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Aussicht über den Gletscher. Foto: Franziska Haack
23. Aug 2022 - 14 min Lesezeit

Günter Schmudlach: „Das Problem ist nicht die Digitalisierung, sondern der Mensch“

Fluch oder Segen? Dank Social Media, Online-Tourenportalen und GPS strömen immer mehr Leute in die Berge. Manche Orte sind überfüllt, manche Menschen überfordert. Die Digitalisierung macht den Bergsport aber auch sicherer, wie das Beispiel Skitourenguru zeigt. Wir haben mit dessen Entwickler Günter Schmudlach gesprochen.

Günter Schmudlach ist begeisterter Skitourengeher, widerwilliger Social-Media-Nutzer, Karten-Liebhaber und Informatiker. Mit der Entwicklung von Skitourenguru, einem Online-Tool zur Einschätzung des Lawinenrisikos auf Skitouren, hat er in den letzten Jahren entscheidend zur Digitalisierung des Bergsports beigetragen – besser gesagt des Skitourengehens. Im Interview erklärt der Schweizer, warum gerade der Winter und das Skitourengehen für digitale Hilfsmittel prädestiniert sind, welche Möglichkeiten für digitale Innovationen er im Sommer sieht und welche Gefahren das Ganze mit sich bringt. Eines vorweg: Digitalisierung und Innovation sind zwei verschiedene Dinge.

Günter Schmudlach ist begeisterter Tourengeher
Günter Schmudlach ist begeisterter Tourengeher und Entwickler der Plattform Skitourenguru. Foto: Martin Scheel.

bergundsteigen: Wie bist du auf den Skitourenguru gekommen?

Günter Schmudlach: Mir fiel irgendwann auf, dass ich Freitag- und Samstagabend immer das Gleiche machte. Ich checkte immer dieselben 200 von Zürich gut erreichbaren Skitouren mehr oder weniger unsystematisch durch, um einen guten Vorschlag für die nächste Skitour zu finden. Das war viel Arbeit und führte sicherlich nicht immer zur besten Wahl. Bereits 2005, als das Institut für Schnee und Lawinenforschung (SLF) die Grafische Reduktionsmethode (GRM) herausbrachte, dachte ich mir, dass man das sehr leicht automatisieren könnte. Und dann habe ich vor acht Jahren an einem langweiligen Weihnachten begonnen zu codieren, ziemlich planlos und ziellos.

Was waren die ersten Schritte?

Zuerst habe ich versucht, beim SLF einen maschinenlesbaren Lawinenlagebericht zu bekommen. Da es den nicht gab, musste ich den Lawinenlagebericht aus der Webseite auslesen. Diese Informationen kombinierte ich mit Hangneigungskarten. Nach drei Monaten ging die erste, sehr einfache Version von Skitourenguru online. Diese Bastelversion löste erste kontroverse Diskussionen aus und stieß einen Prozess stetiger Verbesserungen an, der bis heute andauert.

Was waren entscheidende Verbesserungen?

Version zwei basiert nicht mehr auf der GRM, sondern auf der QRM, also auf der Quantitativen Reduktionsmethode. Damit ist Skitourenguru mitten im Thema „Machine Learning“ angelangt, das heißt, ein Programm erkennt Gesetzmäßigkeiten in Daten aus der Vergangenheit. Dafür wurde der Algorithmus mit Hilfe von Unfalldaten und GPS-Tracks trainiert. In der bald erscheinenden dritten Version stützt sich die Methode nochmals stärker auf die Erfahrungen, die in den Daten stecken. Mittlerweile testet Skitourenguru 40 Eigenschaften, beispielsweise Neigung, Bewuchs, Gefahrenstufe und die Frage, ob sich der Punkt in der im Lawinenlagebericht genannten Kernzone befindet. So lässt sich ein immer besseres Muster der spezifischen Eigenschaften von Unfallorten und Nicht-Unfallorten herausarbeiten.

Zwischenfrage für Laien: Was ist ein Algorithmus eigentlich genau?

Vereinfacht kann man es sich wie ein Kochrezept vorstellen. Ein Beispiel: Wir kennen alle die Skitourenschwierigkeitsskala: leicht, wenig schwierig, ziemlich schwierig, schwierig usw. Der Schwierigkeitsgrad ist abhängig von den Eigenschaften entlang der Route wie Neigung, Absturzgefährdung oder Platzverhältnissen. Ein ganz einfacher Algorithmus würde der Tour mithilfe einer willkürlich festgelegten Systematik anhand der steilsten Stelle eine Schwierigkeit zuweisen. Man kann es aber auch andersrum angehen: Indem man einen großen Datensatz von manuell bewerteten Skitouren nimmt, zum Beispiel 1500 Skitouren mit bekanntem Schwierigkeitsgrad, und eine Maschine die relevanten Eigenschaften entlang der Route suchen lässt. Das können moderne Machine-Learning-Algorithmen ziemlich automatisch, der Algorithmus erkennt, welche Eigenschaften zu welcher Bewertung führen.

Es gilt, je mehr Daten umso genauer?

Richtig. Wenn ich zurückkomme auf die Berechnung des Lawinenrisikos durch Skitourenguru, stehen einer Unmenge an aufgenommenen GPS-Tracks, die als Nicht-Unfallorte ja auch Information tragen, mit circa 1000 Datensätzen eher wenige Lawinenunfälle gegenüber. Aus statistischer Sicht wäre es besser, mehr Lawinenunfälle zu haben.

Günter Schmudlach genießt die Aussicht beim Skitouren. Foto: Georg Aerni
Günter Schmudlach genießt die Aussicht beim Skitouren. Foto: Georg Aerni

Stichwort Sicherheit: Wie sehr kann ich mich auf Skitourenguru verlassen? Wie viel Eigenverantwortung bleibt?

Das 3×3 von Werner Munter gilt weiterhin. Skitourenguru ist in Phase 1, also der Planung, situiert. Es geht darum, eine passende Tour auszuwählen und zu planen. Wenn ich dann im Gelände bin, kann ich in Phase 2 und 3 (vor Ort und vor den Einzelhängen) neue Informationen gewinnen, etwa Wetterverlauf, Schneeverhältnisse oder Frequentierung. Diese Informationen muss ich in meine Risikobewertung mit einbeziehen, deshalb entsteht in Phase 2 und 3 eine Eigenverantwortung.

Also ist Skitourenguru doch nicht so geeignet für Einsteigerinnen?

Wenn eine Einsteigerin grüne Routen mit tiefen Schwierigkeitsgraden wählt und bei Aufstieg und Abfahrt auf der Route bleibt, ist das verbleibende Restrisiko kaum höher als bei der Anfahrt mit dem Auto. Die Route hat bereits einen ersten Test bestanden, was dazu führt, dass ich draußen im Gelände auch mal den einen oder anderen Fehler machen darf. Bei einer unsystematisch gewählten Tour muss ich hingegen genau wissen, wie ich einen Einzelhang bewerte. Allerdings zielt Skitourenguru nicht vorwiegend auf Einsteigerinnen. Die Webseite enthält sehr viele Informationen. Erst Fortgeschrittene, Skitourenleiterinnen, Bergführerinnen oder Lawinenexpertinnen können diese adäquat verarbeiten.

Könnte man das Konzept Skitourenguru auch auf den Sommer übertragen? Auf andere Bergsportarten?

Ich denke nicht. Mir sind neben Skitourenguru vier Bereiche im Bergsport bekannt, wo Algorithmen zum Einsatz kommen: die Modellierung der Schneedecke, automatisch zugewiesene Schwierigkeitsgrade, automatische Skitourenkarten wie sie Andi Eisenhut entwickelt hat und der Wetterbericht. Nun fällt auf, dass fast alle Beispiele in den Winter gehören. Der Sommer ist einfach zu komplex. Beim Klettern, Alpinbergsteigen oder Wandern ist das Gelände charakterisiert durch sehr lokale Details, etwa Bohrhaken oder das Vorhandensein eines Geländers. Diese Daten stehen schlicht nicht zur Verfügung.

„Was hingegen interessant werden könnte, ist die sogenannte Smart-Brille, die Augmented Reality bietet und Informationen in der Brille selbst einblendet.“

Wären Gletscherspalten auch noch zu klein?

Die modernen digitalen Höhenmodelle zeigen zwar Gletscherspalten, aber diese Daten sind nicht zeitnah, da die entsprechenden Vermessungen nur circa alle zehn Jahre durchgeführt werden. Daher sehe ich hier in den nächsten ein, zwei Dekaden keine Chance für einen Hochtourenguru. Und wie wäre es mit der Verknüpfung von Pulsuhr oder Trackingdaten mit einer Tourenplanungsapp? Ein paar Freaks, denen es wichtig ist, ihre Planung genau auf ihre persönliche Fitness abzustimmen, würden das sicher nutzen, aber es wäre wohl ein Nischensegment. Das ist übrigens sehr typisch für die Frage nach Innovation: Das Nützliche bleibt und viele Spielereien verschwinden wieder.

Siehst du denn irgendwo Potenzial für Digitalisierung?

Bisher hat sich vor allem in der Tourenplanung viel getan. Hier wäre noch eine Verzahnung mit dem öffentlichen Verkehr sinnvoll. Eine vollautomatisierte Tourenplanung, die alles ausspuckt, Öffis, letzte Meile mit dem Rad, Skitour. Aber auch das wäre ein Nischenprodukt und wird kaum das Verkehrsproblem in den Alpen lösen. Was hingegen interessant werden könnte, ist die sogenannte Smart-Brille, die Augmented Reality bietet und Informationen in der Brille selbst einblendet. Denkbar wäre, dass die Brille den geplanten Routenverlauf über dem Gelände anzeigt oder im Winter die Hänge je nach Lawinenrisiko einfärbt. Ob wir das dann wollen, ist eine ganz andere Frage.

Klingt utopisch. Würdest du dir eine solche Brille in den Bergen aufsetzen?

Jetzt sage ich natürlich ganz klar nein. Allerdings staune ich immer wieder, wie schnell sich gewisse Neuerungen etablieren. Es ist noch nicht sehr lange her, dass wir uns über die ersten Handynutzerinnen lustig gemacht haben. Heute rennen wir alle mit einem Smartphone rum und können es eigentlich gar nicht mehr wegdenken.

Smart-Brille als Gedankenspiel für die Zukunft
Noch Gedankenspiel, bald vielleicht nicht mehr wegzudenken? Eine Smart-Brille könnte den Routenverlauf und mögliche Gefahrenstellen einblenden.

Brauchen wir überhaupt noch mehr Digitalisierung? Oder eher weniger? Um die Berge als Rückzugsraum von all dem zu behalten?

Es gibt keine Instanz, die verhindern kann, dass eine bestimmte Innovation stattfindet. Angenommen die Alpenvereine verschließen sich dieser Entwicklung, dann wandert die Thematik zu privaten Anbietern. Damit stellt sich die Qualitätsfrage.

Reinhold Messner hat sinngemäß gesagt, dass die Verwendung von technischen Hilfsmitteln (GPS-Gerät, Handy etc.) dem Bergsteigen die Grundlage entziehe, weil man damit das Abenteuer zerstöre. Ist das so? Wie viel Hilfe ist erlaubt?

Wir haben hier eine schizophrene Haltung: Auf der einen Seite hat der Mensch Angst vor Veränderung, auf der anderen Seite ist er auch sehr opportunistisch. Wir benutzen Werkzeuge, die uns nützlich erscheinen. Niemand kann dieses Spannungsfeld zwischen Konservatismus und Neugierde einfach auflösen. Theoretisch können wir selber wählen, mit wie viel Technologie wir unterwegs sein wollen. Praktisch gibt es einen sozialen Druck, „Technologie“ zu nutzen. Wer hat ein Rad, mit dem wir die Entwicklung zurückdrehen können?

„Die modernen digitalen Höhenmodelle zeigen zwar Gletscherspalten, aber diese Daten sind nicht zeitnah … Daher sehe ich hier in den nächsten ein, zwei Dekaden keine Chance für einen Hochtourenguru.“

Beim Klettern gibt es ja eine Fraktion, die stark auf Tradition und den Begriff „fair means“ setzt, technische Hilfsmittel, wie Bohrhaken und Akkubohrmaschine sind verpönt. Am besten kein Strom in den Bergen. Soll es so etwas nicht auch beim Skitourengehen geben? Also zurück zu Karte und Kompass?

Der Kompass ist ein hochgradig technisiertes Präzisionsinstrument. Wie steht es um die Steigeisen? Die wurden zur Zeit der Erschließung der Alpen heiß diskutiert, ebenso die ersten LVS-Geräte. Und heute? Empfindet ein Digital-Native das Smartphone als innovativ? Was wird der Homo digitalensis in 100 Jahren zur Smart-Brille sagen? Wir beurteilen unsere Möglichkeiten immer aus unserer Zeitepoche heraus.

Wir könnten uns immerhin sagen, der Berg ist handyfreie Zone. Es ist nur für Notfälle dabei.

Wer bin ich, dass ich jemandem verbieten könnte, sein Handy in den Bergen zu nutzen? Selbst wenn das Handy im Rucksack bleibt, verändert es unser Erlebnis. Zum Beispiel weil wir wissen, dass es da ist und wir im Notfall vermutlich alarmieren können. Die Technik, die Werkzeuge sind da und wir können sie nicht wegdenken, auch wenn wir uns das wünschen.

Was waren bislang die größten digitalen Innovationen?

Digitalisierung heißt nicht in jedem Fall Innovation. Eine Papierkarte zu digitalisieren ist keine Innovation, nur das Medium hat sich verändert. Wenn mir aber ein Gerät über GPS in jedem Moment anzeigt, wo ich bin, ist das eine echte Innovation. Denn dann mache ich die Dinge anders als zuvor. Statt mit Kompass und Höhenmesser zu hantieren, werfe ich zur Orientierung einen Blick auf die digitale Karte.

Abgesehen vom GPS und den bereits erwähnten Algorithmen sehe ich gar nicht so viele echte Innovationen. Ob Social Media im Zusammenhang mit Bergsport eine Innovation ist, bezweifle ich. Tourenbeschreibungen statt in Büchern auf Webseiten nachzuschlagen, macht eigentlich auch kaum einen Unterschied. Allgemein sehe ich im Bergsport gar nicht so das gewaltige Digitalisierungspotenzial. Das ist vielleicht auch gut so.

skitourenguru.ch

Das Online-Tool Skitourenguru erstellt basierend auf der Quantitativen Reduktionsmethode eine Einschätzung des Lawinenrisikos für Skitouren. Unter Verwendung des aktuellen Lawinenlageberichts, digitaler Höhenmodelle und händisch digitalisierter Routen ermittelt ein Algorithmus das Risiko für jeden Punkt auf der jeweiligen Tour und berechnet daraus einen Gesamtwert für das Lawinenrisiko der Route (0–3).

In der Schweiz deckt Skitourenguru bereits 1700 Routen ab, in den Ostalpen 1500. Eine Ausweitung auf Frankreich und Italien ist in Arbeit. Im Winter 2020/2021 riefen die Nutzer*innen 2,6 Mio. Routen auf.

Auf einer Übersichtskarte zeigt Skitourenguru alle bewerteten Skitouren mit unterschiedlichen Symbolen in Ampelfarben. Filteroptionen grenzen die Tourenauswahl ein. Lässt man sich eine bestimmte Tour anzeigen, ist die Route auf der Karte abschnittsweise gemäß Risikowert grün, orange oder rot gefärbt, Schlüsselstellen sind zusätzlich mit grauen Kreisen markiert. Zu jeder Tour gibt es eine Zusammenfassung der wichtigsten Kennzahlen inklusive automatisch errechnetem Schwierigkeitsgrad, weiterführende Links, GPX-Track und den Lawinenlagebericht, wie er in die Bewertung eingeflossen ist.

Skitourenguru finanziert sich durch Sponsoren und Spenden und wird auch in Zukunft gratis und werbefrei sein. Zudem verzichtet die Plattform bewusst auf Logins, Tracker und Newsletters.

Die Lawinenrisikokarte zeigt das mit der QRM berechnete Risiko.
Die Lawinenrisikokarte zeigt das mit der QRM berechnete Risiko.
Die Routenansicht zeigt das Lawinenrisiko jedes Abschnitts sowie statische Schlüsselstellen.
Die Routenansicht zeigt das Lawinenrisiko jedes Abschnitts sowie statische Schlüsselstellen.
Detailierte Routenansicht mit markierten Schlüsselstellen.
Detailierte Routenansicht mit markierten Schlüsselstellen.

Siehst du auch Gefahren, die die Digitalisierung des Bergsports bringen könnte oder bereits bringt?

Es stellt sich eine Qualitätsfrage. Die Digitalisierung geht ja mit einer Demokratisierung einher. Während früher die Alpenvereine die Literatur erstellten, kann heute jeder auf einer Webseite Touren veröffentlichen. Im Internet gibt es zigtausende von Tracks, die können auf der Karte digitalisiert oder mit einem GPS im Feld aufgenommen worden sein und ich weiß nicht, welche Qualität sie haben. Bräuchte es eine Instanz, die das alles prüft? Wir wollen alle keine Internetzensur. Aber es braucht Garanten für Qualität, die Alpenvereine könnten diese Rolle übernehmen. Wenn sie eigene Portale in die Welt setzen, können sie dort für Qualitätsstandards sorgen. Es bleibt die Hoffnung, dass sich Qualität durchsetzt.

Das passiert bislang aber nicht wirklich, oder?

In den Ostalpen haben die Alpenvereine die Digitalisierung mit Alpenvereinaktiv früh begonnen. In der Schweiz gibt es erst seit zwei Jahren das digitale Tourenportal des SAC und seit vergangenem Dezember eine App. Der SAC ist spät eingestiegen, aber es ist sehr wichtig, dass er nun dabei ist, um eine qualitativ hochwertige Alternative zu anderen Tourenportalen zu bieten. Wobei ich damit nicht sagen will, dass andere Tourenportale per se schlechter sind. Die Spannbreite ist groß.

„Ich finde, die Alpenvereine müssten die Thematik dringend ‚an sich reißen’, um die Qualität zu sichern.”

Es wird oft kritisiert, Social Media verleite Menschen dazu, sich zu überschätzen. Aber gilt das nicht auch für Skitourenguru?

Ja, diese Gefahr besteht. Allerdings werden Lawinenunfälle primär von älteren, erfahrenen Männern verursacht und nicht unbedingt von Einsteigerinnen. Studien belegen das sehr deutlich. Es hängt vermutlich damit zusammen, dass wir zunehmende Fähigkeiten durch höhere Risiken „kompensieren“. Auch Bergführerinnen und Lawinenexpert*innen geraten immer wieder in Lawinen. Einsteigerinnen sind oft eher defensiv unterwegs. Außerdem sollten wir selbstkritisch sein. Welche Motivation steckt hinter dieser Sorge? Ich habe den leisen Verdacht, dass es uns auch darum geht, die Berge freizuhalten. Sind wir wirklich bereit die Berge mit Einsteigerinnen zu teilen?

Die vereinfachte Tourenplanung führt womöglich zu mehr spontanen Bergfahrten und verstärkt so den Bergsportboom noch mehr. Wie passt das mit ökologischer Verantwortung zusammen?

Berge bieten ein unglaubliches Potenzial, um Erfahrungen zu sammeln. Deshalb ist es nicht unbedingt schlecht, wenn der Bergsport demokratisiert, also leichter zugänglich wird. Im Grunde genommen arbeiten wir alle in diese Richtung: Alpenvereine, Autor*innen, Bergführer*innen, Webseiten-Betreiber. Natürlich ist der Boom im Zusammenhang mit der ökologischen Frage relevant. Wir haben hier allerdings einen blinden Fleck: unser Auto! Wenn es uns ernst ist, dann sperren wir die Zugangsstraßen, heben die Parkplätze auf und reisen mit dem Bike an. Wenn es uns aber in Wirklichkeit darum geht, dass wir die Berge für uns allein haben, dann sollten wir das auch ehrlich so benennen.

Und der Berg als Natur-, als Lebensraum für Tiere und Pflanzen?

Da gibt es ganz klar einen Interessenskonflikt, den man allerdings durch das Schaffen von Wildtierschutzgebieten lösen kann. Da hat sich sehr viel getan. Die Wildtierschutzgebiete werden in der Schweiz von Gemeinden und Kantonen ausgeschieden, zentral gesammelt, digital aufbereitet und dem Publikum in einem homogenisierten Format zur Verfügung gestellt. Dadurch können sie wiederum in die Webseiten einfließen. Skitourenguru macht in der Schweiz bereits eine automatische Kollisionsanalyse mit den verfügbaren Wildtierschutzgebieten. In den Ostalpen ist da noch viel Aufbauarbeit zu leisten.

Werden die Alpenvereine ihrer Rolle beim Thema Digitalisierung gerecht?

Ich finde, die Alpenvereine müssten die Thematik dringend „an sich reißen“, um die Qualität zu sichern. Das ist natürlich eine Wahnsinnsherausforderung, weil es sehr teuer ist und die Alpenvereine sich dazu eigentlich in Digitalkonzerne verwandeln müssten – nicht einfach für diese eher behäbigen Organisationen.

Was genau sollten sie machen?

Ich sehe die Innovationsmöglichkeiten für den Moment vorwiegend im Winter, allen voran die Lawinenrisikobewertung – und vielleicht die automatischen Skitourenkarten. Im Moment überlassen die Alpenvereine das noch privaten Trägern. Aber wenn sie versuchen würden, diese Technologien an sich zu binden, könnten sie sie auch mitgestalten. Ob die Alpenvereine deshalb gleich eine Smart-Brille in die Welt setzen sollten und können, bezweifle ich. Das würde sie vielleicht überfordern. Bei diesem Gedanken müssen wir ja gleich schmunzeln.

Kann die Digitalisierung den Alpenvereinen helfen, das Paradoxon „Berge erschließen und zugleich verschließen“ aufzulösen?

Die Berge zerstören wir durch unseren ökologischen Footprint (Mobilität, Wohnen, Konsum) und nicht durch die Digitalisierung. Es gäbe durchaus Wege für eine smarte Digitalisierung, die unseren Footprint senkt.

„Das Problem ist nicht die Digitalisierung, das Problem ist der Mensch.“

Erschienen in der
Ausgabe #119 (Sommer 22)

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