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Versuch der ersten Winterbegehung der„Ferrari-Route“, Cerro Torre
von Tom Dauer
15. Jun 2023 - 10 min Lesezeit

30 Jahre Outdoorindustrie: „Unser Modell wird nicht überleben“

In den vergangenen 30 Jahren haben sich nicht nur Herangehensweisen, Denkmuster, Ausrüstungsgegenstände und Lehrmeinungen rund um das Bergsteigen geändert. Der Alpinismus hat auch als ökonomisches System einen Wandel vollzogen. Als langjähriger Generalsekretär und amtierender Präsident der European Outdoor Group (EOG) blickt der Brite Mark Held auf Entwicklungen zurück, die die Outdoorindustrie geprägt haben.

Wie sah der Outdoormarkt in den frühen 1990er-Jahren aus? Wie alt sind Sie, Tom? Waren Sie schon in den 1980er-Jahren dabei?

Ja, ich wurde 1969 geboren, also … Okay, zehn Jahre jünger als ich. Ich habe vor gut 35 Jahren in der Outdoorbranche angefangen. Zunächst arbeitete ich in einem Kletterladen, der zu Berghaus gehörte. Nach einem Jahr im Einzelhandel wechselte ich ins Unternehmen selbst und blieb dort etwa 16 Jahre lang.

Wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, gab es damals eine Handvoll mittelständischer Unternehmen, die Bekleidung, Schuhe, Zelte und Hardware herstellten. Ist dieser Blick zurück romantisierend, oder waren es vor allem familiengeführte Unternehmen, die das Geschäft prägten?

Mark Held European Outdoor Group
Mark Held ist langjähriger Generalsekretär und amtierender Präsident der European Outdoor Group.

„Familiengeführt“ ist das falsche Wort, „inhabergeführt“ ist treffender. Die Branche war geprägt von Unternehmen, die von Enthusiasten geleitet wurden. Ob das nun Yvonne Chouinard war, der Black Diamond und Patagonia erschuf, oder Peter Lockey und Gordon Davison, die Berghaus gründeten, Mike Parsons, der Karrimor neu erfand, oder Hermann Huber, der als „Mr. Salewa“ weltweit bekannt war.

Sie und andere hatten erkannt, dass es auf dem Markt an guter Ausrüstung mangelte. Also gründeten sie Unternehmen, mit denen sie die Lücken schließen wollten. Aber sie waren nicht immer, sagen wir, sehr versiert darin, diese Unternehmen auch zu führen.

Ab welchem Zeitraum kann man von einem anhaltenden Boom auf dem Outdoormarkt sprechen?

Die 1990er-Jahre waren eine aufregende und interessante Zeit, weil viele Firmen wuchsen und erfolgreich waren, ob North Face, Mountain Hardware, Patagonia, einige skandinavische Unternehmen, natürlich auch mitteleuropäische. Die Geschäfte florierten. Einerseits gab es eine gesunde Nachfrage nach besserer Ausrüstung, andererseits wurden auch die nötigen Technologien zu deren Herstellung entwickelt.

Seit der Jahrtausendwende ist ein stetiger Aufwärtstrend zu beobachten. Was waren und sind die Gründe dafür, dass die Outdoorbranche zu einem bedeutenden Teil des Güter- und Warenmarktes wurde?

Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Als ich in der Outdoorbranche anfing, bestand der Standardregenschutz aus wasserdichtem Neopren, und ich bin mir nicht sicher, ob man darin eher von innen oder von außen nass wurde.

Dann revolutionierten technologische Entwicklungen wie Gore-Tex den Markt. Das zog eine große, große Veränderung nach sich, denn der Preis, den die Kunden für eine wasserdichte Jacke zu zahlen bereit waren, verdoppelte sich von heute auf morgen!

Mark Held bei einem Vortrag über Nachhaltigkeit in der Outdoor-Industrie. Foto: Archiv Held

Die gestiegenen Erwartungen an den Nutzen neuer Technologien waren also ein wichtiger Einflussfaktor?

Ja, aber nicht für alle war diese Entwicklung gesund. Wenn inhabergeführte Unternehmen eine gewisse Größe erreichen, passiert es oft, dass die steigende Nachfrage ihre Produktionsmöglichkeiten übersteigt. Wenn sie zu schnell wachsen, können sie das Qualitätsniveau, das sie zuvor hatten, oft nicht mehr halten. Also suchen sie nach Investitionskapital und geben damit Einflussmöglichkeiten ab. Oder sie müssen verkaufen, weil sie mehr oder weniger dazu gezwungen sind.

Heute ist der Markt geprägt von Kapitalinvestitionen, Übernahmen und Fusionen, Konzentrationsprozessen …

Ab Anfang der 1990er-Jahre kam externes Kapital ins Spiel, und das hat den Outdoorsektor verändert. Heute haben wir eine Situation, in der es zum einen die von Ihnen erwähnten Entwicklungen gibt. Zum anderen hält sich nach wie vor eine Phalanx enthusiastischer Eigentümer, die in ihren Unternehmen arbeiten.

Was waren neben den technologischen Verbesserungen und den Megatrends wie Gesundheit, Fitness und Körperkult weitere Gründe dafür, dass die Outdoorbranche ein hohes Wachstum verzeichnen konnte?

In den späten 1980er-Jahren setzte ein neuer Trend ein: Unternehmen verlagerten ihre Produktion nach China und Südostasien. Das war eine bedeutende Veränderung. Einige Unternehmen erkannten, dass sie so die Marktpreise effektiv unterbieten und mehr Geld verdienen konnten als alle, die weiterhin in Westeuropa oder Amerika produzierten.

Entschuldigen Sie, dass ich immer wieder auf meinen beruflichen Hintergrund zurückkomme, aber bei Berghaus in Sunderland, Tyne and Wear, im Nordosten Englands, arbeiteten etwa 500 Menschen in der Produktion. Wir hatten eine Tag- und eine Nachtschicht, und wir waren eines der letzten Unternehmen, das seine Produktionsstätten in Großbritannien schloss. Wir hatten keine andere Wahl, weil wir mit dem, was im Fernen Osten passierte, nicht mehr konkurrieren konnten.

Was war die Folge dieser Entwicklung?

Sie hat die Risikowahrnehmung der Branche grundlegend verändert. Größtenteils wurden die Unternehmen von Menschen mit einem sehr starken moralischen Kompass und strengen geschäftlichen Prinzipien geführt. Durch die Expansion nach Asien waren sie nicht mehr in der Lage, jedes Element der Lieferkette überwachen zu können.

Ein Prozess, den man im Auge behalten und nach eigenen Vorstellungen gestalten konnte, wurde plötzlich diffus und kaum noch beeinflussbar. Man war nun darauf angewiesen, regelmäßig aus Europa nach Asien zu reisen, um die Produktion zu besichtigen. So können natürlich viele Übel verborgen bleiben.

Obwohl der Outdoormarkt heute einen wichtigen Teil des Gesamtmarktes ausmacht, umgibt er sich immer noch mit der Aura des Unkonventionellen, Anti-Kommerziellen, Anarchischen. Dieser Widerspruch führt zu einer Reihe von Problemen, nicht wahr?

Darin besteht eine echte Herausforderung, denn je beliebter die Aktivitäten in freier Natur werden, desto mehr wird die Umwelt geschädigt, die wir doch erhalten wollen. Zur traurigen Realität gehört aber, dass die Regierungen der Europäischen Union (EU) in den vergangenen drei Jahrzehnten Milliarden in Sportanlagen gesteckt haben, etwa in Fußballarenen oder Leichtathletikstadien. Aber sie haben sehr wenig in den Erhalt der natürlichen Umwelt investiert, in der sich viele Menschen erholen.

Route „El Corazón“, Fitz Roy 1995.
Tom Dauer in der Route „El Corazón“, Fitz Roy 1995. Damals war das massive Wachstum der Outdoorbranche noch nicht abzusehen. Foto: Michael Wärthl

Die Industrie kann sich doch mit dem Ruf nach mehr Staat nicht aus der Verantwortung stehlen?

Nein, die Unternehmen müssen einsehen, dass wir nicht einfach immer weiter konsumieren können. Es hat keine Zukunft, immer mehr zu produzieren. Eines der Projekte, die die EOG unterstützt, ist das „Accelerating Circularity Project“.

Die Idee, Ausrüstungsgegenstände in ein Kreislaufsystem zurückzuführen, statt sie zu verkaufen oder auszusortieren, ist ja nicht neu. Aber sie liegt im Trend. Denkt man sie zu Ende, sollte es im Verhältnis zwischen Hersteller und Kunde heute um mehr gehen als nur um die Ware. Wir müssen die gesamte Beziehung überdenken – neben der geschäftlichen sollte es auch eine ideelle geben.

Die Revolution frisst ihre Kinder. Mit dem Boom der Outdoorbranche nehmen auch die Probleme zu, die durch Phänomene wie Overtourism entstehen. Kann die Branche wirklich nachhaltig arbeiten, wenn die Nutzung natürlicher Ressourcen ihre Geschäftsgrundlage ist?

Wir ermutigen Outdoorfirmen, transparent zu agieren, an ihre Überzeugungen zu glauben und die Beziehung zu ihren Kunden zu festigen. Es geht darum, die Branche zu verändern und zugleich weiterhin gute Produkte herzustellen.

Ich kann mir etwa vorstellen, dass Outdoormarken Leasingverträge mit ihren Kunden abschließen werden. Nachdem man sein Produkt eine Zeit lang genutzt hat, bekommt man ein neues und das alte geht zurück in den Kreislauf, oder man wechselt zu einem anderen Anbieter. Das würde zu einem nachhaltigen Wirtschaften beitragen.

Lassen Sie uns noch einmal einen Schritt zurückgehen. Lässt sich die Entwicklung der Branche in konkreten Zahlen ausdrücken?

Es gibt keine Zahlen oder Statistiken zur Gesamtentwicklung in den vergangenen Jahrzehnten, dazu ist die Branche vielleicht zu jung. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass alle wichtigen Unternehmen so schnell wuchsen, dass es kaum zu glauben war. Und das ist sehr interessant, denn ich glaube nicht, dass Outdooraktivitäten in gleichem Maße zunahmen.

Erst wuchs also die Industrie, dann zog die Zielgruppe nach?

Ja, denn erst mit besserer Ausrüstung wuchsen auch die Möglichkeiten für diejenigen, die nicht über ausreichend Erfahrung in ihrer bevorzugten Outdooraktivität verfügten. Das ist Sinn und Zweck von guter Ausrüstung: Sie erleichtert den Einstieg, aktiv zu werden. Dazu kam ein zweiter Faktor. Gegen Ende der 1990er-Jahre wurde der Look ein immer größeres Thema.

Aus welchen Gründen auch immer galten plötzlich diejenigen als cool, die Outdoorklamotten trugen, auch wenn sie in vielen Situationen völlig unangemessen waren. Diese Entwicklung hat nie aufgehört. Outdoor ist nach wie vor unglaublich populär, sowohl was den Look als auch was den Lifestyle betrifft.

„Männer ohne Nerven“, Pinnistal,
Tom Dauer in „Männer ohne Nerven“, Pinnistal, etwa 1992. Die Funktionsbekleidung wurde bunt. Foto: Michael Wärthl

Die latente Klage über die Kommerzialisierung des Bergsports verschließt die Augen vor der Realität.

Seitdem die Menschen Bergsport als Freizeitbeschäftigung ausüben, wollen sie mit diesem Phänomen Geld verdienen … Natürlich gab es immer diesen kommerziellen Aspekt. Aber Outdoorprodukte sind nicht der ausschlaggebende Grund, dass Menschen in die Berge gehen. Ja, sie senken die Einstiegshürden, machen das Erlebnis bequemer und sicherer. Aber sie machen nicht das Erlebnis an sich aus. Solange es einen Bedarf an und eine Nachfrage nach Erlebnissen gibt, wird es auch eine entsprechende kommerzielle Nutzung geben.

Die Outdoorbranche wächst nicht nur, sie bietet durch ihr Image auch Anknüpfungspunkte für Teilnehmer anderer Märkte. „Mit uns sind Sie anders“, lautet zum Beispiel der aktuelle Werbeslogan eines Herstellers. Autofirmen, Versicherungen, Banken und andere versuchen, sich durch Marketing und Werbung mit diesem Image zu schmücken. Wann hat das angefangen?

Ich finde es faszinierend, dass etwa Banken auf die Idee kamen, eine alpinistische Leistung könnte ein Sinnbild dafür sein, was sie selbst tun. Das ist ein ausgemachter Blödsinn. Aber es gab schon immer die Vorstellung, dass es erstrebenswert sei, in den Bergen etwas zu erreichen. Ich glaube, das hat sich in den frühen 1990er-Jahren eingeschlichen, als Marketingexperten den Einfall hatten, Bergsteigen könne eine gute Analogie für ein erfolgreiches Unternehmen darstellen.

Schauen wir uns das Marktsegment Outdoor an, also die Zielgruppe. Auch hier hat sich in den letzten 30 Jahren viel verändert. Was unterscheidet den typischen Bergsportkunden damals dem von heute?

Meine Antwort darauf wäre „Bewusstsein“. Aber es gibt verschiedene Arten von Kunden. Es gibt diejenigen, die auf ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und das richtige Image achten, sich aber nicht darum scheren, was die Branche tut, oder um Ethik oder Moral oder sonst was. Und es gibt einen spezialisierten und anspruchsvollen Kundenstamm, der sich zunehmend der Probleme im Zusammenhang von Ausrüstung, ihrer Herstellung und Nutzung bewusst wird.

Wie muss ein Unternehmen heute arbeiten, um erfolgreich zu sein?

Die Realität ist: Die Outdoorbranche ist nicht besonders profitabel. Das mag überraschend sein, aber viele Unternehmen erzielen kaum Gewinne. Oft kommt es zu einer „boom and bust“-Situation, in der die Unternehmen die Marktentwicklung falsch prognostizieren.

Auf einmal haben sie zu viele Produkte auf Lager, die sie nicht lange halten können. Also müssen sie billig verkaufen; auf dem Markt gibt es sehr viele preisreduzierte Outdoorprodukte. Das beeinflusst natürlich die Preisvorstellungen der Verbraucher. Eine fatale Entwicklung, denn ohne ausreichende Gewinnspanne können Marken nicht in Nachhaltigkeit investieren.

Ich denke daher, dass wir eine reifere Sicht auf die Art und Weise brauchen, wie wir Produkte konsumieren. Wir müssen nicht alles kaufen. Wir können auch andere Vereinbarungen zwischen Herstellern und Kunden eingehen. Das Modell, das wir im Moment haben, wird nicht überleben.

Wie wird der Markt Ihrer Meinung nach in 30 Jahren aussehen?

Ich bin überzeugt, dass wir kein massives Wachstum mehr erleben werden. Dies wäre weder nachhaltig noch erstrebenswert. Ich denke, die Branche muss eine neue Balance finden und einen Weg, wie sie sich auf Dauer selbst erhalten kann. Ich habe keine Kristallkugel, aber Hoffnung, dass sich die Dinge zum Guten wenden werden.

Was ist Ihr persönliches Fazit nach über 30 Jahren Arbeit in der Outdoor-Branche?

Ich gehe bald in Rente, so dass ich mehr Zeit haben werde, selbst draußen zu sein. Wenn Sie ein Outdoorenthusiast sind, sollten Sie nie in die Outdoorbranche gehen. Das wäre mein Rat.

European Outdoor Group

Gegründet 2003 von 19 Unternehmen, versteht sich die European Outdoor Group (EOG) als grenzüberschreitende Repräsentanz der Outdoorbranche. Sie organisiert und unterstützt Projekte und Initiativen, die für die Branche von Bedeutung sind. Darunter fallen Events und Messen, Marktanalysen, Forschungsarbeiten, Corporate-Social-Responsibility (CSR)- und Nachhaltigkeitsaktivitäten, politische Lobbyarbeit und mehr. Mit inzwischen über 100 Mitgliedern stellt die EOG heute eine ebenso wichtige wie gewichtige Interessensvertretung dar.

Erschienen in der
Ausgabe #121 (Winter 22-23)

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