Kletterunfall: Lebensgefahr in der Marmolada-Südwand
Am 26. August 2017 befinden sich die Alpinisten und leidenschaftlichen Pause-Touren-Sammler Tobias Bailer und Christoph Klein* im obersten Teil der Marmolada-Südwand. Die beiden erfahrenen Kletterer haben sich für eine der klassischen Linien entschieden: die 1936 erstbegangene „Soldà“- Führe (VI, A2).

Die Wetterprognose meldet stabile Bedingungen, die Gewitterwahrscheinlichkeit liegt bei lediglich zehn Prozent, und der Hüttenwirt des Rifugio Contrin bestätigt: beste Verhältnisse, die Tour sei komplett trocken. Die rund 690 Klettermeter lange Route folgt dem markanten Südpfeiler der Punta Penia (3342 m) im linken Teil der gewaltigen Südwand.
Zunächst führt sie über Risse und einige Rampen, dann durch eine markante gelbe Verschneidung weiter nach oben. Nach der Schlüsselstelle, einem schwierigen, leicht überhängenden Riss, erfolgt der Ausstieg durch die berühmt berüchtigten Ausstiegskamine. Alles läuft nach Plan. Gegen 16:30 Uhr haben Tobias und Christoph die Schlüssellänge hinter sich gelassen. Eine Seillänge später stehen die beiden am Stand der vorletzten Seillänge – in den Ausstiegskaminen auf rund 3250 Metern Höhe.
Es fehlt nur noch eine Seillänge im tiefen Kamin (40 m, III) sowie eine ganz leichte (50 m, II). Doch plötzlich zieht ein immenses Unwetter mit Starkregen, Blitzen und Hagel zwei Stunden lang über die Marmolada. Für Tobias und Christoph, wie auch für andere Seilschaften in der Wand, beginnt ein dramatischer Überlebenskampf.
*2022 ist Christoph Klein beim Abstieg vom Col Standhardt in Patagonien tödlich verunglückt. Viele kannten den „Im extremen Fels“-Autor durch seine zahlreichen kurzweiligen und amüsanten Videos, die er mit der Klettercommunity teilte.
Die Ausgangssituation
Die Route: ca. 690 m lang, VI, A2 (Erstbegeher 1936 G. Soldà & U. Conforto); komplett trocken und in idealen Verhältnissen y Gewitterwahrscheinlichkeit: 10 Prozent y Tobias und Christoph befinden sich zwei Seillängen vor dem Ausstieg: nur noch 90 Meter IIIer- und IIer- Gelände, das die beiden normalerweise am laufenden Seil in zehn Minuten zurücklegen würden. „Am Ende sind es nur lächerliche zehn Minuten, die in Anbetracht einer berühmten, anspruchsvollen rund 550 Meter hohen Dolomitenwand hier fast über Leben und Tod entschieden haben.“ Tobias Bailer
Die Chronologie eines Bergunfalls
16:41 Uhr Kurz vor dem Gipfel
Unser letztes Foto aus der Tour: Christoph befindet sich im Nachstieg in einer der letzten Seillängen unter meinem Stand, den ich mit zwei guten 0,75er- Camalots in den tief eingeschnittenen berüchtigten Ausstiegskaminen und Verschneidungen eingerichtet habe.

16:45 Uhr
Um viertel vor fünf kommt Christoph am Stand an – im gleichen Moment beginnt das Inferno: heftiger Graupel, Hagel, Blitz und Donner. Nur wenige Sekunden nach Beginn schießen von oben durch die Ausstiegskamine Graupel und Hagelkörner flussartig auf uns herab. Enorme Mengen prasseln direkt auf uns beide am Stand nieder.
16:50 Uhr
Christoph versucht nach oben weiterzuklettern. Nach ca. drei Metern ist klar, dass das völlig aussichtlos ist. In diesen Fluten aus Hagel und Graupel ist klettern unmöglich. Traurige Erkenntnis: Wir kommen nicht mehr nach oben! Auch unser denkbar schlechter Standpunkt im Kamingrund und die gefährliche, dramatische Gesamtsituation sind uns beiden sofort bewusst.
16:57 Uhr
Wir setzen einen Notruf ab. Der erste 112-Versuch von mir: fehlgeschlagen. Panik.
16:57 Uhr
Verzweifelt versuche ich meine Frau Nina zu erreichen, die Verbindung kommt zustande. „Wir brauchen Hilfe. Bitte setze einen Notruf ab! Hier ist ein Gewitter, wir sind klatschnass, alles ist voll Graupel und Eis. Wir sind zwei Seillängen unterm Gipfel.“ Die Verbindung bricht ab.
16:57 Uhr
Nina ruft 110 an: Warteschleife. Nina ruft 112 an. Ein Mitarbeiter der deutschen Leitstelle sagt, er könne nichts machen. Er wisse nicht, welche Rettungsleitstelle für die Marmolada zuständig ist. Ihr Mann solle von der betroffenen Stelle aus anrufen. Die Idee, in Italien anzurufen und dort die entsprechende Rettungsleitstelle zu finden, begrüßt er – und rät Nina, dies in jedem Fall zu versuchen.
17:05 – 17:17 Uhr
Nina nimmt Kontakt mit einer Freundin aus Mailand auf, die perfekt Italienisch spricht. Diese ruft beim Rifugio Contrin an, in dem wir übernachtet haben. Das Hüttenpersonal kann die Situation nicht richtig einschätzen, alarmiert aber letztlich die Bergrettung Soccorso alpino.
17:05 Uhr Währenddessen in der Wand
Wir entscheiden gemeinsam, zwei Seillängen in die gelbe Nische unterhalb der Schlüssellänge abzuseilen. Christoph ist noch immer drei Meter über mir. Im Riss findet er zufällig einen Normalhaken und entscheidet, von diesem einzigen Normalhaken abzuseilen.
Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, ob die Bergrettung fliegen kann und wie lange das Gewitter sowie die Niederschläge noch anhalten werden. Aufgrund der Graupel- und inzwischen auch immer mehr werdenden Wassermassen ist es völlig undenkbar, im Ausstiegskamin zu bleiben – geschweige denn gegebenenfalls die ganze Nacht dort auszuharren. Wir setzen große Hoffnung in die gelbe Nische, um dort etwas geschützter zu sein.
Notruf: Wenn 112 nicht funktioniert
- 2017 galt in Italien noch die 118 (Rettungsdienst) als Notrufnummer.
- Heute gilt auch in Italien die einheitliche europäische Notrufnummer 112. Mein Learning: Es ist extrem wichtig, sich über die Notrufnummern im jeweiligen Gebiet zu informieren und sie auch im Handy abzuspeichern.
17:10 Uhr
Aufgrund der Graupel- und Wassermassen gestaltet sich der Aufbau der Abseilstelle schwierig und dauert sehr lange. Steine rauschen jetzt immer wieder von oben herab.
17:15 Uhr
Christoph schafft es nicht, sein Reverso-Sicherungsgerät vom Gurt zu nehmen und zum Abseilen einzulegen. In einer kurzen Gewitterpause beginnt er stattdessen, sich per Halbmastwurf abzuseilen, was aufgrund der klatschnassen Seile und seiner starren Hände sehr schwierig ist. Damit Christoph die vollen 50 Meter unserer Doppelseile nutzen kann, muss ich meine Einbindeknoten lösen: Ich fixiere mich über eine Bandschlinge am Stand, schneide kurzerhand beide Seile direkt oberhalb meiner Einbindeknoten durch und lasse die Seilenden hinab.

Das Seilmesser – ein unterschätzter Begleiter
Durch die anhaltenden Wassermassen und die starren, eiskalten Finger war es mir nicht mehr möglich, die Einbindeknoten zu lösen. Glücklicherweise hatte ich ein Seilmesser am Gurt, mit dem ich die Seile oberhalb der Einbindeknoten kurzerhand durchschneiden konnte. Allein deswegen bin ich überzeugt – und absoluter Verfechter davon –, dass jeder Alpinkletterer immer eines am Gurt haben sollte. Es gibt inzwischen so ultraleichte und kompakte Messer, dass sie kaum ins Gewicht fallen – in Notsituationen aber von unschätzbarem Wert sein können. Damals hatte ich das Piranha Knife von Trango dabei, das mit 20 Gramm nicht ins Gewicht fällt. Auch andere Modelle, wie das Petzl Spatha oder das Rope Tooth Einhandmesser von Edelrid, wiegen mit etwa 45 Gramm kaum mehr.
17:20 – 17:30 Uhr
Christoph seilt weiter ab und verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich warte auf die Entlastung der Seile – das Zeichen dafür, dass er den unteren Stand erreicht hat und ich zu ihm abseilen kann. Ab diesem Zeitpunkt haben wir weder Ruf- noch Sichtkontakt.
17:33 Uhr In Gang setzen der Rettungskette
Erster telefonischer Kontakt zwischen dem Einsatzleiter in Canazei und Heidi, der italienisch sprechenden Freundin in Mailand: Der Rettungseinsatz hat begonnen. Daraufhin versucht Nina mich anzurufen. Ich spüre die Vibration in meiner Brusttasche, kann aber nicht rangehen – das Gewitter und die Wassermassen sind zu heftig.
„Ich verliere langsam jegliches Zeitgefühl.“
17:35 Uhr
Kurz nachdem Christoph aus meinem Blickfeld verschwunden ist, beginnt das Gewitter wieder mit voller Wucht. Die Graupel- und Wassermassen sind gewaltig. Mir ist klar, dass er so nicht weiter abseilen kann, und ich denke, er wird etwas abwarten. Damit der Großteil des Wassers nicht über meinen Körper, sondern zwischen meinen Beinen hindurchfließen kann, gehe ich im Kamin in eine sehr unangenehme, weit ausgespreizte Steh- und Hängestellung über.
17:42 – 17:43 Uhr
Wie ich erst später sehen werde, rufen mich zwei italienische Nummern an. Ich spüre das Vibrieren, aber ich bin immer noch nicht in der Lage, das Handy aus der Brusttasche zu nehmen.
17:45 Uhr Christoph ruft, ich verstehe nichts
Das Gewitter lässt kurz nach. Ich meine Christoph rufen zu hören, kann aber nichts verstehen. Das Prasseln des Regens auf Helm und Kapuze ist zu laut. Ich sehe es als positives Zeichen und hoffe, dass er mir „Seil frei!“ zurufen will, was wiederum bedeuten würde, dass er den Stand unten erreicht hat. Doch die zu erwartende Seilentlastung findet nie statt. Es ist unmöglich abzuseilen – die Seile stehen permanent unter Zug.

18:06 – 18:07 Uhr
Ein Hoffnungsschimmer Christophs Frau, Irina Klein, versucht ebenfalls, mich anzurufen. Das Gewitter hat etwas nachgelassen, ich kann rangehen. Leider baut sich die Verbindung nicht auf. Nun rufe ich die unbekannte italienische Nummer zurück. Die Verbindung kommt zustande, jemand sagt: „Die Rettung läuft. Ein Hubschrauber kommt und holt euch raus. Haltet durch!“ Ein großer Hoffnungsschimmer und mentale Stärkung. „Sie holen uns raus, halte durch“, sage ich mir immer wieder. Christoph erreicht diese Information nicht, wir haben nach wie vor keinen Rufkontakt.
18:40 Uhr
Obwohl Blitz und Donner noch deutlich zu hören sind, hat das Gewitter deutlich nachgelassen. Die Sicht ist besser geworden. Endlich höre ich den Rettungshubschrauber, den ich wenig später auch sehen kann. Ich reiße beide Arme in die Luft, damit er uns im Kamin ausmachen kann. Der rot-gelbe Hubschrauber fliegt erst direkt auf mich zu, dann entlang der Wand auf und ab – vermutlich, um sich ein Bild der Situation zu machen –, und schließlich wieder kurz weg.

18:45 Uhr Herzstillstand bei Christoph
Über eine 100 Meter lange Longline wird Christoph schließlich vom Flugretter Arrigo aus dem tiefen Kamin geholt. Später wird er mir erzählen, dass er meinen Seilpartner in einem nach vorne zusammengeknickten Zustand am Fuße der Verschneidung im Wasserlauf vorfand. Er sei mit zwei Expressschlingen an einem einzelnen Normalhaken in der Verschneidung fixiert gewesen, darunter ein verheddertes Seilknäuel.
Der Flugretter hängt Christoph bei sich ein, schneidet die Seile durch und der Hubschrauber steigt kurz in die Höhe, um die Expressschlingen zu entlasten, damit der Flugretter sie lösen kann. Der Hubschrauber zieht nach oben weg und die beiden werden per Seilwinde in den Hubschrauber gezogen. Herzstillstand bei Christoph. Seine Körperkerntemperatur: nur noch 20 °C. Abflug nach Canazei.
18:55 Uhr
Wenige Minuten später werde auch ich von Arrigo über die 100 Meter lange Longline aus der Wand geholt: Als der Retter bei mir ankommt, verschafft er sich einen kurzen Überblick, hängt mich ein und schneidet die Bandschlinge meiner Selbstsicherung durch. Der Hubschrauber zieht nach oben weg, wir schlagen mehrfach gegen die seitlichen Wände des tief eingeschnittenen Kamins.
Als wir in der Luft hängen, werden wir per Seilwinde in den Hubschrauber gezogen. Bei mir werden keine Temperaturmessungen vorgenommen. Abflug nach Canazei.
19:00 Uhr Tränen laufen über mein Gesicht
Am Hubschrauberlandeplatz in Canazei komme ich vom Hubschrauber in einen Krankenwagen. In Waden, Oberschenkeln und Hüfte habe ich so heftige Krämpfe, dass ich nicht mehr laufen kann – ausgelöst durch die eineinhalb Stunden eingenommene, verkrampfte Spreizposition im Kamin. Aus dem Augenwinkel sehe ich Christoph zum ersten Mal wieder: Er wird per Herzdruckmassage wiederbelebt. Acht Personen, darunter Notärzte und Sanitäter, sind bei ihm. Es trifft mich wie ein Schlag. Ich kann es nicht glauben. Tränen überkommen mich.
19:05 Uhr – 19:10 Uhr
Im Krankenwagen legt mir eine Notärztin Infusionen und Zugänge, da der Verdacht auf massive Unterkühlung besteht. Sie sagt, Christoph gehe es sehr schlecht. Daraufhin rufe ich meine Frau Nina an und informiere sie darüber, dass wir ausgeflogen wurden und uns nun unten im Tal befinden. Ich berichte ihr von Christophs Zustand.
19:15 Uhr
Wie wir später erfahren, wurden an diesem Tag insgesamt drei Seilschaften aus der Marmolada-Südwand gerettet. Wir aus der „Soldà“, eine Seilschaft aus „Moderne Zeiten“ und eine weitere aus „Don Quixote“.
19:30 Uhr Christoph nach Trient, ich nach Cavalese
Die Notärztin informiert mich, dass Christoph nach Trento und ich nach Cavalese ins Krankenhaus geflogen werden.
Hätte ich anders reagieren sollen?
Unser Ziel, das wir durch zweimaliges Abseilen erreichen wollten, war eine kleine Gufel – ein etwas geschützter Platz direkt vor der Schlüsselseillänge. In der Ungewissheit darüber, ob wir überhaupt an diesem Tag aus der Wand gerettet werden könnten, erschien uns das als vernünftige Entscheidung.
Dennoch habe ich mir im Nachhinein oft die Frage gestellt, ob es nicht eine Alternative gewesen wäre, mit dem Biwaksack (wir hatten einen von Mountain Equipment dabei) über dem Kopf das Unwetter an zwei Cams hängend auszusitzen. Allerdings ist fraglich, ob der dünne Sack den massiven Hagelkörnern und später dem Steinschlag standgehalten hätte.
Schon während des Ausharrens am Stand – und auch in vielen Nächten danach – habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, ob ich anders hätte handeln können, müssen oder sollen. Da das Seil dauerhaft unter Spannung stand, hätte ich lediglich die Möglichkeit gehabt, mit einer Prusiksicherung entlang des vereisten Kamins am gespannten Seil abzurutschen.
Zwei Punkte sprachen aus meiner Sicht klar dagegen
1. Das Seil hing an einem einzigen (!) und uns völlig unbekannten (!) Normalhaken, der in einem übers Jahr betrachtet meist feuchten Kamin steckt. Christoph hatte ihn beim Versuch, weiter nach oben zu klettern, im Stehen unter dem herunterlaufenden Wasser ertastet – mehr nicht. Nicht einmal gesehen! Es war ohnehin riskant, daran überhaupt abzuseilen. Ich wollte den Haken auf keinen Fall zusätzlich mit meinem Körpergewicht belasten, um keinen Seilschaftsabsturz zu provozieren.
2. Erschreckend war, wie schnell ich im 0–4 °C kalten Wasser am Stand hängend steif und kraftlos wurde, vor allem in den Fingern. Ich konnte kaum noch meine Knoten öffnen und schnitt sie deshalb sogar lieber durch (!). Weitere Seilmanöver – etwa eine Lastübergabe auf andere Sicherungspunkte – wären mit einem unter Spannung stehenden, nassen Seil praktisch nicht mehr zu bewältigen gewesen.
Was bei Christoph wohl geschah? Eine Vermutung
Die wahrscheinlichste Erklärung für das, was Christoph beim Abseilen passiert ist: Er wollte im Seil hängend das unter ihm befindliche Seilknäuel lösen, um weiter abseilen zu können. Das dürfte mit starren Fingern und nassem Seil extrem schwierig gewesen sein. Um das besser bewältigen zu können, hat er sich vermutlich mit zwei Expressschlingen an einem zufällig dort vorhandenen Normalhaken im Wasserstrom zusätzlich gesichert. Was ab diesem Moment genau geschah, wird wohl für immer Spekulation bleiben.
Blitzeinschlag, Herzstillstand: Wie Christoph beinahe in der Wand verunglückte
Im Hubschrauber wurde bei Christoph ein Herzstillstand festgestellt. Seine Körpertemperatur betrug angeblich nur noch 20 °C. Noch während des Flugs begannen die Notärzte mit der Herzdruckmassage, die am Hubschrauberlandeplatz in Canazei unmittelbar fortgesetzt wurde. Nicht in der Hoffnung, dass sein Herz wieder zu schlagen beginnen würde, sondern damit das Blut weiter zirkuliert und sich keine Blutgerinnsel bilden.
Im Santa Chiara Hospital in Trento begann sein Herz wieder zu schlagen. Christoph wurde intensivmedizinisch behandelt und an eine zentrale extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO) angeschlossen – ein Verfahren, bei dem das Blut außerhalb des Körpers in einer Maschine mit Sauerstoff angereichert und von Kohlendioxid befreit wird. Christoph lag zwei Tage im künstlichen Koma in Trento.
Zu diesem Zeitpunkt war völlig unklar, wie sein Gehirn den Herz-Kreislauf-Stillstand verkraftet hatte. Doch er überlebte das Unglück sowohl körperlich als auch geistig ohne bleibende Schäden. „Wie bei Lawinenopfern zu lesen ist, hat ihm vermutlich die massive Unterkühlung zu diesem glücklichen Ausgang verholfen“, vermutet Tobias.
Ich selbst erlitt an diesem Tag Erfrierungen ersten Grades an allen Fingern und den großen Zehen. Das Taubheitsgefühl hielt monatelang an. In der Notaufnahme in Cavalese wurden keine akuten Anzeichen einer Unterkühlung mehr festgestellt. So blieb ich eine Nacht zur Überwachung der Herzfrequenz – denn obwohl ich durchgehend bei Bewusstsein war, konnte ein möglicher Blitzschlag nicht ausgeschlossen werden, der Auswirkungen auf das Herz gehabt haben könnte.
Auffälligkeiten zeigten sich jedoch keine. Nach dem Unfall hatte Christoph keinerlei Erinnerungen an das Geschehen – und ab dem Einstieg auch nicht mehr an die Tour selbst. Als ich ihm später Bilder zeigte, betrachtete er sich darauf wie als Fremder. Rückblickend berichteten die Ärztinnen und Ärzte, dass am Hinterkopf und an den Fersen Stellen gefunden wurden, die auf einen Blitzschlag hindeuten könnten.
Verlor er also durch einen Blitzschlag das Bewusstsein – und damit, im Wasser hängend, rapide an Körpertemperatur? Oder war es umgekehrt: Er verlor durch die massive Unterkühlung das Bewusstsein und wurde später vom Blitz getroffen? Die Medizinerinnen und Mediziner auf der Intensivstation in Trento konnten den genauen Ablauf nicht rekonstruieren. Allerdings zeigte sein Körper keine Hinweise auf Steinschlagverletzungen, die eine Bewusstlosigkeit verursacht haben könnten.
Gewittereinbrüche in alpinen Wänden
Insbesondere in Felswänden mit wenigen Ausweichmöglichkeiten können Gewitter und starke Niederschläge schnell lebensgefährlich werden. Besonders in Rinnen oder Kaminen sammeln sich enorme Wassermengen – normales Canyoning ist ein Witz dagegen. Weil der Fels an diesem sonnigen Tag bereits stark aufgeheizt war, schmolzen Hagel, Graupel und Schnee rasch.
Anfangs prasselten noch Hagelkörner auf uns nieder – wenig später rauschte ein ganzer Wasserfall über uns hinweg. Innerhalb weniger Minuten standen wir im eiskalten Schmelzwasser, das nur noch 0–4 °C hatte. Die Erfrierungs- und Unterkühlungsgefahr war extrem hoch. Hinzu kam eine deutlich erhöhte Steinschlaggefahr.