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Lawineabgang Roccabella in Graubünden
13. Dez 2023 - 10 min Lesezeit

+ / – Unterteilung der Gefahrenstufen im Schweizer Lawinenbulletin: Erste Erfahrungen

Ist das noch eine 2+ oder doch schon eine 3–? Im Schweizer Lawinenlagebericht werden seit letztem Winter die Gefahrenstufen noch genauer unterteilt als bisher. bergundsteigen hat beim Lawinenwarner Kurt Winkler vom SLF nachgefragt.

Gebi Bendler: Wie sind eure Erfahrungen? Haben sich eure Erwartungen erfüllt?

Kurt Winkler: Mehr als erfüllt. Das Feedback der Nutzer:innen war grossmehrheitlich positiv, und sie scheinen die Zwischenstufen zu verstehen.

Was hat sich nicht erfüllt? Was war negativ?

Nicht eingeplant war, dass wir seit der Einführung der Zwischenstufen mehr Gefahrengebiete beschreiben. Mit den Zwischenstufen tendieren wir dazu, die Gefahrengebiete feiner einzuteilen als früher. Für die Nutzer beutet das mehr Gefahrengebiete mit spezifischeren Informationen, für uns aber leider auch mehr Aufwand.

Rocabella-Lawine

Was muss noch verändert werden?

Wir wollen die Trefferquote erhöhen. Aber das gilt nicht spezifisch für die Zwischenstufen, sondern für alle unsere Prognosen. Deshalb arbeiten wir derzeit an einem neuen Bulletineditor, der es ermöglicht, unsere Machine-Learning Modelle besser in den Arbeitsablauf zu integrieren.

Wie hat die Community (Endverbraucher) darauf reagiert?

Genau dazu haben wir im letzten Frühling eine Umfrage gemacht, die von über 3000 Usern ausgefüllt wurde. Die Resultate sind erfreulich: Die Leute scheinen die Zwischenstufen gut zu verstehen, und  85% der Teilnehmenden halten sie für «nützlich» oder «teils nützlich». Als besonders wichtig wird die Unterteilung der Stufe 3, erheblich angesehen. Das erstaunt nicht, denn genau das wurde seit Jahren gewünscht.

Gab es Kritik seitens der Community?

Natürlich, aber zum Glück viel weniger als Lob. Am häufigsten wurden Bedenken geäussert, dass andere (und nur ganz selten jemand selbst) die Minus-Grade nicht ernstnehmen, und z.B. einen 3- zum 2er schönreden könnte. Dazu hatten wir in der Umfrage extra Fragen gestellt, und die zeigten das Gegenteil: Die Teilnehmer gaben vor allem an, dass sie jetzt bei den Plus-Graden zusätzliche Vorsicht walten lassen. Aber klar, Umfrage und Realität sind vielleicht nicht immer dasselbe.

Ein anderer Kritikpunkt im Vorfeld war, dass die Skala nicht dem Schulnotensystem Deutschlands und Österreichs entspricht, und die + und – genau falsch herum interpretiert werden könnten. Entsprechende Verständnisfragen wurden in der Umfrage aber zu 95% korrekt beantwortet. Die Analogie zu den Schwierigkeitsgraden z.B. von Skitouren oder Klettereien, scheint zu funktionieren. In diesem Punkt können wir entwarnen.

Wie haben die anderen LWDs (EAWS) reagiert, nachdem ihr ja gewissermaßen vorgeprescht seid? Gab es Gegenwind?

Ja, manchmal blies uns eine kühle Brise ins Gesicht. Wir wussten, dass eine Unterteilung der Gefahrenstufen nicht überall gut ankommt. Im Text beschreiben, ja, aber explizit angeben wollen es dann doch nicht alle. Darum haben wir mit den Zwischenstufen ein System entwickelt, das optional verwendet werden kann und kompatibel mit den Empfehlungen der EAWS ist. Aber klar, wir haben die Zwischenstufen eigenmächtig eingeführt. Dasselbe hatten wir schon 2012 mit den Lawinenproblemen gemacht. Damals aber ohne vorgängige Test, und das hatte uns damals einiges an Lehrgeld gekostet. Bei den Zwischenstufen haben wir 6 Jahre getestet und alles wissenschaftlich ausgewertet. Trotzdem stiessen wir hier teilweise auf Ablehnung, nicht damals bei den Lawinenproblemen.

Wir arbeiten intensiv in der EAWS mit und haben uns in letzter Zeit stark an «Europa», bzw. vor allem an Albina (Tirol, Italien und Teile der Pyrenäen), angeglichen. Wir setzen also stark auf Vereinheitlichung, aber sie darf nicht zu einem Innovationsstillstand führen. Welche Innovationen sich bewähren, zeigt sich meist erst Jahre später.

Wie war es für euch Lawinenwarner? Ich stelle es mir viel schwieriger für euch vor, die Nuancen einzuschätzen. Das meinten auch die anderen LWDs, dass sie ja nur eine sehr grobe Prognose (für riesige Gebiete) machen würden und die Vergabe von +/- mehr Verwirrung stiftet und ihre Arbeit erschweren würde. Wie ist eure Erfahrung dazu?

Ich verstehe diese Sorge, aber zumindest bei uns trifft sie nicht zu. Im Gegenteil: weil die Zwischenstufe nicht per Definition, sondern intuitiv festgelegt wird, geht das erstaunlich rasch und meist auch mühelos. Klar kann es auch mal schwierig sein, ob ich jetzt 2= oder 2+ gebe. Aber es gibt mindestens so viele Fälle, bei denen ich sogar froh bin, um die Zwischenstufen: Wenn ich mir z.B. völlig unsicher bin, ob 2 oder 3. Dann komme ich mit 2+ oder 3- näher ran, als wenn ich mich entscheiden muss, zwischen entweder «irgendwo im 2er» oder «irgendwo im 3er».

Zudem ist das Bulletin bei uns eine Teamarbeit, bei der mehrere Lawinenwarner eine unabhängige Einschätzung machen, die wir dann mitteln. Dabei kommt es natürlich vor, dass einer 3 und der andere 4 einschätzt. In solchen Fällen ist die Zwischenstufe sofort klar. Zur Diskussion stehen 3+ oder 4-.

Reduktionsmethode und SnowCard eignen sich hervorragend für die Verwendung der Zwischenstufen.

Die Stufe 3+ stelle ich mir spannend vor. Gab es an den Tagen, an denen 3+ ausgegeben war, weniger Unfälle als die Jahre zuvor? Ich meine, an den Tagen als nur 3 ausgegeben wurde, ihr aber eigentlich 3+ ausgegeben hättet. Ihr habt ja die Plus-Minus-Bewertung schon seit einiger Zeit im Hintergrund mitlaufen gehabt, nur nicht im Bulletin veröffentlicht. Gibt es da schon Auswertungen?

Weil bei Unfällen die Wetterverhältnisse, der Wochentag, mögliche Fehlprognosen und der Zufall auch eine Rolle spielen, brauchen wir für eine solche Auswertung einen grossen Datensatz. Wir müssen also erst mal ein paar Jahre lang Unfalllawinen sammeln, bevor wir das Auswerten können. Aber die Frage ist auf jeden Fall spannend – kannst du uns schon mal im Winterheft 2028 Platz reservieren?

Was ist euch sonst noch aufgefallen?

Dass wir kaum noch Rückmeldungen zu den Zwischenstufen bekommen. Es scheint, als ob sie ein Jahr nach der Einführung bereits als selbstverständlicher Bestandteil unserer Warnprodukte wahrgenommen werden. Vermutlich gäbe es mehr Reaktionen, wenn wir wieder darauf verzichten würden.


Hintergrund: Interview mit Kurt Winkler aus dem bergundsteigen #121 (Winter 2022/23)

Gebi Bendler: Das SLF teilt die Gefahrenstufe auf. Warum?

Kurt Winkler: Die Aufteilung der Gefahrenstufen, insbesondere von „erheblich“, war seit Jahrzehnten der größte Wunsch der Tourengeher ans SLF. Aber auch uns Lawinenwarner waren die gerade mal fünf Stufen der Europäischen Lawinengefahrenskala zu grob, weil wir jeweils recht unterschiedliche Situationen in dieselbe Stufe packen mussten. Mit der Unterteilung der Gefahrenstufen können wir dem kontinuierlichen Verlauf der Lawinengefahr besser folgen.

Darf man eine Gefahrenstufe denn überhaupt aufteilen?

Die Europäischen Lawinenwarndienste haben das nicht vorhergesehen und damit weder erlaubt noch verboten. In der Tat werden die Gefahrenstufen manchmal als unteilbar angesehen, aber gleichzeitig wird auch in Kursen unterrichtet, wie man aus der Gefahrenbeschreibung herauslesen kann, ob die aktuelle Situation tief oder hoch in der Gefahrenstufe ist.

Genau das kommunizieren wir in Zukunft klar und systematisch. Die Zwischenstufen vermitteln also nicht nur Information, sondern machen vor allem das Lawinenbulletin einfacher zu interpretieren.

Was muss ich mir unter Zwischenstufen vorstellen?

Eine Aufteilung in mehr Gefahrenstufen hätten alle Naturgefahrenwarnungen Europas miteinander einführen müssen – ein aussichtsloses Unterfangen. Deshalb suchten wir einen anderen Weg:

Wir verwenden die fünf Gefahrenstufen unverändert weiter, ergänzen sie aber mit Zwischen-stufen, also mit der Angabe, ob die Gefahr eher im unteren Bereich (–), etwa in der Mitte (=) oder eher im oberen Bereich (+) der angegebenen Gefahrenstufe liegt.

Wie habt ihr die Zwischenstufen definiert?

Gar nicht. Das mag auf den ersten Blick erstaunen, ist aber vom theoretischen Standpunkt das einzig Richtige. Menschen können nämlich nur in etwa 5 bis 7 definierte Klassen einteilen – bei uns sind das die ganzen Gefahrenstufen. Diese erste Einteilung erfolgt mit logischem Denken und ist damit anstrengend und zeitintensiv.

Von den Psychologen wissen wir, dass Menschen nach einer solchen Einteilung durchaus noch in der Lage sind, innerhalb einer Klasse eine relative Rangfolge festzulegen. Genau das sind unsere Zwischenstufen. Diese zweite, verfeinerte Einteilung kann nur heuristisch erfolgen, also intuitiv und damit ohne Definition.

Rocabella-Lawine

Und das soll funktionieren?

Von der Theorie her ist es das korrekte Vorgehen. Wenn es funktioniert, dann am ehesten so. Ob es in der Praxis aber tatsächlich geht, wussten auch wir nicht. Deshalb haben wir es in den letzten sechs Jahren wissenschaftlich untersucht.

Wie macht man so etwas?

Das ist nur mit statistischen Methoden möglich, aber dazu brauchte es erst mal Daten. Also haben wir sechs Winter lang sämtlichen Gefahreneinschätzungen auch Zwischenstufen zugeordnet, aber nicht publiziert. Diesen Datensatz hat unser Teamkollege Frank Techel inzwischen statistisch ausgewertet und in zwei wissenschaftlichen Arbeiten publiziert: Refined dry-snow avalanche danger ratings und on the correlation between a sub-level qualifier refining the danger level with observations.

Was kam dabei heraus?

Bei nassen Lawinen hat es nicht funktioniert, dort haben wir nach einem Jahr abgebrochen. Bei trockenen Lawinen aber sind die Ergebnisse höchst erfreulich: In der ersten Studie haben wir die im Bulletin prognostizierte Gefahrenstufe verglichen mit Einschätzungen aus dem Gelände. Diese stimmen natürlich nicht immer überein, und wenn sie nicht übereinstimmen, ist es oft schwierig zu sagen, welcher Wert falsch ist.

Was aber klar herauskam: Die Unterschiede zwischen dem Lawinenbulletin und den Beobachtungen werden mit Zwischenstufen kleiner. Wurde also z. B. im Gelände Stufe 2 eingeschätzt, das Bulletin hat aber Stufe 3 vorhergesagt, so war es in den allermeisten Fällen eine 3–, nur selten eine 3= und kaum je eine 3+.

Und das war euch noch nicht genug?

Nein, wir wollten auf Nummer sicher gehen. Weil Gefahreneinschätzungen immer ein Stück weit subjektiv sind, haben wir die Zwischenstufen in einer zweiten Studie mit objektiven, also messbaren lawinenbildenden Faktoren verglichen.

Von einer Zwischenstufe zur anderen steigen die spontane Lawinenaktivität, die Häufigkeit von Wummgeräuschen und von Personenauslösungen sowie das Lawinenrisiko auf Skitouren jeweils an, während sich gleichzeitig die Resultate der Stabilitätstests verschlechtern. Aber nicht nur mit Messungen, auch mit berechneten Stabilitäten und berechneten Gefahrenstufen ergaben sich hervorragende Übereinstimmungen.

Für wen sind die Zwischenstufen gedacht?

In Computermodellen werden sie bereits operationell eingesetzt. Dies sowohl als Hilfe für die Lawinenwarner in Künstliche-Intelligenz-Modellen, als auch zur Berechnung des Lawinenrisikos auf Skitourenguru.ch. Diesen Winter kommen die ambitionierten Tourengeher dazu.

Warum nur die ambitionierten? Wer nur kurz auf die Gefahrenkarte schaut, sieht auch weiterhin nur das Wichtigste, also die ganzen Gefahrenstufen. Erst wer sich genauer informiert und sich die Zeit nimmt, die Gefahrenbeschreibung zu öffnen, kriegt nebst dem Text neu auch die Zwischenstufe angezeigt (Abb. 1).

Wie kann ich als Tourengeher die Zwischenstufen konkret nutzen?

Wenn du z. B. an den paar gefährlichsten Tagen des Winters keine Skitouren machen will, kannst du künftig Gebiete ab Gefahrenstufe 3+ meiden und dir stattdessen eine sicherere Region oder ein sichereres Datum suchen. Oder du kannst die Zwischenstufen quantitativ nutzen, z. B. mit der Grafischen Reduktionsmethode oder mit der Snow- Card. Für eine grobe Abschätzung kannst du dort nach wie vor die ganzen Stufen verwenden (schwarze Linie in Abb. 2).

Neu kannst du alternativ mit der Zwischenstufe auf der linken bzw. rechten Seite der jeweiligen Gefahrenstufe ins Diagramm einsteigen und den diagonalen Farbcode verwenden. Einzig Stopor Go kennt keine kontinuierliche Darstellung und kann die Zwischenstufen damit nicht abbilden.

Ihr teilt die jahrzehntealte Gefahrenskala plötzlich viel feiner ein. Habt ihr da nicht Angst vor Fehlprognosen? Kannst du da noch ruhig schlafen?

Oh ja, sehr gut sogar. Im Einzelfall wird es Fehler geben, wie bei allen Prognosen. Die beiden Studien beweisen aber klar, dass die Zwischenstufen die Situation im Durchschnitt besser erfassen als bisher. Die Unbekannte ist also nicht unsere Einschätzung, sondern was die Leute damit machen. Wenn jemand die Zwischenstufe nicht beachtet, vergibt er eine wichtige Information.

Gefährlicher als heute ist das aber nicht. Einziges Problem aus meiner Sicht ist, wenn jemand die „minus“-Grade nicht ernst nimmt. 3– heißt eben nach wie vor 3, „erheblich“, und sollte nicht auf einen 2er schöngeredet werden.

Lawineabgang Roccabella in Graubünden
Lawineabgang an der Roccabella in Graubünden am 5. Februar 2022. Am diesem Wochenende starben elf Menschen durch Lawinen in den Alpen. Foto: Luca Zanette

Werden die Zwischenstufen Schule machen und bald von anderen Warndiensten übernommen?

Ich hoffe natürlich, dass die Zwischenstufen von den Tourenfahrern und Freeridern positiv aufgenommen werden. Dann kann ich mir gut vorstellen, dass andere Warndienste nachziehen. Der Mehraufwand für die Lawinenwarner ist nämlich überraschend klein.

Um die Gefahr zu beschreiben, muss ein Lawinenwarner ohnehin eine Idee von der Situation haben. Offensichtlich reicht diese Idee aus, um sinnvolle Zwischenstufen zu vergeben. Weil die Unterteilung optional ist, kann mitmachen, wer will. Wir zum Beispiel verwenden die Zwischenstufen auch nur bei trockenen Lawinen und den Gefahrenstufen 2 bis 5.

Ihr erfüllt einen Wunsch der Tourengeher – habt ihr auch einen Wunsch an sie?

Ja, auch die „minus“-Grade ernst nehmen und eine 3–nicht zu einem 2er biegen. Und der Wunsch an andere Lawinenwarnungen wäre, dieselbe Einteilung (-, =, +) zu verwenden.

Erschienen in der
Ausgabe #121 (Winter 22-23)

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