Kolumne: Starke Staaten, Freiheiten & Privilegien
Tom Dauer sucht Antworten. #inunsrernatur 8
Drei Monate, nachdem Präsident Aschraf Ghani aus Kabul geflohen und Taliban die Macht an sich gerissen hatten, reisten Wolfgang Bauer, sein Fahrer Rafik Hammadi und der Übersetzer Lutfullah Qasimyar auf der „Ring Road“ durch Afghanistan. Die Straße ist Legende, seit Jahrzehnten wird an ihr gebaut und geflickt. 2200 Kilometer ist sie lang, verbindet kreisförmig die wichtigsten Städte des Landes: Kabul im Osten, Kandahar im Süden, Herat im Westen, Mazar-i-Sharif im Norden.
Sie zu befahren, ist ein gewagtes Unternehmen – nicht nur, aber vor allem in diesen Zeiten. In seinem Buch „Am Ende der Straße“ schildert Bauer viele Begegnungen. Er kennt Land und Leute gut, und diese erzählen ihm, wie es ist, in einem Staat zu leben, dessen Strukturen marode, dessen Vertreter inkompetent, korrupt und brutal sind. Ohnmächtig müssen die Menschen zwischen den Wüsten Sistans und den Gipfeln des Hindukusch bürokratische Willkür erdulden.
Das ist beklemmend, macht fassungslos und wütend. Als reichte es nicht, dass sie geplagt würden von Warlords, Taliban, dem Islamischen Staat und dem Chaos, das westliche Besatzer im Lauf von Jahrhunderten angerichtet haben, leiden die Afghanen immer öfter auch an Dürren und Missernten. Wasser ist Mangelware, in den Bergen, in den Tälern.
Ist eine andere Welt möglich?
„Die Erde“, schreibt ZEIT-Reporter Bauer, „ist in vielen Formen aufgeplatzt und aufgerissen, sie ist ein einziger Riss.“ Wie in vielen anderen Ländern des globalen Südens zeigen sich die Folgen des Klimawandels in Afghanistan inzwischen in verheerender Weise. Und die Menschen, die sandalbeschuht einen ganz ganz flachen ökologischen Fußabdruck hinterlassen, gehen zugrunde an Durst und Hunger und Verteilungskämpfen.
Die Erde ist in vielen Formen aufgeplatzt und aufgerissen, sie ist ein einziger Riss.
Machen können sie dagegen kaum etwas, weil es Lebensbedingungen gibt, „in denen man Verantwortung für die Welt nicht übernehmen kann, weil politische Verantwortung immer ein Minimum an politischer Macht voraussetzt“. Das schrieb Hannah Arendt 1964. Ihr Urteil ist heute ebenso aktuell wie damals. Ein Kollektiv von Ökonomen, Klimaforschern, Juristen und anderen Experten veröffentlichte im zurückliegenden Herbst den Bericht „Earth4All“.
Darin entwickeln die Wissenschaftler zwei Szenarien für die Zukunft der Erde. Das apokalyptische tritt ein, wenn der Turbokapitalismus die vorherrschende Wirtschaftsform bleibt. Das zweite geht davon aus, dass wir uns vom Primat des kontinuierlichen Wachstums verabschieden; nur so ließen sich die großen Krisen der Zeit – Armut, Unterdrückung, Diskriminierung, Energieversorgung und Ernährung – bewältigen. Natürlich ist das eine Herkulesaufgabe, die weder individuell noch privatwirtschaftlich bewältigt werden kann. Weshalb starke Staaten gefragt sind.
Die Autoren betonen aber auch, dass Dinge nur verändert werden können, wenn dies gesellschaftlich gewünscht ist. „Die Politik reagiert auf die öffentliche Meinung“, heißt es in „Earth4All“. „Globale Transformationen gründen auf lokalen, und seien es noch so kleine, Veränderungen.“ Allen Unkenrufen zum Trotz haben wir Mitteleuropäer das Glück, anders als zum Beispiel Afghanen, in funktionierenden Staaten zu leben.
Wir müssen gerade deshalb aber auch verstehen, dass die Freiheiten und Privilegien, die wir genießen, mit Pflichten einhergehen – zuallererst mit der Pflicht, unsere Freiheiten und Privilegien verantwortungsvoll zu genießen. Wie sich all das zusammenfügt? Nun, ich habe mein erstes Lebensjahr in Afghanistan verbracht – wofür ich naturgemäß nichts kann, meine Eltern hatten sich in Kabul kennengelernt. Deshalb spüre ich zu diesem Land, und zu vielen anderen, die ich bereist habe, eine besondere Verbindung.
Wir müssen verstehen, dass die Freiheiten und Privilegien mit Pflichten einhergehen.
Und obwohl mein ganzes Leben darauf ausgerichtet ist, möglichst unbeeinflusst von Autoritätsanmaßungen und in möglichst großer Autonomie zu leben, akzeptiere ich, dass ich selbst Verhaltensweisen und Gewohnheiten ändern muss, um einen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten. Wie dieser Beitrag aussieht, erzähle ich bei Interesse gerne. Klar, er ist begrenzt. Aber ich bin mir sicher, dass er sich politisch auswirken wird. Denn wenn wir starke Zivilgesellschaften bilden, können wir starken Staaten die Richtung weisen.