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25. Feb 2022 - 16 min Lesezeit

King of Cold: Simone Moro über Kälte

Simone Moro über Kälte, den Vorteil kurzer Finger und darüber, was ihn im Winter auf die höchsten Berge der Welt zieht.

bergundsteigen: Simone, vor drei Jahren waren es 45 Monate, die du im Lauf deiner Karriere in Temperaturen zwischen minus 20 und minus 50 Grad verbracht hast. Wie viele Kältemonate sind seitdem dazugekommen?

Simone Moro: Ich gehe jeden Winter auf Expedition. Jede davon dauert drei Monate. Also sind es jetzt deutlich mehr als 50 Monate, die ich unter extrem kalten Bedingungen verbracht habe. Umso verwunderlicher, dass ich trotzdem noch all meine Zehen und Finger habe. Und mir niemals schwere Erfrierungen zugezogen habe.

Wie kommt das?

Ich bin sehr vorsichtig und tue alles, damit meine Füße nicht kalt werden. Mit das Wichtigste ist, dass man die Socken oft und regelmäßig wechselt. Jeden Tag! Wenn ich nach einem langen Tag ins Zelt zurückkomme, ziehe ich sofort die Socken aus, trockne meine Füße und ziehe ein trockenes Paar an. Ein anderes gebrauchtes Paar wärme ich die Nacht über am Körper, damit ich am nächsten Morgen wieder warme Ersatzsocken habe.

Gezeichnet: Simone Moro im Portrait. Foto: Cody Richards

Ein oder zwei Paar Socken?

Nur ein Paar. Manche tragen zusätzlich zu Wollstrümpfen noch Seidensocken oder Doppelsocken. Aber mir ist wichtiger, dass ich unter allen Umständen Druckstellen oder eine Kompression an den Füßen vermeide. Wenn irgendwas die Blutzirkulation behindert – selbst minimal –, steigt das Risiko von Erfrierungen.

„Man muss, wenn es darauf ankommt, auf sein Leben fokussiert sein. Nicht auf den Gipfel.“

Simone Moro

Wolle oder Synthetik?

Bei den Socken und am Körper Wolle. Merinowolle. Die wärmt auch noch, wenn sie nass oder verschwitzt ist. Besser als jede Synthetik. Beim Gipfelversuch trage ich immer meine sauberste Wäsche. Weil sie wärmer hält und Wärme besser speichert als schmutzige Wäsche. Falls möglich dusche ich. Wenn das nicht möglich ist, reinige ich mich trotzdem. Damit die saubere Wäsche möglichst lange sauber und warm bleibt.

Welche Medikamente hast du dabei – falls du oder jemand anderer doch ein- mal Erfrierungen erleidet.

Heparin-Spritzen . Glücklicherweise habe ich sie noch nicht gebraucht. Manche haben auch Viagra dabei, weil dann das Heparin noch besser wirkt. Aber ich hatte bisher Glück. Oder ich war vorsichtig genug. Das Schlimmste, was ich an Erfrierungen gesehen habe, hat immer Teilnehmer von kommerziellen Expeditionen im Sommer betroffen. Einmal sogar einen, wo zu befürchten war, dass er alle zehn Zehen verlieren würde. Ich weiß nicht genau, was da passiert ist – ob er einfach zu langsam war oder im Freien übernachten musste. Aber irgendwas ist da ganz schlimm schiefgegangen.

Gibt es körperliche Faktoren, die dich besonders kälteresistent machen?

Meine Mutter hat immer erzählt, dass ich beim Skifahren, Langlaufen und Joggen oft nur im T-Shirt oder sehr leicht bekleidet unterwegs war. Normale Kälte macht mir also nicht so viel aus. Ich profitiere in großer Höhe und Kälte wahrscheinlich davon, dass ich relativ kurze Zehen und Finger und nicht besonders große Füße habe. Da ist die Durchblutung besser als mit langen Zehen und Fingern. Außerdem bin ich nicht besonders groß, aber auch nicht zu dünn. Ich denke, dass mein Körper auch deshalb über eine ziemlich gute Temperaturregulation verfügt. Wo andere schon frieren und zittern, ist mir meistens noch warm. Aber das Wesentliche ist natürlich die Ausrüstung – und um wie viel sie besser geworden ist gegenüber der Zeit, als die großen Polen das Winterbergsteigen auf den Himalaya übertragen haben.

Kannst du das an einem Beispiel fest-machen?

Mein Expeditionsbergschuh wiegt jetzt knapp unter einem Kilo pro Stück. Er hält viel wärmer als die ledernen Bergstiefel, mit denen die Polen unterwegs waren. Da wog einer drei Kilo. Und in der eisigen Kälte sind sie steifgefroren. Moderne Expeditionsbergschuhe bleiben wunderbar beweglich.

Factbox: Simone Moro

Geboren am 27. Oktober 1967 in Bergamo. Lebt in Bergamo und Bozen. Spitzname: „Winter Maestro“. Veteran von 17 Winterexpeditionen. Seit 1992 im Himalaya unterwegs, seit 1996 auch im Winter. Neben seiner alpinistischen Karriere ist Moro Hubschrauberpilot, den es auch im Cockpit in große Höhen zieht. Moro ist der einzige Bergsteiger, dem bislang vier Wintererstbesteigungen auf Gipfel über 8.000 Metern Höhe gelungen sind:

  • 14.1.2005: Shishapangma (8.027 Meter), zusammen mit Piotr Morawski (1976–2009)
  • 9.2.2009: Makalu (8.485 Meter), zusammen mit Denis Urubko
  • 2.2.2011: Gasherbrum II (8.034 Meter), zusammen mit Cory Richards und Denis Urubko
  • 26.2.2016: Nanga Parbat (8.126 Meter), zusammen mit Alex Txikon und Ali Sadpara (1976–2021). Tamara Lunger drehte knapp unterhalb des Gipfels um.
  • Die Winterbesteigung des Shishapangma durch Moro und Morawski 2005 markiert den Neubeginn des Winteralpinismus auf den höchsten Bergen der Welt – 17 Jahre nach Krysztof Wielickis Alleingang auf den Lhotse (1988). Für den Winter 2021/22 plant Simone Moro die Winterbegehung des Manaslu – es ist sein vierter Versuch.

Welche Rolle spielen die polnischen Pio-niere des Höhenbergsteigens im Winter – allen voran Jerzy Kukuczka und Krysztof Wielicki – dabei, dass Simone Moro zum derzeit erfolgreichsten Winterhöhenbergsteiger geworden ist?

Das Winterbergsteigen hat mich schon immer fasziniert. Als ich mit dem Klettern und dem Bergsteigen begonnen habe, habe ich die Bücher von Reinhold Messner und Walter Bonatti gelesen. Bonatti war ja bekanntlich ein Pionier des Winterbergsteigens, der seine Laufbahn mit der Solowinterbegehung der Matterhorn-Nordwand beendet hat. Messner war auch viel im Winter unterwegs. Aber keinem der beiden – nicht einmal Messer, der sonst alles geschafft hat – ist die Winterbesteigung eines 8.000ers gelungen. Als die Polen es in den 80er-Jahren vorgemacht haben, hat das auch Messner zu einem Versuch am Makalu inspiriert. Aber die Winterbegehung eines 8.000ers ist eine der wenigen Sachen, die ihm nicht gelungen sind. Das zeigt auch, wie groß die Leistung der Polen war.

Wie hast du darauf reagiert?

Ich habe mich gefragt: Warum die Polen? Und habe mir auf der Karte angeschaut, wie hoch die höchsten Berge in Polen sind. Das ist die Hohe Tatra, mit Bergen, von denen die höchsten etwas mehr als 2.600 Meter erreichen. Ich war zuerst verwundert, dann inspiriert.

Weshalb?

Weil es mir gezeigt hat, wie viel man mit Leidenschaft und Willen erreichen kann. Wenn du in Bergamo aufwächst, ist es nicht vorherbestimmt – ‚predestinato‘, wie wir in Italien sagen –, dass du erfolgreicher Winterhöhenbergsteiger wirst. Die Polen haben mir gezeigt, dass es möglich ist.

Was fasziniert dich am Winterbergsteigen an den höchsten Bergen der Welt?

Im Winter bist du im Himalaya oder Karakorum völlig allein. Da bewegst du dich in einer absoluten Wildnis und Einsamkeit, die es sonst auch dort nicht mehr gibt. Im Winter ist alles so kompliziert und fordernd – schon die Anreise –, dass es gleich ums Überleben geht. Es geht nicht so sehr um die alpinistische Schwierigkeit, sondern – und zwar viel mehr als in der Sommersaison – um das bloße Überleben. Gleichzeitig ist das Erlebnis nah an dem, was die ersten Entdecker und Begeher erlebt haben: das Unbekannte. Du musst die Route finden an einem Berg, der sich im Winter ständig verändert. Manchmal so stark, dass du den Berg, an dem du seit einem Monat campierst, an manchen Tagen nicht mehr wiedererkennst.

Was macht der Winter konkret schwerer?

Alles. Angefangen bei der Planung und bei der Akklimatisierung bis hin zu ganz kleinen, einfachen Sachen wie dem Fotografieren.

Ich minimiere die Zeit, in der ich mich und meine Hände der Kälte aussetze.

Simone Moro

Wie machst du das?

Ich gehe, bevor ich die Kamera hervorhole, alles schon vorher im Kopf durch: Wo ist deine Kamera? Welches Foto willst du machen? Musst du dafür was an der Kamera verstellen? Was? Anschließend geht alles schneller. Und kontrollierter. Ich minimiere die Zeit, in der ich mich und meine Hände der Kälte aussetze.

Und die Akklimatisierung?

Im Winter gibt es noch weniger Wetterfenster als im Sommer – manchmal auch gar keine. Das macht die Akklimatisierung und das Training so viel schwieriger, weil man viel weniger nach einem Zeitplan vorgehen kann. Wenn es blöd läuft, sitzt du einen Monat im Zelt und dann kommt das Wetterfenster für den Gipfelversuch. Das ist, wie wenn ein Leichtathlet zu den Olympischen Spielen fährt und nach einem Monat der Bewegungslosigkeit 400 Meter laufen soll. Es ist sogar noch viel schlimmer, weil der Leichtathlet wenigstens gut essen und schlafen kann, nicht mit Übelkeit zu kämpfen hat und sein Körper nicht wegen der Höhe ständig abbaut.

Wie gehst du mit schlechtem Wetter um, das dich ans Camp fesselt?

Bei der letzten Expedition habe ich meine Strategie geändert. Ich bin nicht im Zelt geblieben, sondern auch im Sturm rausgegangen, um in der Nähe des Basecamps zu trainieren und fit zu bleiben. Man muss natürlich aufpassen, dass man sich dabei keine Erfrierungen zuzieht oder sich erkältet. Aber so bleibt man wenigstens ein bisschen fit.

Anders als die polnischen „Ice Warriors“ bekommst du heute sehr präzise Wettervorhersagen.

Ich bin sehr dankbar, dass ich mit Karl Gabl zusammenarbeiten kann. Ich glaube, dass er mir noch nie eine Vorhersage geliefert hat, die sich als falsch herausgestellt hat. Manchmal sind seine Einschätzungen vorsichtig pessimistisch – aber das ist auch besser so. Lieber sitze ich bei überraschend gutem Wetter im Basecamp als im Sturm am Berg. Wenn er sich nicht sicher ist, machen wir aus, dass wir am nächsten Tag noch mal telefonieren. Seine Zeitangaben sind sehr präzise und konservativ. Und das Wichtigste: Weil er selber ein so erfahrener Bergsteiger ist, weiß er genau, wie es am Berg bei bestimmten Wetterverhältnissen ausschaut. Eigentlich sagt mir Karl Gabl, wann ich losgehen kann. Ob ich es mache und wie ist dann meine Entscheidung.

Es gibt extreme Kälte. Und extreme Kälte in extremer Höhe. Du hast beides erlebt, nicht zuletzt durch deine Expedition auf die Pobeda, einen extrem kalten, aber nur 3.000 Meter hohen Berg in Sibirien.

Ein Grund für diese Expedition war tatsächlich, dass ich noch mehr über den Unterschied zwischen extremer Kälte und extremer Kälte in Kombination mit extremer Höhe lernen wollte.

Und?

Man kann unseren Körper mit einem offenen Kamin vergleichen. Wenn das Feuer darin keinen oder zu wenig Sauerstoff bekommt, erzeugt es keine Wärme, sondern nur Rauch. Wenn du auf 8.000 Metern unterwegs bist, ist es genau so: Dem Körper fehlt einfach der Sauerstoff, um genügend Wärme zu erzeugen. So gesehen sind minus 30 Grad auf 8.000 Metern viel kälter als minus 50 Grad auf 3000 Metern Höhe. Dazu kommen noch all die anderen Faktoren: In Sibirien konnte ich gut essen, meine Verdauung funktionierte. Wenn ich am Morgen aufgewacht bin, war ich vollständig regeneriert. Es war sehr, sehr kalt, aber alles andere war nicht anders als in den Alpen. Tamara und ich waren so fit, dass wir – um ein Biwak zu vermeiden – den Gipfel in einer Speedbegehung geschafft haben. Dagegen bist du auf 8.000 Metern nur mit einem Bruchteil deiner normalen Leistungsfähigkeit unterwegs. Dafür schwitzt du in großer Höhe viel weniger, weil du dich viel langsamer bewegst. Und weil du eh schon so dehydriert bist.

Minus 30 Grad auf 8.000 Metern sind viel kälter als minus 50 Grad auf 3000 Metern Höhe.

Simone Moro

Trainierst du speziell auf die Kälte hin?

Ich trainiere jeden Tag. Bezogen auf Kälte könnte man sagen: Ich trainiere so, dass ich die Fähigkeit meines Körpers stimuliere, Wärme zu erzeugen.

Also laufen und nochmal laufen?

Ich laufe zwischen 100 und 120 Kilometer die Woche. Ideal wären noch mehr, aber das schaffe ich aus zeitlichen Gründen nicht.

Was war die größte Höhe, in der du mal biwakiert hast?

Im Winter einmal am Makalu auf 7.700 Metern. Und in der Sommersaison 2000 einmal fünf Tage mit Denis Urubko am Everest auf über 8.000 Metern Höhe. Das war richtig hart. Da habe ich 10 Kilo in fünf Tagen verloren. Da konnte man richtig zusehen, wie mein Körper seine Muskeln auffrisst. Da habe ich verstanden, dass man in so großer Höhe nicht so viel Zeit verbringen kann.

Ich trainiere jeden Tag. Bezogen auf Kälte könnte man sagen: Ich trainiere so, dass ich die Fähigkeit meines Körpers stimuliere, Wärme zu erzeugen.

Simone Moro

Wie schläft Simone Moro in solchen Höhen?

An den Bedingungen gemessen und im Vergleich zu meinen Bergpartnern erstaunlich gut. Ich schlafe sehr schnell ein. Da staunen meine Bergpartner manchmal. Tamara Lunger wurde einmal fast wütend und hat mich wachgerüttelt, weil sie einfach nicht glauben konnte, wie schnell ich eingeschlafen bin.

Dein Schlaftipp?

Man braucht als Unterlage unbedingt etwas mit Luft drinnen – Thermarest oder so ähnlich. Das isoliert. Ohne Isolierschicht saugt der kalte Boden die ganze Wärme aus deinem Körper.

Bist du wegen zu großer Kälte mal umgekehrt?

Nein. Ich bin oft wegen des Wetters umgekehrt oder weil zu viel Schnee lag. Oder der Gletscher zu zerklüftet, spaltig und gefährlich war wie vergangenen Winter am Gasherbrum, wo wir abgebrochen haben, nachdem ich in eine Spalte gestürzt bin. Aber allein wegen der Kälte bin ich noch nie umgekehrt. Und ich bin schon oft umgekehrt.

Wenn zur Kälte auch noch Wind hinzukommt?

Dann schon. Wind ist ein viel entscheidenderer Faktor als Kälte. Oft ist das Wetter sonnig, aber der Wind so stark, dass man trotzdem nicht losgehen kann. Wind ist in solchen Höhen einer der limitierendsten Faktoren.

Trotzdem versuchst du der größten Kälte so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen.

Klar. Im Winter kannst du nicht wie im Sommer um Mitternacht losgehen – dafür ist es zu kalt. Und das packst du auch psychologisch nicht: Wenn du im Winter in solchen Höhen bei völliger Dunkelheit und bei 50 Grad unter null losgehst, explodiert deine Psyche nach ein paar Stunden. Du brauchst Sonne oder Licht, mindestens im Basecamp. Deswegen gehe ich im Winter erst um 5 oder 6 in der Früh los.

Wie bewegst du dich in ganz großer Höhe? Und worauf achtest du da?

Auf vieles. Ich versuche, die Wolken im Blick zu behalten – auch die weiter entfernten, weil die plötzlich ganz, ganz schnell daherkommen können, wenn der Wind stark wird. Ich habe zwar noch nie erlebt, dass ich Visionen bekomme oder Stimmen gehört habe – aber ich weiß, dass das in dieser Höhe passieren kann. Deswegen achte ich auf mein Bewusstsein und darauf, wie ich mich wahrnehme. Und ich zähle meine Schritte.

Wie?

Ich überlege mir, wie viele Schritte ich gehen kann. Meinetwegen 20. Dann zähle ich von 20 rückwärts und versuche mein Tempo zu halten, bis ich bei null bin.

Und die Zeit?

Ich achte ständig auf die Uhr und meine Zeitlimits. Das ist mit das Wichtigste überhaupt: Man muss sich Limits setzen. Und sich dann daran halten. Und man muss dabei realistisch sein, muss wissen, in welcher Höhe, welchem Gelände und in welcher Verfassung man wie viele Höhenmeter schafft: 120 Höhenmeter in der Stunde? Mehr? Oder nur 70? Ich glaube, je öfter man auf Expedition war, desto besser und realistischer kann man das einschätzen. Man muss umkehren können. Selbst kurz unterhalb des Gipfels. Ich versuche, mich nie vom Gipfelfieber anstecken zu lassen. Man muss, wenn es darauf ankommt, auf sein Leben fokussiert sein. Nicht auf den Gipfel. Da darf man dann auch nicht in den Kategorien von Erfolg oder Misserfolg denken. Da muss einem der Erfolg, wenn er als Gipfelerfolg definiert wird, scheißegal sein. Ich bin schon oft umgekehrt, also gescheitert, wie manche es vielleicht sehen würden. Aber den Erfolg eines Alpinisten misst man nicht nach einer Expedition – sondern nach einem ganzen, hoffentlich langen Bergsteigerleben. Man schreibt nicht Geschichte, wenn man glaubt, es geht immer nur ums Gewinnen. Man muss auch das Scheitern und das Umkehren akzeptieren, daraus lernen und es dann nochmal versuchen. Ich hatte zu viele Freunde, die heute auch deswegen tot sind, weil sie das nach einer Serie von großen Erfolgen nicht akzeptiert haben.

Ich überlege mir, wie viele Schritte ich gehen kann. Meinetwegen 20. Dann zähle ich von 20 rückwärts und versuche mein Tempo zu halten, bis ich bei null bin.

Simone Moro

Hast du in der Hinsicht Vorbilder?

Alle, die Geschichte geschrieben haben und heute noch leben. Reinhold Messner lebt, Chris Bonington lebt. Walter Bonatti starb, als er 81 war. Ricardo Cassin wurde 101 Jahre alt. Man muss rechtzeitig aufhören können. Am Berg und im Leben als Bergsteiger. Man darf nicht die Fähigkeit verlieren, abzubrechen und umzukehren. Da muss man sich auch von Erwartungen – den eigenen, denen der Medien oder der eigenen Community, von wem auch immer – befreien.

Diesen Winter geht es für Dich wieder an den Manaslu.

Zum vierten Mal. Dabei gilt der Manaslu als leichter 8.000er. Das zeigt, dass es im Winter keinen leichten 8.000er gibt. Alles hängt von den Bedingungen ab. Am Nanga Parbat hat es beim dritten Versuch geklappt – der Manaslu hat mich schon dreimal abgewiesen. Mal schauen, ob wir diesmal mehr Glück haben.

Das letzte Mal – 2019 – hattet ihr mit Massen an Schnee zu kämpfen.

Wenn es weniger Schnee hat als damals, steigen die Chancen um 50 Prozent. Aber ich will nicht allein darauf setzen. Ich habe mir auch eine andere Strategie ausgedacht.

Welche?

Wir starten am 1. Dezember mit der Akklimatisierung. Aber nicht am Manaslu, sondern in einem anderen Tal in Nepal. Vielleicht in der Nähe vom Everest. Dort will ich trainieren und mich an die Höhe gewöhnen. Ich werde einen 6.000er besteigen und versuchen, oben ein oder zwei Nächte zu schlafen. Ab dem 21. Dezember geht es dann ins Basecamp. Ich hoffe, dass ich, wenn wir am Manaslu ankommen, zu mindestens 50 Prozent schon akklimatisiert bin und wir deswegen auch früher fit und bereit sind, wenn sich ein Wetterfenster ergibt, in dem man einen Gipfelversuch wagen kann.

Hast du von einem deiner Weggefährten, was das Winterbergsteigen angeht, besonders viel gelernt?

Von Anatoli Bukrejew, der vor 24 Jahren bei unserer Winter-Expedition an der Annapurna in der Lawine umgekommen ist, die ich mit Glück überlebt habe. Er hat mir viel von dem beigebracht, was man braucht, um in den Bergen unter extremen Bedingungen zu überleben. Er war ein richtiges High Altitude Animal. Er hat mir gezeigt, dass man auch seine Instinkte entwickeln und auf sie hören muss. Er war außerdem einer der abgehärtetsten Typen, denen ich je begegnet bin. Er hat nackt Holz gehackt, mit den bloßen Füßen im Schnee. Am Abend hat er einen Topf Wasser vor das Fenster gestellt. Am nächsten Morgen hat er die Eisschicht entfernt und sich mit dem eiskalten Wasser übergossen. Er wusste aber auch genau, wann es lebensgefährlich war, sich zu lang der Kälte auszusetzen. Natürlich bin ich nicht auf seinem Level. Aber er hat mir gezeigt, wie man seinen Körper abhärtet, wie man ihm die Fähigkeit zu überleben beibringt.

Erschienen in der
Ausgabe #117 (Winter 21-22)

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