden oder in einer größeren Gruppe unterwegs ist; wer sich dabei immer wieder neuen Herausforderungen stellt, sich nicht von Schwierigkeitsgraden oder Aufstiegszeiten leiten lässt, sondern seine Aktivitäten genießen kann; und wer letztlich die Schönheit der Natur mit seinen Sinnen wahrnimmt und sich auch mal die Zeit gönnt, nur bei sich und in der Welt zu sein: der hat im umfassenden Sinne seiner Gesundheit einen guten Dienst erwiesen!
Fazit: Wann Bergsport förderlich ist
Regelmäßige Bewegung ist ein wesentlicher Faktor, der unsere Gesundheit maßgeblich beeinflusst. Bergsport bietet in seinen verschiedenen Facetten hervorragende Möglichkeiten, auch mentale Gesundheit auf allen Ebenen zu fördern oder wiederherzustellen. Neben dem körperlichen Training spielen zahlreiche weitere Faktoren wie beispielsweise soziale Interaktionen, Einflüsse von Umweltbedingungen, die notwendige Auseinandersetzung mit eigenen Ressourcen und Grenzen, Selbstwirksamkeitserleben und Stressregulation eine wichtige Rolle.
Gesund ist, wer auf Selbstdarstellung, Leistungsdruck und Konsum-Mentalität am Berg verzichtet.
Wesentlich ist, sich in der Ausübung von Bergsport nicht vornehmlich durch einen Drang zur Selbstdarstellung, Leistungsorientiertheit oder Konsum-Mentalität leiten zu lassen. Bergsport kann (und sollte) gesundheitsorientiert ausgeübt werden. Durch geeignete Aus- und Weiterbildungsangebote für Berg- und Schiführer:innen, Bergwanderführer:innen, Canyoningführer:innen und Sportkletter- lehrer:innen könnte in diesem Sinne auch ein neues Betätigungsfeld im Gesundheitsbereich entstehen.
Den Krankenversicherungen wird immer stärker bewusst, wie wichtig und wertvoll Gesundheitsförderung durch Bewegung ist. „Bergsport auf Krankenschein“ ist übrigens in Deutschland durch den „Gesundheitswanderführer“ und in Österreich durch das Projekt „Beweg Dich für die Seele“ (ÖGK) bereits in kleinem Rahmen Realität.
Factbox 3: Zur Förderung mentaler Gesundheit kann zusätzlich empfohlen werden:
- Die Aktivitäten sollten zumindest teilweise in einem sozialen Kontext – zu zweit, aber auch in größeren Gruppen – durchgeführt werden.
- Die Aktivitäten sollten zumindest teilweise kognitive Herausforderungen bei der Planung und Durchführung beinhalten.
- Die Aktivitäten sollten positive psychologische Wirkungen wie Verstärkung von Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeitserwartung ermöglichen.
- Die Aktivitäten sollten die Möglichkeit zur Bewältigung von Stress bzw. Angst auslösenden Situationen bieten.
- Die Aktivitäten sollten positive Emotionen wie Freude und Begeisterung ermöglichen.
- Die Aktivitäten sollten immer genügend Raum bieten, zu sich zu kommen, Ruhe zu finden, meditative Elemente enthalten und achtsames Erleben ermöglichen.
- Die Aktivitäten sollten nicht vornehmlich leistungs- oder konsumorientiert ausgerichtet sein.
Bergsport und Gesundheit, #10
Diese in jeder zweiten Ausgabe erscheinende Serie (im Wechsel mit der Serie „Bergrettung“) organisieren und betreuen Dr. Nicole Slupetzky (Vizepräsidentin des ÖAV und Präsidentin des Clubs Arc Alpin) und Prof. Dr. Marc Moritz Berger (Ärztlicher Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie in Ludwigsburg; Präsidiumsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin). Der Experte für Prävention und Therapie der akuten Höhenkrankheiten und für alpine Notfallmedizin ist Mitinitiator des Symposiums für Alpin- und Höhenmedizin Salzburg, das gemeinsam mit dem Österreichischen Alpenverein organisiert wird.

Hier geht’s zum vorherigen Artikel aus der Serie Gesundheit und Bergsport.
Literatur
- Weber, H. (1893): The Hygienic and Therapeutic Aspects of Climbing. In: The Lancet 142
- WHO (2020): Basic Documents 2020. 49th edition including amendments adopted up to 31 May 2019
- Egger, J. (2005): Das biopsychosoziale Krankheitsmodell. In: Psychologische Medizin 16
- Fuchs, Th. (2023): Psychiatrie als Beziehungsmedizin. Ein ökologisches Paradigma. Verlag W. Kohlhammer
- Mayer, S. et al. (2020): Bewegungsverhalten, Kosten mangelnder körperlicher Aktivität und Bewegungsförderung in Österreich. In: Gesundheitswesen 82