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Die Marketing-Industrie redet uns ein, dass nur die neueste Ausrüstung gut genug sei für unsere Erlebnisse am Berg. Archivbild: Andi Dick
von Andi Dick
05. Okt 2023 - 15 min Lesezeit

Recycling und Nachhaltigkeit für Bergsportausrüstung – das System (Teil II)

Alles dreht sich? Es ist ein Unding, Rohstoffe mühsam der Erde zu entreißen, wenn wir Millionen Tonnen Abfälle haben, die durch Recycling wieder als Rohstoffe verfügbar werden könnten. Wie gut sind die Systeme dazu aufgestellt – und wie sieht das insbesondere für Bergsportprodukte aus?

Wie kann man Kletterausrüstung – insbesondere Hardware – richtig recyceln? Diese relevante Frage erreichte unsere Redaktion in Form eines Leserbriefes. Gemeinsam mit der Panorama-Redaktion des Deutschen Alpenvereins haben wir den Status Quo zu diesem Thema zusammengefasst: Dieser Beitrag von bergundsteigen-Autor Andi Dick ist der zweite Teil unserer dreiteiligen Recycling-Serie.

Artikelserie: Recycling und Nachhaltigkeit für Bergsportausrüstung

Teil I: Kreislaufwirtschaft ist eine der drängendsten Aufgaben unserer Zeit. Was können wir selbst als Nutzerinnen und Nutzer von Bergsportausrüstung dazu beitragen?

Teil III: Die Hersteller von Bergsportausrüstung haben die Möglichkeit, den Materialkreislauf zu schließen. Allerdings sind sie für ihre Produktion auf (Recycling-)Rohstoffe angewiesen – und müssen letztlich ihre Kunden überzeugen.

„Wenn wir Abfall als Ressource verstehen, haben wir etwas erreicht.“

Prof. Edeltraud Günther, United Nations University UNU-Flores 

Prof. Edeltraud Günther bringt es auf den springenden Punkt: „Müll“ ist kein Dreck, der auf Deponien aufgehäuft gehört, sondern besteht oft aus wertvollen Rohstoffen, die man doch eigentlich wiedergewinnen können sollte. Ob Sofagarnitur, Handy oder Kletterschuh:

Was steht einem Materialkreislauf im Weg? Und: Warum schmelzen wir alte Seile nicht einfach ein und machen neue daraus?

Dies ist eine Frage ans „System“: an ein kompliziertes Geflecht aus politischen Zielen und Rahmenbedingungen, industriellen Netzwerken und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es sollte uns „Verbrauchern“ ermöglichen, Abfälle und ausrangierte Bergausrüstung in Wiederverwertungs-Kreisläufe einzuspeisen.

Hilke Patzwall, seit 2006 bei Vaude und als Nachhaltigkeitsmanagerin in diese Zusammenhänge eingebunden, hat dazu eine engagierte und klare Meinung: „Es sollte logistisch so einfach wie möglich gemacht werden, dass man Sachen nicht in den Restmüll gibt. Der europäische „Green Deal“ zeigt dazu einen guten Weg, denn freiwillig hat es bisher nicht funktioniert, weil Teile der Wirtschaft, Bequemlichkeit unseres eigenen Verhaltens und auch das Gesamtsystem aus gesetzlichen Regelungen und Anreizen derzeit noch zu stark bremsen. Wir sind Gegner von Freiwilligkeit und fordern daher ambitionierte gesetzliche Regelungen – zu Design, Rohstoffeinsatz, Berichtspflichten und Chemikalien. Das schafft Planungssicherheit und gleiche Marktbedingungen für alle.“

Auch Phil Westenberger, Abteilungsleiter Produkte bei Edelrid, ist kritisch:

„Aufs staatliche Müllsystem können wir uns derzeit nicht verlassen.“

Wie viel bringt der „Gelbe Sack“?

Dabei ist nicht alles mies; das Recycling von Glas und Papier über Sammelsysteme wie den Gelben Sack beispielsweise funktioniert gar nicht schlecht, attestiert Prof. Christina Dornack vom Institut für Abfall- und Kreislaufwirtschaft der TU Dresden.

Wohin mit dem Müll? Ein Film von der TU Dresden zur Müll- und Recyclingfrage

Problematisch ist Kunststoff. Denn da gibt es nicht einen, sondern an die 200 verschiedene Sorten plus spezielle Rezepturen, die oft noch in Kombinationen oder gar unlösbaren Verbindungen verwendet werden. Die Bilanz ist bedrückend: 14 Millionen Tonnen Kunststoffe werden jährlich allein in Deutschland hergestellt – sechs Millionen Tonnen davon fallen als Abfall an. Davon bleiben zwei Millionen Tonnen im Restmüll hängen, während 1,2 Millionen Tonnen gehen durch die Aufbereitung verloren gehen. Nur etwa 1,8 Millionen Tonnen sind letztlich als Recyclat nutzbar. Dr. Roman Maletz vom gleichen Dresdner Institut fasst zusammen: „Wenn wir theoretisch alle Kunststoff-Abfälle für die Neuproduktion nutzen würden, könnten wir 42 Prozent Zirkularität erreichen. Derzeit haben wir eine Zirkularität von 15 Prozent.“

Kunststoff ist also der Knackpunkt im Recycling. Und nicht nur dafür: Statt in Kreisläufen landet viel Plastikmüll im Export in ärmere Nationen, wo sich riesige Halden auftürmen – oder letzlich im Meer landen.

Das ultrafein zerriebene Mikroplastik ist mittlerweile selbst in der Tiefsee, der Antarktis und auf dem Everest nachweisbar und kontaminiert die Nahrungsketten.

Man wird diese Fremdkörper noch in späteren Erdzeitaltern feststellen können als einen markierenden Stoff des „Anthropozän“, neben CO2, Stickstoff aus Dünger und Plutonium. Gut, dass die internationale Politik daran arbeiten möchte, die Kunststoffmüllmenge zu reduzieren, womöglich sogar den Müllexport und die Verschmutzung der Meere zu stoppen. 175 UN-Staaten hatten im Juni dazu getagt. Aber die Mühlen der Politik waren noch nie sonderlich flott: 2025 ist das Ziel für den Abschluss der Verhandlungen – deren Ergebnisse dann noch umgesetzt werden müssen.

Doch selbst bei dem Kunststoff-Anteil, der es ins Recycling schafft, bleibt die Frage, wie viele Runden er in diesem Kreislauf dreht. So funktioniert beispielsweise die sortenreine Sammlung von PET-Flaschen dank der Pfandpflicht ziemlich gut: 75 Prozent dieses recycelten Kunststoffs aber werden zu nicht nochmals recycelbaren Produkten wie Textilien oder Verpackungsmaterial verarbeitet, fliegen also nach der ersten Runde schon raus. Und „zu viele Hersteller wollen von diesem hochwertigen Stoffstrom profitieren“, so Maletz.

Vor allem Fast-Fashion-Firmen (pro Kopf werden in Deutschland jährlich 60 Bekleidungsstücke gekauft) reißen sich um den nicht in beliebiger Menge verfügbaren Recycling-Kunststoff, um sich ein grünes Label anhängen zu können. Wird daraus aber Mischgewebe-Bekleidung erzeugt, ist diese für den weiteren Stoffkreislauf praktisch verloren.

Übrigens: Nur drei Prozent aller Textilien sind aus recyceltem Material, nur ein Prozent aus recycelten Textilien.

Maletz sagt, mit guten Erfassungssystemen könnten noch mehr hochwertige und sortenreine Stoffströme fürs Recycling gewonnen werden. So engagiert er sich in der Startup-Firma Holypoly, die Kunststoff verarbeitende Firmen zu Rücknahme- und Recyclingprojekten berät. Ein Unternehmen etwa sammelt in Skigebieten ausrangierte Skistiefel ein, baut sie auseinander und recycliert die Außenschale. Die Firma NUK erfasst in einem Recyclingprogramm gebrauchte Schnuller und Babyflaschen und lässt daraus Sandförmchen produzieren. Die Spielzeugfirma Mattel (Barbie) hat das Recyclingprogramm „PlayBack“ gestartet und plant, aus dem gesammelten, kaputten Spielzeug einen Kinderspielplatz zu bauen.

Die Firma Mattel nimmt ausrangiertes Spielzeug zurück und plant, mit dem recycelten Kunststoff einen Kinderspielplatz zu bauen. Foto: Mattel
Die Firma Mattel nimmt ausrangiertes Spielzeug zurück und plant, mit dem recycelten Kunststoff einen Kinderspielplatz zu bauen. Foto: Mattel

Schöne Ansätze – allerdings ist ein einziger Spielplatz nicht gerade eine große Menge. Und das Material erlebt ein „Downcycling“: Es wird nicht in gleicher Qualität wie vorher wiederverwendet.

Upcycling oder Wiederverwendung?

„Upcycling“ dagegen bedeutet, aus altem Material wieder hochwertige Neuwaren zu schaffen – den Rohstoff praktisch nicht nur im Kreislauf zu führen, sondern ihn dabei sogar aufzuwerten. Oft wird der Begriff Upcycling etwas anders verwendet, nämlich wenn ausrangiertes Material „nur“ zu neuen Produkten verarbeitet wird, ohne einen wirklichen technischen Recyclingschritt dazwischenzuschalten. Etwa, indem man aus dem alten Seil eine Obstschale oder einen Fußabstreifer bastelt; im Internet finden sich Bastelanleitungen dazu und viele AV-Jugendgruppen haben schon solche Aktionen organisiert.

Einen ähnlich direkten Pfad versuchen einige junge Aktive zu beschreiten. Das Projekt Newseed aus Rosenheim etwa stellt in Kletterhallen Tonnen auf, in die man ausrangierte Seile werfen kann; daraus entstehen dann Chalkbags, Taschen, Liegestuhlbezüge oder gar Teppiche – und alles mögliche weitere. 

Die Österreicherin Jana Gams bietet auf ihrer Website para-upcycling.at Taschen und Rucksäcke an, die sie aus eingesandten Gleitschirmen näht. Auch aus Rosenheim kommt die kleine Firma Doghammer, die Weinkorken und Skifelle sammelt und für ihre Wanderschuhe, Sandalen und Hüttenschuhe verwendet; das jüngste Produkt, die Outdoorsandale Dog2Go Newseed hat Riemen aus Kletterseilen, die die Kollegen von Newseed beisteuern (siehe Galeriebild). 

Vaude hat aus DAV-Werbebannern vom Boulder-Weltcup das „Upsackerl“ produziert und eine Upcycling-Werkstatt mit Geflüchteten veranstaltet. Und die JDAV hat mit ihrem Partner in dem wortspielerischen Projekt „down upcycling“ aus gesammelten Daunenklamotten und Bettdecken neue Daunenjacken erzeugt.

Das sind schöne Projekte, die Altmaterial sogar ohne großen technischen Aufbereitungs-Aufwand wieder sinnvoll nutzbar machen. Darüberhinaus pflanzt Newseed für jede Bestellung einen Baum, Mattel spendet einen Euro pro Kilo Plastik an „Bild hilft e.V“.

Allerdings stellt sich die Frage, wer so viele Fußabstreifer braucht, wie aus verbrauchten Kletterseilen hergestellt werden könnten. Und die Zahlen sind zwar schön, aber nicht weltverändernd: Doghammer etwa hat eine Tonne Kork wiederverwendet, 140 Quadratmeter Skifell, 270 Meter Seile und 340 PET-Flaschen.

Rücknahmesysteme: woher und wohin?

Egal ob für solche „Upcycling“-Produkte oder für sortenreines optimales Recycling: Produkt-Rücknahmeangebote wären eine gute Sache. Also wenn wir die ausrangierten Ski, die Stirnlampe, den Schlafsack einfach in der Kletterhalle oder beim Fachhandel abgeben oder an den Hersteller zurücksenden könnten. Vorgeschrieben ist diese „erweiterte Produktverantwortung“ leider nur bei Verpackung und bei Elektrogeräten, wie Roman Maletz anmerkt. Er sieht allerdings auch einen Widerspruch bei vielen Menschen zwischen dem Umweltanspruch und der Bereitschaft für persönliches Engagement. Erfahrungen von Herstellern belegen diesen: So bekam Goretex auf ein Rücknahmeangebot für Jacken zum sortenreinen Recycling in zwei Jahren gerade einmal 30 Jacken zugeschickt. Auch Vaude und Edelrid berichten von ähnlich enttäuschenden Versuchen.

Deshalb sind sich die Hersteller einig, dass es größere Dimensionen brauche, bis bei mäßiger Motivation der Verbraucher relevante Mengen an Recycling-Rohstoffen zusammenkämen.

Als einzelne Marke hast du keine große Reichweite. Es müsse industrieübergreifend organisiert werden oder über große Handelsketten.

Phil Westenberger von Edelrid

Christoph Driever von Petzl Deutschland: „Die PSA-Branche ist noch am Anfang für Rücknahmesysteme. Und das EU-Recht ist nicht einheitlich genug, um einen paneuropäischen Prozess aufzusetzen.“ Hilke Patzwall von Vaude: „Es gibt viele Startups zur Materialtrennung fürs Recycling – das bräuchte staatliche Förderung, um massentauglich zu werden. Denn es muss industrieweit gelöst werden. Dazu muss man die Akteure zusammenschalten, wie es die Initiative „Accelerating Circularity“ versucht.“

Und trotz schlechter Erfahrung mit einem Rücknahmeprojekt ist sie überzeugt: „Lineare Prozesse sind ein Irrweg. Wir müssen Materialien im Kreislauf führen.“ Roman Maletz bringt dazu Erfahrungen aus seinem Startup ein: „Man muss die Rücknahme schon im Vertrieb mitdenken, etwa durch Pfandsysteme. Wie es die Telefonhersteller wegen dem Gold auf den Platinen machen. Aber die Akzeptanz in der Gesellschaft fehlt noch etwas, das Marketing zwingt zu Kauf und Besitz. Es sollte als cool gelten, ein gebrauchtes Produkt gut zurückzuschicken.“

Wobei es dann noch vom Produkt abhängt, wie tauglich es ist für sortenreines Recycling. Ein Rucksack etwa hat bis zu 60 verschiedene Materialien, merkt Hilke Patzwall an, Jacken und Schlafsäcke seien etwas einfacher nach Stoffen zu trennen. Und „bei komplexen Produkten, die aus verschiedenen Materialien zusammengebaut sind, kann die sortenreine Zerlegung schwierig, aufwändig und teurer als die Produktion sein“, sagt Christoph Driever.

Die spätere Sortentrennung schon im Design mitzudenken ist eine Aufgabe, die in den letzten Jahren in der Outdoorbranche zunehmend wichtig wurde; mehr dazu im dritten Beitrag dieser Serie.

Recycling – was kann draus werden?

Nehmen wir einmal an, wir hätten – per Gelbem Sack oder durch Rücknahmeprojekte – sortenreine Kunststoffe in großen Mengen vorliegen: Wie werden wieder neue Produkte daraus? Das wiederum hängt vom Produkt und von der Sorte des Kunststoffs ab. Schauen wir nochmal aufs Beispiel PET: Gesammelte Pfandflaschen werden im Recyclingprozess gespült, kleingehäckselt, eingeschmolzen und zu Granulat verarbeitet, zu Körnern gleichmäßiger Größe. Diese können Weiterverarbeiter dann wieder schmelzen und daraus Formteile spritzen (Helmschale) oder Garne ziehen (für Stoff-Gewebe). Und wenn diese als Monokunststoff verarbeitet und nicht mit anderen vermischt werden, könnten sie zuletzt weiter im Kreislauf bleiben.

Für anspruchslose Produkte funktioniert dieses „mechanische Recycling“ gut. Wenn die Jacke aus Recycling-PET einen Riss bekommt, stirbt man nicht gleich. Schwieriger ist es, PSA-Produkte aus Kreislauf-Rohstoffen zu erzeugen – also „persönliche Schutzausrüstung“ wie Seile oder Gurte, an denen das Leben hängt.

Davon kann Phil Westenberger ein ganzes Liederbuch singen; als Produktverantwortlicher bei Edelrid hat er viel Energie in das Thema gesteckt. Schon Metall aus Recycling gebe es nicht in ausreichend hoher Qualität, weil zuviele Legierungen im Spiel seien.

Polyester lasse sich passabel verarbeiten; für Klettergurte, Schlingen und Statikseile setzt Edelrid schon Recyclingmaterial ein (Galerie oben). Aber ein gebrauchtes dynamisches Bergseil, das aus Polyamid besteht und das über Fels, Staub und Schnee gezogen wurde, wieder zu einem gleichwertigen Seil zu recyceln, das sei „der Heilige Gral“.

Denn über mechanisches Recycling Polyamid-Garne in der benötigten Mikrometer-Dünne zu spritzen (die Fachleute sagen „spinnen“), ist schon bei unbenutzten (pre-consumer) Seilresten extrem schwierig. Fast sechs Jahre Entwicklungszeit und intensive Zusammenarbeit mit Granulier- und Spinnfabriken stecken etwa in dem Seil Neo 3R mit 9,8 Millimetern, das zu 50 Prozent aus Seilabfällen aus der Fertigung besteht (Galeriebild 3).

Emissions-Vergleich der Edelrid-Seile: Der Der Löwenanteil steckt im Material; das „Neo 3R“, das zur Hälfte aus Rezyklat besteht, ist ca. 20 Prozent emissionsärmer.

Und es ist rund ein Drittel teurer als ein vergleichbares Seil aus fossilen Rohstoffen – ein 100 Prozent-Recyclingseil wäre so teuer, dass es am Markt kaum eine Chance hätte (wir erinnern uns: Wenn’s ums Geld geht, werden beim Umweltanspruch schnell zwei, drei Augen zugedrückt…).

Westenberger hat auch eine differenzierte Ansicht zum Schlagwort Upcycling:

Der Begriff „-cycling“ sollte immer einen Prozess bezeichnen, der aus „Abfall“ wieder einen Grund-Rohstoff macht, also beispielsweise ein Kunststoff-Granulat.

Was man aus diesem dann herstellt, könnte die Vorsilbe bestimmen, gemessen an der monetären Wertigkeit:

  • Seil zu PET-Flasche = Downcycling
  • Seil zu Seil = Recycling
  • PET-Flasche zu Seil = Upcycling


Der monetäre Vergleich sei allerdings nicht immer einfach, deshalb hält er nicht viel von „up“ oder „down“: Entscheidend ist der Kreislauf – und dass der mehrfach durchlaufen wird. Generell ist also alles andere, was nicht zersetzt und in einen Ausgangsrohstoff zurückgeführt wird, „Reuse“, also Wiederverwendung – was wiederum nichts mit „-cycling“ zu tun hat.

Chemisches Recycling: der Königsweg?

Wer also diesen Heiligen Gral ergattern will „Wie wird aus einem gebrauchten Polyamid-Kletterseil wieder ein neues?“, könnte die Lösung vielleicht im „chemischen Recycling“ suchen. Kleine Erklärung, Chemie zehnte Klasse: Kunststoffe sind lange Kettenmoleküle, in denen viele kleinere Moleküle eines Ausgangsstoffes (Ester, Amid, Ethylen, Styrol…) miteinander verbunden sind: man nennt das polymerisiert, daher die Vorsilbe „Poly“ bei den Kunststoffsorten. Bräche man diese Bindungen auf, erhielte man wieder den Ausgangsstoff, den man nach einem Reinigungsvorgang neu hochwertig polymerisieren könnte. Nach Methoden, um die Bindungen aufzubrechen, wird derzeit eifrig geforscht, bis hin zu biochemischen Verfahren mit Enzymen oder Algen. Auch reicht das Aufbrechen nicht unbedingt aus, sondern die Grundstoffe müssen vor der Polymerisation noch weitere chemische Reaktionen durchlaufen. Nur wenige Ansätze zum chemischen Recycling haben es bisher aus dem Labor in Prototyp-Anlagen oder gar zum Industriemaßstab geschafft. Aber das Potenzial ist groß, der Bedarf könnte gewaltig werden.

Zum Kunststoffrecycling gibt es viele Ansätze; vor allem das chemische Recycling könnte eine Zukunftstechnologie sein, doch braucht es dazu noch einiges an Forschung und Entwicklung. Grafik: Nova Institut
Zum Kunststoffrecycling gibt es viele Ansätze; vor allem das chemische Recycling könnte eine Zukunftstechnologie sein, doch braucht es dazu noch einiges an Forschung und Entwicklung. Grafik: Nova Institut

Gemeinsam ist praktisch allen heute gebräuchlichen chemischen Recyclingverfahren, dass sie viel Energie benötigen. Deshalb werden sie kritisiert – wenn die Aufbereitung mehr Energie kostet als die herkömmliche Rohstoffgewinnung, scheint der Nutzen fraglich. Andererseits: Die Sonne schickt ein Vieltausendfaches der von der Menschheit benötigten Energie auf die Erde. „Eine Beschleunigung der Energiewende durch einen schnelleren Ausstieg aus fossilen Brennstoffen sehen wir daher als einen wichtigen Hebel für eine gelingende Kreislaufwirtschaft“, liest man denn auch bei Vaude. Wir sollten eben möglichst bald die Transformation hin zu 200 Prozent Ökostromabdeckung geschafft haben; 100 Prozent fürs Bisherige (gerne minus Einsparungen), + 30 Prozent für Elektroautos, + 30 Prozent für Wärmepumpen, +30-40 Prozent für Industrieprozesse wie etwa chemisches Recycling – weitere Überkapazitäten könnten dann als Wasserstoff gespeichert und genutzt werden.

Doch auch heute schon haben viele (nicht alle) chemisch recycelte Rohstoffe eine positive Ökobilanz – umso besser, je sortenreiner vorsortiert sie sind (aha, siehe oben …). So bietet Vaude etwa funktionelle Outdoorhosen aus recycelten Altreifen an. Bei den Reifen werden die Polymer-Bindungen durch ein Verfahren namens Pyrolyse aufgespalten: bei hoher Temperatur unter Sauerstoffausschluss – bekannt vom Selbstreinigungsprogramm moderner Backöfen. Altreifen gibt es durch ein etabliertes Sammelsystem in Menge und sortenrein; aus dem Pyrolyse-Öl wird Polyamid, und Vaude errechnet eine Emissions-Einsparung von 60 Prozent.

Geht’s auch anders?

Bis chemische Recyclingverfahren umfassend etabliert sein werden, dürfte es noch eine Weile dauern. Bis dahin behelfen sich viele Hersteller gerne damit, recycelte Kunststoffe durch Beimischung von neuen (aus Erdöl gewonnenen) aufzubessern.

Man könnte allerdings auch ganz anders denken: bescheidener. So wünscht sich der Abfallforscher Roman Maletz mehr „Bereitschaft zu Kompromissen bei Herstellern und Kunden, wenn Rezyklat nicht 100 Prozent gleichwertig ist“ und regt an, dass man sich wieder mit etwas dickeren Seilen und Gurten anfreunden könnte – schließlich waren Einfachseile in den siebziger Jahren mal elf Millimeter stark. Auch wenn er betont, dass so etwas vor allem in anderen, weniger kritischen Anwendungsgebieten umgesetzt werden könne und müsse. Schließlich weiß er als Bergsteiger selbst um die Bedeutung des Seils. Doch mit Blick darauf, wie lange die Menschheit noch fossile Rohstoffe verbrauchen möchte, fragt er provokant: „Was wäre, wenn es kein Primärmaterial mehr gibt?“. Für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft kann sich Maletz auch weitere Maßnahmen vorstellen wie einen „Preisaufschlag auf neue Rohstoffe, damit die Wiederverwertung im Vergleich günstiger wird“.

„Kreislaufwirtschaft ist der Weg, den man gehen muss, aber er ist mühsam – und für PSA noch mehr“, sagt Phil Westenberger und merkt an: „Die Marketingsprüche sind teilweise haarsträubend.“ Brauchen wir wirklich alles in optimaler Überflieger-Qualität? Oder können wir vielleicht ein bisschen Mehrgewicht in Kauf nehmen, um Energie und Emissionen im Recyclingprozess zu sparen? Bei allen berechtigten Ansprüchen an das gesellschaftliche Recycling-„System“: Wichtige Stellschrauben können wir alle selber drehen.