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Abseilen Fessura centrale Hintergrund Marmolata
21. Aug 2023 - 5 min Lesezeit

Dolomiten: Neue Touren in der Sellagruppe

Letzten Sommer sind eine erstaunliche Anzahl von alpinen Kletterrouten am 1. Sellaturm (2.533 m) und am Piz Ciavazes (2.836 m) entstanden. Dieses vom Sellapass ausgehend sehr zugängliche Gebiet mit seinen regelmäßigen, rhythmischen, fast schon musikalisch angeordneten drei Türmen hat trotz der oft überfüllten und lärmbelasteten Passstraße nichts von seiner Faszination eingebüßt.

Diese rhythmische, geometrisch exakte Ordnung wiederholt sich ganz besonders am nahen Piz Ciavazes. Seine Südwand gleicht einer eindrucksvollen, unüberwindbaren, rechteckigen Mauer. Genau in der Wandmitte teilt das sogenannte Gamsband, über welches die meisten Kletterer absteigen, dieses Gemäuer.

Zwei tiefe, senkrechte Schluchten geben die Gliederung der Wand in sechs regelmäßige, quadratische Flächen. Hier hat das hochkarätige Erschließerteam mit dem Philosophen und Buchautor Heinz Grill, dem einheimischen Bergführer Ivo Rabanser, dem Bergführer Florian Kluckner, Bergführer und Gebrüder Franz (Bergführer) und Martin Heiß zusammen mit den Begleiterinnen Barbara Holzer und Sandra Schieder sechs neue Wege erschlossen.

Gipelplateau des Piz Ciavazes, Blick auf die Marmolata
Am Gipelplateau des Piz Ciavazes, links die Pordoi Westwand mit dem schuttigen Ringband und die vergletscherte Marmolata.

Dabei haben sie ihre Ideenkraft, Kreativität, ihren Spürsinn für lohnende Linien erneut unter Beweis gestellt. Nicht zu vergessen ist, dass diesen, durchwegs lohnenden Routen mit unterschiedlicher Länge, unterschiedlichen Anspruch und Schwierigkeitsgrad eine große Säuberungsarbeit vorausgegangen ist. Die leichteste und zugänglichste Route befindet sich am Piz Ciavazes im linken unteren Wandteil, in der Nähe des Abstieges vom 1. und 2. Sellaturm.

Die „Via del Cono“ (Kegel)

… weist Schwierigkeiten mit Stellen bis VI- auf, bewegt sich meist im V und oberen IV Grad. Die Absicherung besteht aus vielen vorgefädelten Sanduhren, was die Wegfindung sehr erleichtert. Die Standplätze sind mit einem bewährten, gebohrten Ring ausgestattet. Trotzdem ist zur Verbessrung der Absicherung die Mitnahme von Friends empfehlenswert.

Topo der Via del Cono
Übersicht der Via del Cono

Mit den sieben, teils kurzen Seillängen wird eine Wandhöhe von 170 Metern überwunden. Der Abstieg, welcher in den Dolomiten nie unterschätzt werden darf, erfolgt erst nach links über das Gamsband. Mit Kletterpassagen I-II und einer Abseilstelle gelangt man zum Abstieg der Sellatürme und zurück zum Ausgangspunkt. Es ist eine ideale Route, um erste Erfahrungen im Dolomiten Klettern zu machen, für einen kurzen Klettertag bei unsicherem Wetter, oder als „Zustieg“ für den oberen Wandteil.

Die „Fessura centrale“

Als Fortsetzung bieten sich die 2015 eröffnete „Lavagna“ VII-, oder die nach der Eröffnung im Jahre 2022 bereits regelmäßig wiederholte „Fessura centrale“ VII (VI, A1) an.

Topo der Route "la Fessura Centrale", Teil 2
Übersicht der Route „La Fessura Centrale“

Neben der letzteren wurde der Barbier/ Steinkötter (VI+, A2 oder VII+) Ausstieg hergerichtet. Eine an Länge und Anspruch ähnliche, leichtere Route ist an der Nordseite des 1. Sellaturm entstanden. Die „Via dell‘ autunno“ (Herbstweg) V+ erscheint in der Schwierigkeit sogar etwas leichter als die südseitige „Cono“, jedoch darf der Effekt der kühlen und strengen nordseitigen Atmosphäre auf das Gemüt nicht unterschätzt werden.

Heinz Grill beschreibt in seiner Broschüre „Das Licht und die Seele beim Bergsteigen“ die Lichtsphären von Nord- und Südwand folgender maßen: „Es lebt nicht nur eine Strenge, sondern es lebt auch ein feines Bewusstsein für den abstrakten Gedanken“ und beschreibt als sinnbildlichen Vergleich für die Sphäre des Nordens den Kristall.

Das südliche Licht hingen bringt er mit dem Begriff der Sinnesfreude in Zusammenhang: „Der Süden hingegen bringt durch sein warmes, feuerzentriertes Licht den künstlerisch schaffenden Menschen hervor, der das Leben liebt und bejaht. Die Flamme, die durch die kosmische Disposition auch in den Herzen der Menschen brennt, fördert eine schnelle Begeisterung für die Natur, wie auch eine Freude an der menschlichen Gemeinschaftsbildung.“

Die „Via dell`estate“

Via del estate, Nordwand
“Via del estate”, die Lichtqualität in den Nordwänden erzeugt eine ernstere Athmosphäre. Foto: Ivo Rabanser

Die erste Klettertour, welche im Sommer 2022 an der Nordwand des 1. Sellaturms entstanden ist, war die „Via dell`estate“ (Sommerweg) mit 2 Stellen VI+ oder A0, vielfach V+. Die letzte, welche man als „Rabanser- Kunstwerk“ bezeichnen kann, war die anspruchsvolle „Direkte Nordwand“ VII+ (VI+, A1), welche man nur bereits erfahrenen Alpinisten, aber auch all jenen, die es werden wollten, empfehlen kann.

„La segonda vita“

Wieder zurück zur angenehmen, sonnenbeschienen Südseite des Piz Ciavazes. Ist hier, vor allem im unteren Wandteil überhaupt noch ein Platz für neue Routen? Ivo Rabanser hatte eine mögliche Linie rechts der „Rossi-Tomasi“ gesehen. Sie führt erst über Pfeiler um dann über schöne Platten und eine markante Verschneidung, um das Gamsband zu erreichen. Dieser untere Wandteil mit seinem grasigen Bewuchs erinnert an die Routen in Arco, welche erst einmal einer gründlichen Reinigungsarbeit unterzogen werden müssen, um sie tatsächlich lohnend zu machen.

La Segonda Vita Piz Ciavazes Dolomiten. Hintergrund Via Italia
Florian Kluckner im unteren Teil der “La segonda vita”, dahinter die gelben Dächer der “Via Italia”. Foto: Ivo Rabanser

Die Schwierigkeiten erreichen den oberen sechsten Schwierigkeitsgrad, man bewegt sich aber meist im V Grad. Im oberen Wandteil, den Heinz Grill schon davor erkundet hat, steigt die Route von links nach rechts an. Zuerst über Stufen etwas leichter bis hin zur beeindruckenden und exponierten „krönenden“ Schlusswand mit ihren unvergesslichen Traversen.

La Segonda Vita Piz Ciavazes Dolomiten
Hakenschlagen im exponierten Quergang im oberen Teil der “La segonda vita”. Foto: Heinz Grill

Hier steigen die Schwierigkeiten bis VI+, A1 (VII) an. Nach einem schweren Unfall schlug Ivo den ladinischen Namen „La segonda vita“ (Das zweite Leben) für diesen Weg vor. Im Zuge dieser Erstbegehung, welche nahe an den kaum begangenen oberen Wandteil der „Micheluzzi“ VI-, heran kommt, wurde auch diese mit einem Ring am Stand sanft saniert und eine Variante dazu gefügt.

Der alpine Tuch ist jedoch erhalten geblieben! So wurden nicht nur eine erstaunliche Anzahl von neuen Touren in einem zugänglichen Alpinstil erschlossen, sondern auch verwaiste oder vergessene Klassiker wie mit eingebunden und für die heutige Zeit „verdaulicher“ gemacht. Je nach Jahreszeit und Wetter besteht die Auswahl zwischen Süd- und Nordwänden, welche alleine schon durch ihre Exposition unterschiedliche Erfahrungen und Erlebensqualitäten bieten.

Hier die Routenbeschreibungen und Topos zum Download: