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von Andi Dick
24. Feb 2022 - 19 min Lesezeit

Sind wir noch zu retten?

Oder: Können wir aus der Corona-Pandemie lernen, wie die Menschheit noch die Kurve kriegt? Vielleicht durch einen konsequenten Lebensstil des „genug“ statt „immer mehr“.

Es war so was wie der ewig wacklige Klemmblock oder der reife Serac: Man weiß, dass sie irgendwann fällig sind. Aber nicht wann. Also ignoriert man sie. Seit Jahrzehnten hat die Wissenschaft darauf hingewiesen, dass unsere engen, vernetzten Gesellschaften anfällig sind für Pandemien, wenn nur eine passende Virusmutation entsteht. Erst vor wenigen Jahren hat eine Zivilschutz-Simulation dies für Deutschland belegt; die Studienleiter empfahlen, die Notfallressourcen aufzustocken. Aber das ist nicht geschehen, vielleicht weil man meinte, sparen zu dürfen (oder zu müssen) – und als Covid-19 über die Welt hereinbrach, war das Gejammer groß. Zum Glück bewirkte das Virus keine Sterblichkeitsraten wie Ebola. Doch es erwies sich als hartnäckig und anpassungsfähig, und wegen seiner raffinierten Ausbreitungsstrategie (Infizierte sind schon ansteckend, bevor Symptome auftreten), ergriffen politisch Verantwortliche weltweit ungewöhnlich scharfe Maßnahmen, die unsere gewohnte und geliebte „Freiheit“ schmerzhaft einschränkten. Spätestens bei der zweiten Welle im Winter 20/21 dämmerte vielen, dass wir uns eher auf ein Leben „mit“ statt „nach“ Corona einstellen müssen – und heute, am Scheitelpunkt der Omikron-Welle, hoffen wohl viele, dass es bald so weit ist.

Corona-Symbol auf Steinreihe im Frankenjura. Foto: Andi Dick

Diverse Lockdowns und Einschränkungen stellten vor allem Kleinunternehmer (z.B. auch Bergführer) vor Existenzfragen. Für die, die es nicht so hart traf, war zumindest der erste Lockdown ein außergewöhnliches Erlebnis: Straßen, so leer wie während der Ölkrise. Klopapiermangel im Supermarkt. Freunde nur telefonisch oder per Video treffen. Und manche verloren Angehörige, ohne sich persönlich verabschieden zu können. Wie Schulschließungen, Home-Office und Social Distancing unsere künftige Gesellschaft prägen werden, muss sich erst noch zeigen.

Alpenvereine und Hütten in Zwangspause

Auch für den Alpenverein und den Bergsport bedeutete Corona Außergewöhnliches. Der Lockdown im März 2020 legte das Vereinsleben von heute auf morgen still; Sektionsabende konnten erst im Herbst wieder stattfinden, mit Hygienemaßnahmen und Personenbeschränkungen; einige Sektionen organisierten ihre Vorträge gleich ganz digital. Kletterhallen hatten im Frühling 2020 Zwangspause – und als man sich im Herbst mit offenen Türen und Maskenpflicht abgefunden hatte, mussten sie noch einmal schließen. Berghütten konnten im ersten Corona-Sommer nur einen Teil ihrer Kapazität nutzen; einige Wirte machten erst gar nicht auf, die Wintersaison wurde weitgehend zum Totalausfall. Im zweiten Coronajahr 2021 waren die Einschränkungen etwas sanfter, man hatte neue Strategien zur Hand, der DAV machte eine Hauptversammlung voll digital, eine maskiert – und wir lernten allmählich, mit der Unsicherheit der nächsten Welle genauso pragmatisch umzugehen wie mit den sehr unterschiedlichen Vorschriften diverser Reiseländer.

Warntafel beim Roten Fels, Frankenjura. Foto: Andi Dick

Wir lernten, mit der Unsicherheit der nächsten Welle genauso pragmatisch umzugehen wie mit unterschiedlichen Vorschriften diverser Reiseländer.

Auch unser Sport „ging viral“: Wegen des „stay at home“-Appells der Alpenvereine im Frühling 2020, um die Bergwacht zu schonen, waren Berge und Klettergärten während des Lockdowns so einsam wie nie. Dafür erlebten sie nach der Lockerung der Maßnahmen einen Ansturm; schon 2019 war das Schlagwort „overtourism“ aufgekommen, nun bekam es eine neue Dimension mit teils chaotischen Auswirkungen. Verunmöglichte Fernreisen legten heimatnahen Urlaub nahe; geschlossene Sportanlagen trieben zur Alternative „Sport in der Natur“; Mangel an Hotels und Pensionen verlockte zum Übernachten im Freien. Parkplätze waren voll mit Bussen und Wohnmobilen, aus den Wiesen musste die Polizei oft Camper pflücken, die sich dort etabliert hatten. Viele Orte in den bayerischen Alpen erstickten im Stau und an Autos, die auf den überfüllten Parkplätzen nicht untergekommen waren – „Ausbremst is“-Demos gestresster Einheimischer waren die Folge. An den Mittelgebirgs-Klettergärten wurde ebenso rücksichtslos geparkt, teilweise haarsträubende Unfälle geschahen, Felsen wurden wegen zu viel Andrangs gesperrt. Die Phänomene wiederholten sich ähnlich im Winter 20/21, und mittlerweile ist das Management des geboosterten Touristen-Andrangs eine zentrale Frage für Tourismus-Verantwortliche geworden. Ob dabei Parkgebühren in Abzockhöhe oder Sperrungen von Wanderparkplätzen in einer Region, um den Besuch woandershin zu vergrämen, sozial und sinnvoll sind, darf bezweifelt werden.

Corona als Auslöser

So ist Corona ein Auslöser geworden: Vieles, was schon auf einer schiefen Bahn dahin schlingerte, lief nun vollends aus dem Ruder. Beispielsweise auch – und ernster als der Overtourismus – Demonstrationen, die zwar das demokratisch fundierte Demonstrationsrecht in Anspruch nahmen, aber viele demokratische Tugenden (gewaltfreier Diskurs, Akzeptanz von Regeln) vermissen ließen.

Geschlossene Hütte: Herzogstandhaus, Bayerische Voralpen. Foto: Andi Dick

Gleichzeitig hat die Pandemie gezeigt, was in unserer modernen globalisierten Gesellschaft verkehrt läuft, sie von innen heraus krank macht und unter anderem Pandemien evolvieren lässt und uns anfällig dafür macht. Der Wachstumszwang des globalisierten Kapitalismus verlangt nach „immer mehr“. Megacities wuchern, mit wachsenden Ghettos von Abgehängten; sie breiten sich immer weiter aus in die Natur, die unreguliert verbraucht wird. Enger werdende Räume für Tiere und Menschen sind der ideale Nährboden für neue Krankheitserreger und fördern ihre Ausbreitung. Die Klimakrise, befeuert durch Konsumgeilheit, Energiehunger und Bevölkerungswachstum, bedroht die verletzlichen Gesellschaften mit regelmäßigen und sich verschärfenden Katastrophen. Die Virtualisierung von Kontakten durch die Digitalisierung kann zu Vereinzelung und Rausfallen aus einer solidarischen sozialen Gemeinschaft führen. Und wenn Autokraten ein egoistisches „me first“ zur Staatsräson erheben, verhindert das die für ein gutes Leben für alle Menschen notwendige weltweite Kooperation.

Der Wachstumszwang des globalisierten Kapitalismus verlangt nach „immer mehr“ und breitet sich immer weiter aus in die Natur, die unreguliert verbraucht wird.

Der Weg des „Genug“

„Gibt es noch eine Chance auf Heilung?“ heißt die Frage in dieser Zeit – frecher formuliert: „Sind wir noch zu retten?“ Vielleicht könnte ausgerechnet die Zwangsentschleunigung durch Corona auf eine mögliche Lösung hinweisen: auf einen Weg des „Genug“.

Will man gegen alle Verzweiflung darauf hoffen, sollte man nicht auf einfache Konzepte setzen. Zwar gingen während des Lockdowns 2020 Satellitenbilder von wasserklaren Hafenbecken und Himmeln ohne Kondensstreifen durch die Medien. Doch der Rückgang von klimaschädlichen Treibhausgas-Emissionen lag trotz des herben Stopps für die Wirtschaft nur im einstelligen Prozentbereich – notwendig wären 50% in den nächsten Jahren, 100% bis allerspätestens 2050, will man auch nur das 2°C-Ziel erreichen. Und obwohl die Aktienkurse schon ein halbes Jahr nach dem Crash wieder Höchststände erreichten, forderten Politiker Kaufprämien für ölverbrennende Autos. Als ob ein Weiterwirtschaften wie bisher wichtiger und sinnvoller wäre als ein gezielter Umbau unserer Strukturen hin zu einer Welt, die auch unseren Enkeln noch ein gutes Leben ermöglicht. Das Motto schien zu heißen: Lieber Lebensgrundlagen vernichten als Arbeitsplätze in Industrien, für die ohnehin zukunftsverträgliche Alternativen entwickelt werden müssen.

Andrang im Tal: Überfüllte Parkplätze in den Bayerischen Voralpen. Foto: Andi Dick

Eine „Ökonomie des Genug“ fordern Niko Paech, Professor für „Postwachstumsökonomie“, und der Buddhismuslehrer Manfred Folkerts in ihrem Buch „All you need is less“. Folkerts weist darin auf die drei Ursünden des Buddhismus hin: Gier, Hass und Verblendung. Er sieht sie in den Strukturen des Kapitalismus verwirklicht: Gier in der Maxime des Wachstums; Hass im Konkurrenzdenken; und Verblendung in der Ignoranz der Folgen unseres Tuns. Sein Gegenmodell heißt: Verantwortung statt Ignoranz. Liebe und persönliches Vervollkommnungsstreben statt Hass und Übertrumpfen der anderen. „Genug“ statt „immer mehr“.

Verantwortung statt Ignoranz. Liebe und persönliches Vervollkommnungsstreben statt Hass und Übertrumpfen der anderen. „Genug“ statt „immer mehr“.

Das Yin und Yang des Bergsports

Was das alles mit Bergsport und Bergsteigen zu tun haben soll? Nun, zum einen belegt unsere Berg-Erfahrung die Plausibilität von Folkerts‘ Denkmodell. Wenn ich immer schneller, höher, weiter in die Berge will, besser sein will als andere und nicht an die Folgen denke, lebe ich auf Dauer gefährlich. Dagegen ist es eine schlaue Idee, meine Ziele im Rahmen meiner Möglichkeiten auszuwählen, diese Möglichkeiten durch Arbeit an meinen Qualitäten eventuell zu erweitern, und mich so zu verhalten, dass die Konsequenzen meines Tuns für mich, meine Mitmenschen und die Natur vertretbar sind.

Zum anderen kann Bergsteigen uns zeigen, wie man sinnvoll mit Krisen oder Problemen umgeht, und uns Zuversicht geben, dass wir mehr können, als es auf den ersten Blick erscheint. Dazu gehört zuerst eine ehrliche, selbstkritische Wahrnehmung des Gegebenen, ohne Tunnelblick und Filterblasen. Dann müssen wir verstehen, wie die Dinge zusammenhängen und wo potenzielle Probleme und Lösungen liegen. Dazu hilft uns Wissen – so wie in der Pandemie endlich die Wissenschaft als Berater der Politik Gehör gefunden hat. Zuletzt folgt der entscheidende Schritt: ändern, was sich ändern lässt, und akzeptieren, was sich nicht ändern lässt. Mut und Demut sind das Yin und Yang des Bergsports: Mut, an Grenzen zu tasten; Demut, sie zu respektieren.

Mut und Demut sind das Yin und Yang des Bergsports: Mut, an Grenzen zu tasten; Demut, sie zu respektieren.

Berge reden Klartext. Sie lassen uns allein mit uns selbst und vielleicht noch dem Partner, zeigen was wir können und was nicht. Sie ermöglichen, dass wir uns in unserer Stärke erleben oder als klein und schwach. Sie halten uns auf dem Boden der Tatsachen – und lehren uns, diese zu akzeptieren, als Grundlage, von der wir uns abstützen können. Berge kennen keine Empfindlichkeiten, Befindlichkeiten, Korrektheiten. Wir können nicht gegen sie gewinnen, nur mit ihnen. Sie nehmen jeden, wie er oder sie ist, und zwingen uns, das auch so zu tun. Ist das ungerecht oder die einzig echte Gerechtigkeit? Denn Berge behandeln alle gleich, indem sie nicht jeden rauflassen – persönliche Kompetenz und Einsatz bestimmen, wie weit man kommt.

(Natürlich gilt das mehr oder weniger auch für die „Berge im metaphorischen Sinn“ wie etwa Hallenboulder – genau genommen für jede selbstgewählte Aufgabe, der wir uns in ehrlichem Sportsgeist stellen. Berge sind eben eine schöne Metapher fürs Leben; für uns vielleicht die schönste – nicht zuletzt, weil sie so offensichtlich und einfach zu verstehen ist. Und spannende Nebenwirkungen hat.)

Mut und Demut also. Tun was geht – nicht unbedingt weniger, keinesfalls mehr. Für die schwierige Entscheidung zwischen „geht“ und „geht nicht“ braucht es Erfahrung, Kompetenz – und Reife, auch eine schwierige Entscheidung treffen und akzeptieren zu können. So wie manche Corona-Maßnahme für Politiker nicht einfach zu vertreten, weil unpopulär war – sie zu beachten aber Menschenpflicht zugunsten des gemeinsamen Ziels (und weil man in einer Demokratie mit dem ungeschriebenen Vertrag lebt, persönliche Ansichten und Wünsche den parlamentarisch ausgehandelten Regeln zugunsten der Gesellschaft unterzuordnen). Freilich kann man sich entscheiden, in einem „Nein“ nur schmerzhaften Verzicht zu sehen statt die Chance, das „Ja“ auf später zu vertagen. Man kann aber auch an den Satz denken, dass man erst zuhause auf dem Gipfel ist, weil das „Rauf“ erst durch das „Runter“ komplett wird, wie Ebbe durch Flut und Einatmen durch Ausatmen. Für unsere Gesellschaft könnte man Verzicht als die natürliche Gegenbewegung zum bisherigen Raubbau betrachten – nach dem Motto:

Wie kann man es Verzicht nennen, wenn man aufhören würde, künftigen Generationen die Lebensgrundlagen zu stehlen?

Dieser Ablauf – der Risiko-Dreischritt: Erkennen, Einschätzen, Entscheiden – prägt jede „gut“ gemachte Bergsport-Aktion, ob Projekt in der Kletterhalle oder Almwanderung, Klettersteig oder Eiger-Nordwand, Feierabendrunde auf der E-Bike-Hausstrecke oder neue Bestzeit am Runningtrail. Darüber hinaus hat jede solche Aktion die Strukturen eines Entwicklungsromans oder eines Heldenepos: Der „Held“ (oder die Heldin) hört den Ruf seiner Quest im Unbekannten, von der er nicht weiß, ob er ihr gewachsen ist; er löst sich aus seinen üblichen Zusammenhängen und stellt sich der Aufgabe; und danach kehrt er gereift oder gar geläutert zurück in die Gemeinschaft.

Viele Denker haben diese Struktur verarbeitet. Felix von Cube schrieb vom „Unsicherheitstrieb“, der uns treibe, Situationen der Unsicherheit aufzusuchen und sie mit unseren Kompetenzen in Situationen der Sicherheit zu verwandeln. Siegbert Warwitz verwendet das Rilke-Bild der „wachsenden Ringe“ für das Streben nach Vervollkommnung durch ständiges Pendeln zwischen Aufgabe und Erfüllung („Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen | die sich über die Dinge ziehn. | Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen | aber versuchen werde ich ihn“). Hartmut Rosa skizziert in seiner Resonanztheorie die Stufen der Entwicklung: Man hört den Ruf; man „bricht auf“ (wie auf Reisen und wie ein Same); man bringt sich ein und gibt alles; und mit etwas Gnade wird man – „unverfügbar“, also ohne vorherige Garantie – mit einem Gefühl der Einheit belohnt. Das kann „passiv“ funktionieren, durch Berührtwerden von etwas „Größerem“ (Musik, Bergpanorama, Sternenhimmel). Aber auch im aktiven Tun, in der völligen Hingabe an die selbstgestellte Aufgabe, kann man solche beglückenden Erfahrungen machen – wie Rosa in einem Gespräch für das AV-Jahrbuch „Berg 2021“ bestätigt hat.

Doch solche Erlebnisse von Resonanz, Einswerden, Berührung mit der Weltseele: Sie werden erst wertvoll auch für andere, wenn sich das „Rad der Transformation“ schließt (ein Begriff des umainstitut.net): wenn man mit neuem Geist zurückkommt in die Gemeinschaft. Würden wir unsere Berg(sport)-Erlebnisse nur egoistisch für unseren eigenen Spaß suchen, wären wir die Eskapisten, als die uns der frühere DAV-Kulturchef Helmut Zebhauser bezeichnet hat. Walter Bonatti dagegen hat darauf verwiesen, die wahre Aufgabe unseres vertikalen Unnützen sei es, „menschlicher zu werden“.

Am Berg haben wir gelernt, über uns selbst hinauszuwachsen und nicht gleich bei der ersten Schwierigkeit den Schwanz einzuziehen. In manchen begnadeten Momenten haben wir auch erfahren, wie sinnerfüllt es sich anfühlt, in Einklang zu sein: mit sich selbst und der gewählten Aufgabe, mit dem Partner, mit der Natur. Diese Erfahrungen könnten wir mitnehmen, um den Corona-Schock in einen Anlass zu verwandeln, die Welt zu einer besseren zu machen. Im Kleinen wie vielleicht auch im Größeren.

Was macht unser Leben wertvoll?

Die Erfahrungen während der Lockdowns und danach haben uns vieles in Erinnerung gerufen, was unser Leben wertvoll macht: Partnerschaft, Gemeinschaft, Naturerleben, Einklang statt Ehrgeiz. Sich vom Konsumdruck emanzipieren, Zeit er-leben, sich selbst und die Verbindung mit Freunden spüren. Diese sinnstiftenden Fundamente könnten wir pflegen, um am Berg wie im Leben auf den Beginn einer neuen Zeit hinzuarbeiten: einer Zeit des „Genug“ statt des „immer mehr“.

Die wichtigste Aufgabe dabei ist natürlich die Klima-Wende: Durch freiwilliges Verhalten und parallele Forderungen an Politik und gesellschaftliche Gruppen können wir darauf hinwirken, dass unser ökologischer Fußabdruck endlich wieder auf ein nachhaltiges Maß sinkt. Würden alle Menschen so leben wie derzeit die Deutschen, wären drei Erden nötig. Und wenn die Menschheit ihre Treibhausgas-Emissionen nicht bis spätestens 2050 auf Null senkt, wird es sehr unwahrscheinlich, die Erderwärmung auf unter 2°C gegenüber dem vorindustriellen Maß zu begrenzen. Damit stiege die Häufigkeit und Intensität von Katastrophen und Problemen über ein beherrschbares Maß – und die Kosten für Anpassungs-Reaktionen und Reparaturen summierten sich zu einem Vielfachen dessen, was uns heute das Agieren kosten würde. Zudem können spätestens ab 2°C Erwärmung „Kipp-Punkte“ erreicht werden, wo selbstverstärkende Teufelskreise anlaufen, etwa das Schmelzen des Sibirischen Permafrosts oder die Umkehr des Golfstroms, die alles vollends unkontrollierbar machen. Schon heute steht fest, dass die Alpengletscher mindestens um die Hälfte schrumpfen werden. Unser jetziges Verhalten entscheidet, ob es nach 2050 dabei bleiben könnte oder ob der Rest auch noch verloren geht – samt Auswirkungen auf die Wasserversorgung Europas, die alpine Ökologie und natürlich auch den Bergsport.

Die Aufgabe ist riesig; man könnte verzweifeln. Man könnte aber auch sagen: Wenn wir’s nicht mit aller Kraft versuchen, haben wir schon verloren. Deshalb dürfen wir dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren oder kurzfristigen Wirtschaftswachstums-Wiederankurbelungs-Wahnfantasien opfern. Du hast keine Chance – nutze sie. Ein Gefühl, das wir vom Sportklettern kennen. Und ins „echte“ Leben mitnehmen können.

Die Aufgabe ist riesig. Was tun?

Beginnen wir also klein, da wo es einigermaßen leicht und überschaubar ist. Am Berg können wir versuchen, Gas rauszunehmen. Souveränität und Exzellenz statt Zahlenjagd und Leistungsdruck. Qualität statt Quantität. „Schwierigkeiten mit Leichtigkeit überwinden“, wie es Bernd Arnold ausdrückt, „gut“ klettern statt nur schwer. Nicht nach neuer Bestzeit gieren, sondern sich freuen am eleganten Funktionieren des Körpers – und gerne auch an einer allmählichen Verbesserung. Oder, ganz ohne die Perspektive Leistung: Ziele nach Schönheit wählen, nicht nach Renommee. Einen Schritt langsamer gehen – und sich belohnen lassen durch plötzlich zu entdeckende Details am Wegrand oder durch anregende Gespräche. Mit mehr Jahren auf dem Buckel kann das auch heißen: loslassen lernen, ohne früheren Leistungen nachzutrauern oder nachzueifern, und sich an dem freuen, was noch gut geht (es kann mehr sein als man denkt).

Wenn wir am Berg (wieder) gelernt haben, dass weniger mehr sein kann, in der Ruhe die Kraft liegt, langsames Gehen gutes Gehen heißt, es ums (Er-)Leben geht, nicht ums Gewinnen: Dann könnten wir mal ausprobieren, ob das im Leben nicht ähnlich läuft. Wer mit Kollegen um Karriere konkurriert, wird nicht unbedingt glücklicher als jemand, der seine Aufgabe mit Freude und Achtsamkeit erledigt. Wer sich auf der Autobahn an Tempo 120 (oder weniger) orientiert, könnte feststellen, wie viel entspannter und gelassener die Fahrt sich anfühlt. Und wer seinen ökologischen Fußabdruck konsequent verkleinert – bei Mobilität, Energieversorgung, Konsum, Ernährung, durch Vermeiden und Reduzieren: Der könnte zumindest versuchen, sich darüber mehr zu freuen als über den neuesten Breitfernseher, SUV oder Außenwhirlpool. Leider sind wir in unserer Gesellschaft darauf konditioniert, dass wir Belohnungen vor allem aus der „Verfügbarmachung“ (H. Rosa) ziehen; das ist die Krankheit des kapitalistischen Wachstumssystems, mit dem Superspreader Werbung. Aber Freude an der Bescheidung aufs „Genug“ lässt sich lernen – bis dahin, dass man stolz aufs Verzichten wird. Und wenn es der Verzicht auf die regelmäßige Fahrt ins Gebirge ist.

Freude an der Bescheidung aufs „Genug“ lässt sich lernen – bis dahin, dass man stolz aufs Verzichten wird.

Trotzdem werden wir unsere Bergsportziele vielleicht seltener, aber immer wieder aufsuchen. Denn sie stiften uns Lebenssinn, lassen uns zum Fazit kommen: Das ist es mir wert. Dort werden wir dann auch Menschen begegnen, deren Verhalten uns stutzen lässt. Hallenklettern und Bergwandern sind die zwei Boomsportarten, die allein dem DAV jährlich rund 50.000 neue Mitglieder zutragen (vor Corona), das vermeintlich altbackene Wandern ist hip in der jungen Generation, das Durchschnittsalter auf Wanderwegen gefühlt um 30. Die Auslandsreise-Beschränkungen durch Corona haben den Zulauf noch verschärft. Ihren Zugang finden diese neuen Bergkameradinnen und -kameraden selten in klassischen Vereinsstrukturen, bestenfalls noch in organisierten Kursen. Viele lassen sich durch Internet und Social Media inspirieren, es einfach mal auszuprobieren – auf einen Berg hinaufwandern sieht ja auf den ersten Blick nicht sonderlich kompliziert aus.

Diese naive Unbedarftheit hat etwas Anrührendes, die Begeisterung für das große Abenteuer „draußen am Berg“ mag für uns saturierte alte Hasen romantische Vergangenheit sein, die höchstens gelegentlich noch aufblitzt. Doch Inkompetenz und fehlende Sozialisierung führen zusammen mit der großen Zahl zu Problemen. Im Corona-Sommer 2020 bekam der „Overtourism“ neue Dimensionen – Staus, chaotisches Parken, wildes Übernachten – und Konsequenzen. In Franken wurde ein Felsen, der wegen seiner Familientauglichkeit überrannt worden war, vom Eigentümer gesperrt. Für die Gumpen am Königsbachfall in Berchtesgaden, überlaufen und vermüllt wegen eines Social-Media-Hypes, verhängte die Nationalparkverwaltung eine Zugangssperre. An Freiwilligkeit appellierende Skitourenempfehlungen wurden wegen zu vieler Verstöße verschärft – und Infoschilder von anonymen Vandalen abgerissen.

Was ist der beste Umgang mit Egoisten, Ignoranten oder Unbedarften am Berg? Verbieten und Verdammen sind leicht. Aber Ausgrenzen ist das Gegenteil einer guten Zukunft. Hier könnte die Lehre aus dem Corona-Impuls heißen: Auf „neue“ Menschen am Berg zugehen, sie integrieren und in partnerschaftlichem Geist motivieren, sich so zu verhalten, dass ihr neues Spielzeug nicht gleich unbenutzbar wird. Wir selbst waren schließlich auch nicht immer Engel – und sind es auch heute nicht: Missverhalten kommt auch bei „Etablierten“ vor. Jetzt könnten wir Freunde der Berge uns als integrative community, als Familie oder Tribe bewähren. Und ohne erigierten Zeigefinger Menschen ansprechen, die sich ungünstig verhalten – so wie wir den Mitmenschen in der Kletterhalle freundschaftlich auf die Gefahren eines Sicherungsfehlers hinweisen.

Sind wir zu viele am Berg?

Die Alpenvereine stellt dieses Phänomen vor ganz neue, ungeahnte Fragen. Die „Erschließung der Berge“, die die Gründer als Satzungsziel formulierten, wurde stufenweise in Frage gestellt und verlangsamt; der DAV hat sie für sich 1977 bei der Hauptversammlung in Rosenheim für beendet erklärt. Heute muss sogar hinter das zweite Ziel „ihre Bereisung zu erleichtern“ ein großes Fragezeichen gesetzt werden. Alpenvereine können nicht ernsthaft rufen „besuchen Sie die Berge“, sonst leuchtet hinter diesem Slogan unübersehbar ein „solange es noch geht“ auf. Im Gegenteil müssen sie vielleicht sogar dafür appellieren, gar nicht mehr oder zumindest weniger in die Berge zu fahren. Waren die Abstinenzgründe früher die Gefahren, später der Naturschutz und in der „stay at home“-Phase von Corona der Infektionsschutz für Bergwachtler, so ist es heute die schiere Masse, die es zu beschränken gilt.

Keine Chance? Nutze sie! Das Gefühl aus den Bergen ins Leben mitnehmen. Foto: Andi Dick

„Wir sind zu viele“ heißt es, wenn 1,4 Millionen DAV-Mitglieder in die begrenzten Alpen drängen, jedenfalls wenn sie dabei die besonders kleinen Bayerischen Alpen ins Visier nehmen. Auch in punkto Mitgliederpolitik wäre Bescheidenheit („Genug“) angesagt. Es geht nicht darum, Menschen in die Berge zu locken, um dem Verein mehr Mitglieder und damit politisches Gewicht zu verleihen. Nein: Ein Großteil der neuen Bergsportler wird von externen Antreibern bewegt (Internet, Ausrüster, Tourismuswerbung). Trotzdem sollte man sie als AV-Mitglieder zu gewinnen versuchen, nämlich, um ihnen dessen Werte zu vermitteln: Vorsicht beim eigenverantwortlichen Erfahren persönlicher Freiheit; Einsicht in die notwendigen Grenzen dieser Freiheit; und daraus resultierende Rücksicht auf Klima, Natur und Menschen. Schließlich geht es um die gemeinsame Zukunft. Für die Natur. Für den Sport. Für ein gutes Miteinander. Corona hat uns gezeigt, dass das weltweite „immer mehr“ in die Katastrophe führt (es hätte noch viel schlimmer kommen können – und wir dürfen davon ausgehen, dass Anderes, noch Schlimmeres kommt).

Es ist Zeit für ein Leben des „Genug“. „Wir sind (mehr als) genug“ als neue Maxime des Alpenvereins. „Gut“ statt „besser“ ist mir gut genug – als Maxime beim Bergsport. „Ein gutes Leben braucht nicht mehr, es braucht nur genug, und das ist oft weniger als man denkt“ – als Wegweiser in eine Zukunft der Nachhaltigkeit. Ob wir die Welt retten können, als lebenswerten Lebensraum für alle Menschen, das ist zweifelhaft. Doch zum Versuch gibt es keine akzeptable Alternative. Wenn wir bei uns damit anfangen, spüren wir zumindest Lohn für jeden kleinen Schritt.