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Merkblatt „Achtung Lawinen!“
09. Feb 2023 - 9 min Lesezeit

„Achtung Lawinen!“ – Was ist neu im Faltblatt?

Das aktualisierte Merkblatt „Achtung Lawinen!“ ist ein faltbarer Flyer zum Mitnehmen und die Grundlage der gemeinsamen Lawinenausbildung aller Alpinsportverbände in Deutschland. Was ist neu am überarbeiteten Faltblatt? Und welche Ansätze kommen direkt aus der deutschen Bergführerausbildung?

Geschichte der Lawinenkunde

Schon seit es Lawinenkunde gibt, gab es in Deutschland (und nicht nur dort) unterschiedliche Ansichten und Strömungen um die richtige Methode zur Beurteilung der Lawinengefahr. Verschiedenste Hilfsmittel und Denkansätze wie zum Beispiel die Verknüpfung von Norwegertest und Schneedeckenanalyse von Walter Kellermann wurden propagiert. Viele der jüngeren Leser werden solche Methoden gar nicht mehr kennen. Neuere Strömungen Anfang der Neunzigerjahre zur analytischen Beurteilung der Schneedecke entwickelte Martin Engler als einer der innovativen Vordenker mit seinem Faktorencheck mit klaren Anweisungen zur strategischen Verknüpfung der lawinenbildenden Faktoren.

Heute sind daraus die Tiroler Muster oder Lawinenprobleme entstanden, die nach einer sehr ähnlichen Logik einzeln betrachtet werden (sollten) und erst anschließend zu einer Entscheidung verknüpft werden (sollten). Schließlich trat Anfang der Neunziger des letzten Jahrhunderts Werner Munter auf den Plan (Professionelle Reduktionsmethode 1992). Ihm ist der unzweifelhafte Verdienst zuzuordnen, dass er mit einer vollkommen neuen Denkweise frischen Wind in die Sichtweise auf die Gefahr bzw. das Risiko der Auslösung von Lawinen brachte.

Vor allem seine Reduktionsmethode zur statistischen Abschätzung des Lawinenrisikos war eine geradezu revolutionäre und neue Art, mit diesem komplexen und mit hohen Unsicherheiten belegten Thema umzugehen. Wie es so seine Art, ist und war, ließ er jedoch neben seiner Art die Dinge zu durchdringen, keine anderen Betrachtungen zu. In der Folge kam es in vielen Ländern zu immerwährenden Diskussionen zwischen verschiedenen Lagern, in denen es ähnlich wie bei Religionskriegen nur ein Richtig oder Falsch gab.

Schweizer Merkblatt "Achtung Lawinen"
Das Schweizer Merkblatt „Achtung Lawinen!“ im Wandel der Zeit. 1995 wurde es erstmals herausgebracht.

Diesen „Krieg“ fochten im Wesentlichen zwei Lager aus: Die „Munter- Jünger“ verteufelten fortan lautstark und streng gläubig jegliche Art von analytischer Betrachtung der Schneedecke, während die „Traditionalisten“ die Auffassung vertraten, dass es der komplexen Materie einfach nicht gerecht würde, wenn man mit Statistik und Formeln dieses Spannungsfeld zu lösen versuchte.

Ein drittes Lager hingegen versuchte aufgeklärt die beiden Hilfsmittel Analytik und Statistik innerhalb einer Strategie zu verknüpfen. Dabei wurde die Reduktionsmethode in unterschiedlichen Ausprägungen weiterentwickelt, z. B. von Jan Mersch und Martin Engler mit der SnowCard, die wiederum in der Schweiz zur grafischen Reduktionsmethode „vereinfacht“ wurde.

Sie verteufelten das Neue nicht, warfen aber auch bekanntes Wissen nicht über Bord. Auch in Österreich entstand mit Stop or Go ein vergleichbares Risikomanagement-Tool. Alle diese Protagonisten versuchten, das Beste herauszuziehen und in verschiedenen Varianten gute und treffsichere Strategien zu erarbeiten. In der deutschen Bergführerausbildung einigte man sich vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Strömungen darauf, wertfrei beide Strategien (Reduktionsmethode und SnowCard) zu lehren und es den Auszubildenden zu überlassen, sich eine eigene Meinung zu bilden, was sie fortan bevorzugen möchten.

Grundlage dieser Ausbildungsrichtung war die Haltung, dass es weniger wichtig ist, was man anwendet, als dass man überhaupt etwas anwendet und vor allem sinnvoll verknüpft. Im Laufe der Jahre entwickelte sich das dann immer mehr dahin, dass man in der Tourenplanung probabilistisch und am Einzelhang analytisch vorging.

Im Deutschen Alpenverein gab es dagegen eine klare Handlungsempfehlung zu einer Strategie mit SnowCard und Analytik im Rahmen von Munters 3×3 auch am Einzelhang. Dieses strategische Risikomanagement wurde in vielen Nuancen bis heute geschärft und weiterentwickelt. In Österreich setzte sich beim ÖAV Stop or Go durch und in der Schweiz gilt schon über Jahre hinweg die grafische Reduktionsmethode als favorisierte Herangehensweise.

Skitourenguru entwickelt
vom Schweizer IT-Spezialisten Günter
Schmudlach
Neu im deutschen Faltblatt ist der Hinweis auf das probabilistische Instrument Skitourenguru, welches vom Schweizer IT-Spezialisten Günter Schmudlach entwickelt wurde. Mit dem auf einem Algorithmus basierenden Onlinetool wurde ein neues Kapitel in Tourenplanung und Risikomanagement aufgeschlagen.

Unbestrittener Verdienst Werner Munters ist es dabei, dass sich alpenweit in allen Ländern die von ihm formulierte 3×3-Formel etabliert hat und Bestandteil aller Ausbildungen geworden ist. Wobei der im 3×3 auch von ihm formulierte Faktor Mensch leider oft untergeht, sprich die Frage, wie konsequent der Durchschnittsanwender im Durcharbeiten aller 3×3-Ebenen ist. Aber diese Fehlerquelle kann wohl bei allen strategischen Konzepten zuschlagen und wäre einen eigenen Artikel wert.

Vorläufer

Das in der Schweiz ansässige SLF war es dann, welches mit seinem Faltblatt „ACHTUNG LAWINEN!“ erstmalig 1995 ein Merkblatt zur Lawinenbeurteilung herausgab. 2009 wurde dann unter Mitwirkung aller alpinausbildenden Verbände und auch anderer mit dem Winter befassten Institutionen (SLF, Schweizer Alpenclub, Schweizer Bergführerverband, Bundesamt für Sport und weitere) die sechste Auflage herausgegeben, hinter der alle daran beteiligten Verbände standen. Sowohl der Grundgedanke (man einigt sich in einem Land auf einen Minimalkonsens) als auch die Aufmachung (das Format des Faltblattes, genial gefaltet) waren geradezu wegweisend.

Von der Idee fasziniert, wurde im Deutschen Alpenverein die Idee einer länderübergreifenden Zusammenarbeit geboren, weshalb man auch in Deutschland im Jahr 2011 in diese Richtung ging und nach einer – aus kollegialer und auch urheberrechtlicher Sicht – erfolgten Genehmigung durch das SLF, eine formal an das Schweizer Faltblatt angelehnte, aber inhaltlich eigenständige, deutsche Version des Faltblattes erarbeitete und herausbrachte. So gibt es seither im gleichen Format und mit ähnlicher Aufmachung in zwei deutschsprachigen Ländern eine Handlungsempfehlung zur Lawinenkunde, hinter der die wesentlichen alpinausbildenden Verbände stehen. In Deutschland existiert aktuell die dritte Auflage, in der Schweiz bereits die siebte.

Aufgabenstellung, Ziel und Verwendungszweck

Ziel des Faltblattes ist es, eine Strukturhilfe für Multiplikator*innen herauszugeben, die inhaltlich innerhalb der deutschen alpin ausbildenden Verbände abgestimmt ist und die für das Lehren und Beurteilen hinsichtlich des Themas Lawine als gemeinsame Grundlage dienen soll. Durch das handliche Format soll eine komprimierte Hilfestellung angeboten werden, die auf Touren und Hütten problemlos mitgeführt werden und somit oft zur Anwendung kommen kann.

Durch die breite Beteiligung der teilnehmenden Verbände (Deutscher Alpenverein, Verband deutscher Berg- und Skiführer, Deutscher Skilehrerverband, Naturfreunde, Deutscher Skiverband, Heeresbergführerverband, Polizeibergführerverband, bayerische Polizei), welche alle für die neueste Auflage des Faltblattes im Bayerischen Kuratorium für alpine Sicherheit zusammengearbeitet haben, sowie die Unterstützung durch die Bayerische Lawinenwarnzentrale und die Bergwacht Bayern konnte eine maximal breite Basis sichergestellt werden. Die konsensualen Inhalte sollen eine möglichst hohe Akzeptanz und somit Marktdurchdringung sicherstellen.

Das neue Faltblatt

Das neue Faltblatt (erschienen Winter 2021/22) wurde nach intensiver Abstimmung der beteiligten Verbände und Unterstützer auf den neuesten Stand gebracht. Die Inhalte gliedern sich dabei wie folgt: Lawinengefahrenstufen, Lawinenlagebericht und probabilistische Instrumente, Entscheiden, Faktor Mensch, Lawinenarten, Schneedeckenaufbau und typische Lawinenprobleme, Gelände sowie Lawinenunfall.

Im Bereich der Lawinengefahrenstufen und des Lawinenlageberichts wurden im Wesentlichen Anpassungen auf die neuesten Bezeichnungen vorgenommen, womit Ausbilder*innen nun ein Nachschlagewerk haben, das sich semantisch mit den aktuellen Veröffentlichungen in diesem Bereich deckt. Bei den probabilistischen Instrumenten zeigt sich die aufgeklärte Haltung der beteiligten Verbände. Anhand der Beispiele SnowCard, graphische Reduktionsmethode und Skitourenguru soll gezeigt werden, dass in erster Linie nicht eine bestimmte Methode das Mittel der Wahl ist, sondern generell das Sich-Bedienen eines solchen Instrumentes.

Neu integriert in das Faltblatt ist die GKMR-Methode
Neu integriert in das Faltblatt ist die GKMR-Methode: Gefahren erkennen und beurteilen, Konsequenzen abschätzen Maßnahmen ergreifen und Risiko bewerten.

Auch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass digitale Hilfsmittel immer mehr Raum einnehmen. Die Auflistung und Erläuterung der typischen Haupt-Lawinenprobleme sollen den Blick auf diese und deren Erkennbarkeit richten, weil man sich davon eine für eine Entscheidung maßgebliche Fokussierung erwartet.

Mehr Platz und eine neue Visualisierung wurde beim Thema Entscheiden vorgenommen. Hintergrund ist, dass man in der Ausbildung feststellte, dass viele Auszubildende zwar über ein qualifiziertes Fachwissen in den einzelnen Teilbereichen verfügen, jedoch ein Mangel darin besteht, dieses Wissen planmäßig zusammenzuführen und in gute Entscheidungen münden zu lassen.

Da es in den Verbänden wie so oft verschiedene Herangehensweisen bzgl. des Risikomanagements gab und gibt, einigte man sich in der Faltblatt-Arbeitsgruppe darauf, die von Benjamin Reuter und Chris Semmel entwickelte GKMR-Methode in der neuen Auflage zu integrieren, welche in der deutschen Bergführerausbildung bereits seit einigen Jahren gelehrt wird.

Durch die Faltung und die seitlichen Reiter bietet das Merkblatt eine übersichtliche Gliederung, in der man sich umgehend zurechtfindet.
Durch die Faltung und die seitlichen Reiter bietet das Merkblatt eine übersichtliche Gliederung, in der man sich umgehend zurechtfindet. Foto: Bernhard Kapelari

In bergundsteigen #101 und #113 wurde über diese Art der Entscheidungsfindung bereits berichtet. Der Fokus im Faltblatt richtet sich im Gegensatz zu vorbeschriebenen Artikeln dabei aber weniger auf die Instrumente, derer man sich während des Ablaufschemas G-K-M-R bedient, sondern auf das Schema an sich. Nach Auffassung der Verfasser des Faltblattes kann man Entscheidungen mit hoher Trefferquote dann erreichen, wenn man sich der Reihe nach Gedanken darüber macht, welche Gefahr vorhanden ist, welche Konsequenzen diese nach sich ziehen könnte, mit welchen Maßnahmen die Auswirkungen eines Lawinenabgangs in der konkreten Situation reduziert werden können und zu welcher abschließenden Risikobeurteilung man kommt.

Welcher Tools man sich innerhalb dieser einzelnen Schritte bedient, ist dabei nach Überzeugung der inhaltsgebenden Arbeitsgruppe von untergeordneter Bedeutung. Jede/r kann sich also nach seiner/ihrer Fasson in seinem Werkzeugkasten bedienen, er/sie soll sich aber den übergeordneten G-K-M-R-Plan halten. Graphisch ansprechend aufbereitet wird veranschaulicht, wie sich GKMR in die 3×3-Methode einfügt und es wird gezeigt, dass der Faktor Mensch übergreifend über alle Phasen eine einflussnehmende Größe darstellt.

Neu integriert wurde beim Topic Lawinengrößen eine Abschätzungsmöglichkeit zum Auslaufbereich von Schneebrettlawinen mittels Pauschalgefälle (erstmals veröffentlicht im Winterjournal von Reuter/ Semmel) und bei den Konsequenzen eine strukturierte Abfragemöglichkeit bzgl. der drei Fragestellungen mechanische Verletzungen, Verschüttung und involvierte Personen. Dem Faktor Mensch wird in der neuesten Auflage in einem eigenen Bereich angemessener Raum gegeben.

Kooperation

Seit Herbst 2022 sind die Bergführerverbände der Schweiz, von Österreich, Deutschland und Südtirol als Redaktionsbeiräte bei bergundsteigen mit an Bord. Daher erscheint ab nun in jeder Ausgabe ein Beitrag dieser Verbände. Die Serie soll informieren und zugleich zu einem konstruk- tiven Austausch zwischen den Verbänden anregen und dadurch auch indirekt die Bergführerausbildung weiterentwickeln.

Dabei wird deutlich, dass nicht nur Wahrnehmungsfallen und Sinnestäuschungen unsere Entscheidungen negativ beeinflussen, auch die sich aus Gruppen heraus ergebenden Aspekte werden behandelt. Wie obenstehend bereits erwähnt, bleibt der Faktor Mensch allerdings bei allem Risikomanagement und den vielen Beurteilungstools zu den einzelnen lawinenbildenden Faktoren der am schlechtesten zu greifende Baustein. Zu unterschiedlich und vielschichtig sind innermenschliche Prozesse, um sie in griffigen Formeln und somit wirksam zu erfassen.

Die bei Ausbildern gut bekannten Bereiche Lawinenarten, Gelände, Schneedeckenaufbau und ein Abschnitt mit Hinweisen zum richtigen Verhalten bei einem Lawinenunfall komplettieren das Faltblatt im Sinne eines umfassenden Kompendiums. Interessant war für die beteiligten Mitarbeiter der Verbände in der Arbeitsgruppe zur Überarbeitung des Faltblattes die Erfahrung, dass es durchaus möglich ist, in einem von Verbandsinteressen befreiten und konstruktiven Umfeld durch Diskussionen andere Sicht- und Herangehensweisen besser zu verstehen, und sich so am Ende gute Lösungen für alle erzielen lassen. Nach wie vor ist es auch für den vielfachen Anwender des Faltblattes faszinierend, wie man durch die Faltung und die seitlichen Reiter eine übersichtliche Gliederung und Übersicht erfunden hat. Der Schweizer Gründlichkeit und dem Schweizer Vorbild sei Dank.

Ausblick

Die Mitgliedsverbände des Bayerischen Kuratoriums haben sich nun der schwierigen Aufgabe verschrieben, ein vergleichbares Werk für den Endverbraucher zu erstellen. Warten wir ab, was die Zukunft in diesem Bereich bringen wird.

Wo kann man das Faltblatt beziehen?

Das Faltblatt kann für Mitglieder bei allen Mitgliedsverbänden des Bayerischen Kuratoriums für alpine Sicherheit in Papierform bezogen oder hier als PDF downgeloaded werden.

Erschienen in der
Ausgabe #121 (Winter 22-23)

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