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Piz Badile Nacht Schweiz
03. Jul 2023 - 15 min Lesezeit

Wenn Berge zu uns sprechen könnten, was würden sie sagen?

Es war einmal ein alter Philosoph, der stellte seinen Schülern die Frage: „Sind wir eigentlich Menschen, weil wir zu den Sternen hinaufblicken oder blicken wir zu den Sternen, weil wir Menschen sind?“ Nach einer Weile antwortete der jüngste seiner Novizen: „Meister, schauen denn die Sterne auch zurück?“ Anlässlich des 30-Jahr-Jubiläums von bergundsteigen wird es Zeit, philosophisch zurück- und zugleich vorauszublicken.

Ob die Sterne zurückschauen, wissen wir nicht; jedenfalls nicht so ganz genau. Doch wie viele von uns haben schon einen gigantischen Sternenhimmel bewundert, wo etwas angeklungen ist, ein unbestimmtes Gefühl dafür, dass es in dem Meer aus Sternen, in den unendlichen Weiten des Kosmos noch etwas anders gibt, das vielleicht „zurückschaut“?

Und wie ist es mit den Bergen? Schauen die zurück? Angenommen es wäre so: Was würden dann die Berge über uns denken oder sagen, wenn sie unserem Treiben zuschauen?

Sonnenaufgang auf der Schüsselkarspitze. Foto: Rolf Gemza
Sonnenaufgang auf der Schüsselkarspitze. Foto: Rolf Gemza

Perspektivenwechsel

Als Bergsteigerin und Kletterer, als Jägerin oder Hirte, als Geologe oder Botanikerin, als Bürgermeister oder Tourismusmanagerin, doch nicht zuletzt auch einer Gewohnheit und Denktradition folgend: Immer blicken die Menschen auf die Berge und teilen aus ihrer Sicht mit, was sie sehen. Was dabei herauskommt, führt nicht unbedingt zu überraschenden Erkenntnissen. Das „Wissen“ um die Berge ist vielfach bekannt. Und dieses „Wissen“ sagt auch viel über diejenigen aus, die sich darüber mitteilen – egal ob in Gesprächen, in Fachveröffentlichungen oder in sozialen Medien.

Wir wollen jedoch einmal weiter blicken und in eine Richtung gehen, die gewohnte Denkmuster verlässt und neue Perspektiven einnimmt. Insofern wage ich hier den Versuch, die Berge „zurückschauen und sprechen“ zu lassen.

Berge sprechen lassen

Ulf Händel, Bergführer und langjähriger Geschäftsführer von Outward Bound Deutschland e.V. hat einmal gesagt: „Es gibt am Abend eine Stunde, in der die Berge kurz davor sind, etwas zu sagen; sie sagen es nie, oder vielleicht sagen sie es unaufhörlich und wir verstehen es nicht, oder wir verstehen es, aber es ist unübersetzbar wie Musik.“ Viele Menschen haben schon versucht, den Bergen in diesen oder in anderen Stunden zuzuhören.

Das, was sie dabei vernommen oder das, was sie in ihren Erlebnissen als „Sprache der Berge“ verstanden haben, führte beispielsweise zu großen schöpferischen Leistungen zahlreicher Dichter und Denker, Maler und Musiker. Darüber herrscht inzwischen auch kein Zweifel mehr: Die Berge wie auch alle anderen Naturlandschaften bieten uns Resonanzräume für emotionales und metaphorisches Erleben, das wiederum unser kreatives und musisches Potenzial zu stimulieren vermag.

Der ehemalige Bischof von Innsbruck, Reinhold Stecher, der selber passionierter Bergsteiger war, hat beim Zuhören in den Bergen seiner Heimat die Sprache der Berge nicht nur künstlerisch und theologisch, sondern vor allem auch pädagogisch verstanden. In seinem wunderbaren Buch „Botschaft der Berge“ beschreibt er die Gebirge als „Lehrmeister und Erzieher“. Nach ihm drängen sie sich nicht mit lärmender Rhetorik in unser Bewusstsein, sondern lehren uns in einer sich immer schneller drehenden, lauten Welt u. a. Ruhe, Weitblick sowie „Schau statt Show“. So gesehen verkörpern sie eine regenerative Gegenwelt zur getriebenen, selbstverliebten Leistungs- und Konsumgesellschaft.

Was uns Berge als „Du-Botschaften“ mitteilen könnten, hat auch Stefan Winter, Bergführer und Leiter des Ressorts Sportentwicklung beim DAV, beschrieben. Anlässlich des 150-jährigen Bestehens des DAV griff er den Slogan „Wir lieben die Berge“ auf, um diese Liebesbeziehung Mensch und Berge einmal zu hinterfragen.

Piz Badile Nacht Schweiz
Piz Badile bei Nacht. Foto: Simon Toplak

Er schrieb mutig und hintergründig aus Sicht der Berge: „Lieber Mensch … Du weißt, dass ich Dich liebe … Liebst Du mich auch … ? Tust Du das wirklich? In unserer Beziehung fehlen mir manchmal Dein Respekt und Deine Achtung … Ich breche …förmlich auseinander. Ich habe große Sorge, dass auch unsere Beziehung zerbricht, dass Du Dich immer mehr von mir entfernst, obwohl Du glaubst, ganz nahe bei mir zu sein … Ich habe den Eindruck, dass Du bei Deinem Tun vor allem Dich liebst, und ich nur eine Bühne für Dich bin.“ (bergundsteigen #109, S.12)

Der DAV ist mit seiner Liebeserklärung an die Berge nicht allein, auch der Verband Deutscher Berg- und Skiführer bekennt auf seiner aktuellen Homepage: „Wir lieben und leben die Berge: Dort oben fühlen wir uns daheim, dort wohnt unser Herz, dort arbeiten wir mit Begeisterung.“ Mag sein, dass viele Bergbegeisterte ihr persönliches Verhältnis zu den Bergen anders beschreiben würden, doch die Frage kann man schon einmal stellen: Wie steht es denn um diese Beziehung Mensch und Berge, ob nun Liebesbeziehung oder nicht? Fragen wir doch einmal einen Berg, statt über ihn zu reden.

Mensch: Servus Berg! Wie steht es denn um unsere Beziehung aus deiner Sicht?

Berg: Es ist ungewöhnlich, dass du mich das fragst, so sehr seid ihr Menschen immer nur mit euch selbst beschäftigt. Die Berge, auf die ihr steigt, die Wände, die ihr durchklettert, die Hänge, die ihr hinunterfahrt, sind älter als die Menschheit. Ich habe euer Erscheinen auf dieser Erde miterlebt sowie verschiedene kulturelle Auf- und Niedergänge verfolgt. Insofern nehme ich eher einen weiten und entwicklungsgeschichtlichen Blick auf unsere gemeinsame Beziehung ein.

Mensch: Das überrascht mich jetzt. Wir sind es zwar nicht mehr gewohnt, unser Handeln in größeren Zusammenhängen zu betrachten, doch dein Blickwinkel klingt interessant.

Berg: Oh, das ist er auch. Das Wort Beziehung bedeutet ja die einfache Tatsache, dass man auf etwas Bezug nimmt und irgendeine Resonanz oder Interaktion geschieht. Ich habe Freude am Geben, denn mein Leben ist Fülle: Holz, Wild, Obst, Früchte, Pilze, Erze, Weideflächen usw. Ich stelle euch darüber hinaus Räume für Abenteuer, für Weite, Atmosphäre, Stille oder Kontemplation zur Verfügung. Das ist meine Natur – ich nehme nicht, ich gebe. Mittlerweile seid ihr jedoch nur noch Nehmer in unserer Beziehung: Selbstverliebt, auf Konsum und Leistung gedrillt, stellt ihr aktuell das perfekte Abbild eurer turbokapitalistischen Ausbeutungsgesellschaft dar.

Mensch: Das klingt aber hart. War das denn schon einmal anders?

Berg: Ja selbstverständlich. Jahrtausendelang hattet ihr ein anderes Verhältnis zu mir!

Mensch: Was war denn der Unterschied?

Berg: Eure Ethnologen und Archäologen sind sich einig, dass der Nahe Osten die Wiege eurer westlichen Kultur ist. Die Menschen damals verehrten die Schöpfung als Große Mutter und dankten dem Leben, das sie hervorbringt. Sie spürten darin auch ein göttliches Prinzip. Später würdigte die griechische Epoche diese Große Mutter als Erdgöttin Gaia.

Eure direkten mitteleuropäischen Vorfahren waren Waldvölker, die jahrtausendelang Natur und Berge als beseelt betrachteten und durch Verehrung und Dankbarkeit vor Ausbeutung schützten. Doch wer verehrt heute noch Natur oder Berge? Wenn jedoch nichts mehr verehrt wird, dann ist auch nichts mehr heilig. Und wenn nichts mehr heilig ist, dann ist auch nichts mehr sicher. Mit der Achtung und dem Respekt eurer Vorfahren dem Leben gegenüber habe ich als Berg und letztlich die gesamte Erde jahrtausende- lang besser mit euch zusammengelebt, als das heute der Fall ist.

Mensch: Wodurch hat sich denn diese Einstellung gegenüber der Natur und den Bergen verändert?

Berg: Das animistische Verständnis eurer Vorfahren wurde zunächst durch das Christentum verdrängt und dann sogar verteufelt. Die Missionare zerstörten die mythische Welt eurer spirituellen Wurzeln, damit sie den Samen des „wahren Glaubens“ säen konnten. Sie ruinierten eure heiligen Haine und sperrten sich in den Mauern der Klöster ein.

Der selbstherrliche Kampf gegen das sogenannte Heidentum war zugleich auch ein Feldzug gegen den Wald und die Bäume, denn aus dem Wald zogen eure Urahnen ihre Kraft und ihre spirituelle Inspiration. Doch es gab auch christliche Mystiker, die ein Bekenntnis zur Verschwisterung des Menschen mit der Natur hatten. Franz von Assisi beispielsweise baute durch seine große Naturliebe eine familiäre Beziehung zu allem auf, was sein Gott als Natur erschaffen hat.

Hieraus erklärt sich, warum er gerne die Anrede „Bruder Wind“, „Schwester Mond“ oder auch „Mutter Erde“ verwendete. Diese Liebe und diese Achtung komponierte er in seinen Sonnengesang hinein.

Mensch: Das hört sich spannend an; wie ging es dann weiter?

Berg: Letztlich hat sich die Auffassung der Kirche durchgesetzt, der Mensch sei die Krone der Schöpfung und solle sich die Erde „untertan“ machen – von der Verehrung sei sie also in die Knechtschaft zu führen. Vorbehaltlich der Möglichkeit, dass es sich um einen tragischen Übersetzungsfehler aus dem Aramäischen ins Griechische und dann ins Lateinische handelt, scheint jedoch diese Bibelstelle den Ausbeutungsgedanken des christlichen Abendlandes zu legitimieren, der eurer „Zivilisation der Naturausbeutung“ Vorschub leistete.

Die aramäische Sprache der damaligen Zeit ist eine Sprache voll von Bildern, Symbolen und Mehrdeutigkeiten. Gerade diese Bedeutungsvielfalt fordert zu einer persönlichen Auseinandersetzung vor allem im eigenen Herzen auf. Doch die griechischen Übersetzer mit ihrem logisch geschulten Denken waren überfordert, diese Bilder- und Herzsprache des Aramäischen authentisch zu übersetzen.

Mensch: Klingt einleuchtend. Was geschah dann in der Folge?

Berg: Im 17. Jahrhundert entstand durch Descartes’ Vernunftideologie die Epoche der Aufklärung. Sie half entscheidend dabei, den Überresten des mythischen Denkens den Garaus zu machen. Ein kurzes Wiederaufflammen von emotionalen und metaphysischen Zugängen zur Natur erfuhr durch die Romantik noch einmal eine kurze, aber ereignisreiche Blüte.

Diese Epoche formierte sich als Widerstand gegen das Monopol der vernunftbetonten Denkmodelle und brachte große Dichter wie Goethe, Schiller oder Novalis hervor. Das war eine schöne Zeit mit euch, denn da war unsere Beziehung viel gefühlvoller. Im Rückgriff auf diese Phase stammt übrigens eure Erkenntnis: „Wir waren einst das Land der Dichter und Denker.“ Letztlich hat sich der nüchterne, „vernünftige“ und naturwissenschaftliche Blick auf die Natur und die Berge durchgesetzt, den ihr heute als völlig selbstverständlich erachtet und der euch zunehmend von der Natur und den Bergen entfremdet.

Denn eure Naturwissenschaften haben sich vom Wesen des Lebendigen weit entfernt. Die messbare Seite der Welt ist nämlich nur die messbare Seite der Welt; also nur ein Ausschnitt und nicht das Ganze. Schon der französische Naturwissenschaftler Gaston Bachelard hat davor gewarnt: „Da, wo die Wissenschaft anfängt, hört das Leben auf; und da, wo das Leben anfängt, hört die Wissenschaft auf.“

Mensch: Warum konnte sich die gefühlvolle Romantik nicht als allgemeingültiges Naturverständnis durchsetzen?

Berg Weil dann ein sehr technisches Zeitalter einsetzte – die Industrialisierung. Das dafür typische Leistungs-, Konsum- und Gewinndenken stellt nicht nur den Motor eures gegenwärtigen Wirtschaftssystems dar, sondern beeinflusst auch euer Bewusstsein und damit eure geistig- emotionalen Zugänge zur Natur und den Bergen. So reduziert ihr uns inzwischen zu Objekten, die ihr benutzen, kommerzialisieren und ausbeuten könnt, die dann durch Schutz- und Lenkungsmaßnahmen wiederum vor euch selbst geschützt werden müssen. Nennt ihr das eine (Liebes-)Beziehung?

Mensch: Nein, eigentlich nicht. Aber was sollen wir denn tun?

Berg: Schon Albert Einstein hat darauf hingewiesen, dass man Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen kann, durch die sie entstanden sind. Eine Verbesserung unserer Beziehung kann demnach nur durch ein Umdenken stattfinden. Fangt also zunächst einmal an, die Natur und die Berge als ein lebendiges System zu sehen und reduziert uns nicht zu Objekten. Hinterfragt stärker die Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Sport, sowie den damit verbundenen permanenten Erwartungsdruck. Diese Wechselwirkung hat nämlich eine große Suggestivkraft auf euch, so dass euer Kopf ständig mit Leistung und Wettbewerb beschäftigt ist. Doch Bergsport ist vor allem ein Sport in freier Natur. Also kommt ihr zu mir zu Besuch. Wir können jedoch nicht in Kontakt sein und Resonanz aufbauen, wenn sich euer Geist und euer Bewusstsein ausschließlich im Sport- oder Wettkampfmodus befinden. Ihr degradiert mich dann zum Turngerät oder zum Sportplatz, eingebettet in eine schöne Kulisse. Turngeräte berühren aber nicht euer Herz und nicht eure Seele. Wer die Berge nur im Eiltempo oder Wettkampfstil aufsucht, kann sich schwerlich noch von irgendwas berühren, verzaubern oder inspirieren lassen. So werdet ihr in der Beziehung zu mir immer autistischer.

Foto: Matthias Knaus
Foto: Matthias Knaus

Mensch: Aber das tun wir ja mittlerweile fast alle!

Berg: Und genau darunter leide ich ja. Ihr habt inzwischen ein sehr reduziertes Bild von mir. Ihr seid Teil eines großen Ganzen, doch Ihr erfahrt euch selbst, eure Gedanken und eure Gefühle als etwas, das von diesem Ganzen abgetrennt ist. Manche von euch behaupten sogar, dass es der Natur und den Bergen egal ist, wenn ihr als Menschheit von der Erde verschwindet.

Das ist ein fataler Irrtum. Die Erde ist ein großer Superorganismus, in dem alles mit allem vernetzt und verbunden ist. Als Kinder dieser Erde seid ihr Teil davon und deswegen gehören wir zusammen. Albert Einstein hat Recht: Aus diesem begrenzten Bewusstsein könnt ihr euch nur befreien, indem ihr wieder mehr Mitgefühl entwickelt für alles Leben, das euch umgibt.

Es hat eine sehr wohltuende Wirkung auf mich, wenn ihr beim Bergsteigen Zeit zum Atmen und Zeit zum Staunen mitbringt, wie es der Freikletterpionier und erste Deutsche auf dem Mt. Everest Reinhard Karl stilvoll beschrieben hat. Wenn ihr mit meinem Schöpfungsglanz in Resonanz geht und euch davon berühren lasst, geht es mir gut. Euer Wettbewerbsdenken aber, egal ob gegen die Uhr, gegen euch selbst oder gegen andere, ist ein richtiger Resonanzkiller.

Mensch: Das stimmt mich sehr nachdenklich. Was kannst du uns zum Abschluss noch mitgeben?

Berg: Vor der Wirklichkeit, steht immer erst die Möglichkeit, wie der deutsche Philosoph Martin Heidegger schon einmal bemerkt hat. Die Entwicklung unserer Beziehung ist also nicht zwangsläufig dem Mainstream eurer aktuellen Kultur ausgeliefert, sondern kann durch euch selbst wieder verändert werden. Entwickelt also ein positives Zukunftsbild.

Stellt euch vor, euer Bergsport würde auf der Basis einer Verschwisterung des Menschen mit der Natur und den Bergen ausgeübt werden. Stellt euch vor, euer bergsteigerisches Tun wäre eingebettet in eine Natur-Sport-Philosophie, die von den geistigen Errungenschaften eurer Kulturgeschichte inspiriert ist, nicht nur vom einseitigen Leistungs- und Wettbewerbsdenken.

Stellt euch vor, ihr wärt frei von kommerzieller Beeinflussung und all dem „Erfolgs Bullshit“, wie es die Kletterlegende Heinz Mariacher schon formuliert hat.

Mensch: Ich weiß gar nicht, ob wir überhaupt noch Vorstellungskraft für eine andere Zukunft haben, so sehr scheinen wir dem „Weiter so!“ verpflichtet zu sein. Gibt es denn schon eine Natur-Sport- Philosophie für den Bergsport?

Berg: Die gibt es teilweise. Die Norweger haben angefangen, sich durch große Denker wie Mahatma Gandhi, Albert Einstein oder Henry David Thoreau in ihren bergsteigerischen Aktivitäten anregen zu lassen. Sogar die Bergführerausbildung wird davon beeinflusst. Sie haben daraus „Friluftsliv“ entwickelt (bergundsteigen 3/2007, S.76).

Das ist eine Philosophie, in der die Berge nicht als Gegner betrachtet werden, die es heroisch niederzuringen gilt. Friluftsliv vermittelt eine naturnahe Lebensweise, die Achtsamkeit, Fürsorge und Präsenz fördert. Stille wird bei den meisten Norweger*innen beispielsweise als größte Naturqualität geschätzt. Diese Stille in den Bergen öffnet das Bewusstsein fürʼs Zuhören und Lauschen; auch in sich selbst hinein.

Hinter all dem steckt letztlich die Auffassung, dass die Natur den Menschen veredeln kann. Dieser Gedanke ist nicht neu. Vor über 200 Jahren vertrat das bereits der Schweizer Forscher Jean Jaques Rousseau und inspirierte damit viele Reformpädagogen und die Erlebnispädagogik des 20. Jahrhunderts. Stellt euch also vor, ihr hättet eine Natur-Sport-Philosophie, die auf ein partnerschaftlich-fürsorgliches Miteinander in unserer Beziehung setzt: Was denkst du, wie würde ich dann auf euch Menschen blicken?

Mensch: Mit Freude. Und vermutlich gäbe es weniger Umweltprobleme.

Nun haben wir also zugehört, dem Berg, was er uns zu sagen hat oder zu sagen hätte, würden wir ihn tatsächlich fragen können. Wenn wir diesen Dialog ernst nehmen und nicht nur als eine hübsche Geschichte vom sprechenden Berg betrachten, dann ist die vorgebrachte Botschaft klar:

ES STEHT NICHT GUT UM UNSERE BEZIEHUNG.

Das aktuelle Bergsportverhalten ist typisch für eine objektbezogene, egogetriebene Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft, die uns von der Natur immer mehr entfremdet. Angesichts dieser Geisteshaltung und der zunehmend autistischen Verhaltensweise gegenüber der Natur und den Bergen kommen wir als „Bergliebhaber*innen“ wohl nicht drum herum, unser Naturverständnis sowie unsere Umweltbildung eingehender auf den Prüfstand zu stellen.

Reichen uns tatsächlich Naturschutzregeln und Lenkungsmaßnahmen oder benötigen wir nicht eine grundlegende Änderung in unserer geistig-emotionalen Einstellung gegenüber der Natur, den Bergen sowie allem Leben, das uns umgibt? Ein Natursportbewusstsein, das sich neben leistungsorientierten Tugenden auch Werte wie Ehrfurcht und Demut, Mäßigung und Dankbarkeit gegenüber der Schöpfung auf die Fahne schreibt, könnte dabei eine entscheidende Schlüsselrolle spielen.

Ein gangbarer Weg zu dieser „neuen Naturbeziehung“ kann durch die interdisziplinäre Vernetzung von Wissen aussichtsreich entwickelt werden: durch die Vernetzung von Sport und Philosophie, durch die Vernetzung von Naturwissenschaften mit Geisteswissenschaften sowie durch die Verknüpfung von westlichen Weisheiten mit den Weisheiten der indigenen Völker.

Das klingt nach einem interessanten Projekt für uns alle. Und es würde ein nächster wichtiger Schritt in der Weiterentwicklung bestehender Umweltbildungskonzepte der Alpenvereine sowie der Bergführerverbände bedeuten.

„Unser Nächster ist nicht nur der Mensch. Unsere Nächsten sind alle Lebewesen. Deshalb glaube ich, dass der Begriff der Ehrfurcht vor dem Leben unseren Gedanken der Humanität mehr Tiefe, mehr Größe und mehr Wirksamkeit verleiht. Die Probleme sind nur durch Gesinnung zu lösen.“

Albert Schweitzer

Inspirierende Quellen

  • Franz von Assisi mit seinem Sonnengesang: https://franziskaner.net/der-sonnengesang/
  • Gaston Bachelard, Naturwissenschaftler und Philosoph: „Poetik des Raumes“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main,
  • Thomas Berry, amerikanischer Kulturwissenschaftler, u. a. in: „Der Kosmos spricht mit uns“, Zeitschrift Erleben und Lernen, 3/4 1997
  • Andi Dick, Bergführer und Redakteur des DAV Panorama: “Sport oder Steigen“, „Alpenvereinsjahrbuch Berg 2019“, Tyrolia Verlag Innsbruck, S. 142-149
  • Die Arbeiten von Prof. Neil Douglas-Kotz, der sich intensiv mit der aramäischen Sprache beschäftigt hat, u.a. in: „Das Vaterunser“, Übersetzung aus dem Aramäischen, Knaur Verlag, München
  • Zitate von Albert Einstein
  • Ulf Händel: „Aufbruch ins Offene“, Verlag Edition Erlebnispädagogik, Lüneburg
  • Reinhard Karl: „Erlebnis Berg – Zeit zum Atmen“, Bruckmann Verlag München
  • Die Arbeiten von Prof. James Lovelock und Lynn Margulis zum Thema „Superorganismus Erde“
  • Heinz Mariacher, „Alpenvereinsjahrbuch Berg 2019“, Tyrolia Verlag Innsbruck, S. 175
  • Meine eigenen Arbeiten zum Thema Entschleunigung von Lebens- und Arbeitswelten: Pit Rohwedder: „Balance your work life- durch clevere Entschleunigung Leistung verbessern“, Schäffer Pöschel Verlag 2020
  • Die Arbeiten des Soziologen Prof. Hartmut Rosa zum Thema Resonanz
  • Zitate von Albert Schweitzer, Arzt, Theologe und Philosoph
  • Reinhold Stecher: „Botschaft der Berge“, Tyrolia Verlag Innsbruck
  • Die Arbeiten des Ethnologen Dr. Wolf-Dieter Storl, u.a. in: „Ur Medizin- die wahren Ursprünge unserer Volksmedizin“, AT Verlag, Aarau und München
  • Henry David Thoreau: „Walden oder Leben in den Wäldern“, Diogenes Verlag Zürich

Erschienen in der
Ausgabe #121 (Winter 22-23)

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