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Rettungsaktion an der Annapurna I. Foto: Adam Bielecki
11. Mai 2023 - 6 min Lesezeit

Drei Tage in Gletscherspalte: Rettungsaktion im Himalaya

Drama an der Annapurna I (8.091 m): Der indische Bergsteiger Anurag Maloo überlebt drei Tage in einer Gletscherspalte – die Rettung grenzt an ein Wunder.

Schmal ist die Spalte, ihre Tiefe lässt sich kaum erahnen. Blickt man von oben auf die Spalte, ist sie so schmal, dass kaum ein Mensch hineinpasst. Der verunglückte indische Bergsteiger hängt bewusstlos in seinem Gurt, in seinem blau-gelben Daunenanzug wirkt er wie eine leblose Puppe, sein Kopf hängt zur Seite, seine Arme baumeln leblos neben ihm, sein Gesicht verbirgt sich hinter einer großen Gletscherbrille. 

Der polnische Extrembergsteiger Adam Bielecki während der Rettungsaktion. Foto: Adam Bielecki
Der polnische Extrembergsteiger Adam Bielecki während der Rettungsaktion. Foto: Adam Bielecki

Unter ihm hängt der polnische Extrembergsteiger Adaettm Bielecki, er nimmt die Rettung mit seiner Kamera auf. Sein Kletterpartner Mariusz Hatala arbeitet sich über ihnen mit einem Jumar Richtung Oberfläche, ein Team aus insgesamt fünf nepalesischen Guides rund um Tashi Sherpa steht am Rand der Spalte, einer gibt Kommandos, mit vereinten Kräften ziehen sie den Verletzten aus der Spalte. 

Diese Szene spielte sich am 20. April ab, drei Tage nachdem Anurag Maloo an der Annapurna I verunglückt war, zu einem Zeitpunkt, an dem schon alle Hoffnung verloren war. Das Rettungsteam konnte den indischen Bergsteiger unterhalb von Lager drei in einer Höhe von 5800 Metern bergen, leidlich atmend und bewusstlos, aber er lebte. Seine Augen sollen auf Licht reagiert, sein Körper leicht gezittert haben, so beschreibt es Adam Bielecki in einem Interview mit explorersweb. Der 34-jährige Inder hatte versucht, den mit 8091 Meter zehnthöchsten Berg der Welt ohne zusätzlichen Flaschensauerstoff zu erklimmen. 

Auf einer Höhe von 7100 Metern in Lager vier hatte er den Besteigungsversuch abgebrochen. Der Brasilianer Moeses Fiamoncini, Augenzeuge des Unfalls, berichtete in einem Interview mit explorersweb, dass Maloo, begleitet von einem nepalesischen Guide, sehr schwach gewesen sei. Gemeinsam erreichten sie auf etwa 6000 Metern Höhe eine steile, acht Meter tiefe Abseilstelle.

Maloo wählte ein altes Seil, das zum Abseilen zu kurz war. Am Ende des Seils rutschte er durch und glitt das Couloir hinab in die Gletscherspalte.

Moses Fiamoncini, explorsersweb.com
Der indische Bergsteiger Anurag Maloo möchte alle 14 Achttausender und die Seven Summits besteigen. Foto: Archiv Anurag Maloo
Der indische Bergsteiger Anurag Maloo möchte alle 14 Achttausender und die Seven Summits besteigen. Foto: Archiv Anurag Maloo

Der Unfall hatte sich an einer der gefährlichsten Stellen am Berg ereignet, einer Serac-Zone, die ständig von Lawinen betroffen war. „Als Kletterer bin ich sehr darauf bedacht, objektive Risiken zu vermeiden. Es macht mir nichts aus, schwere, technische Routen zu klettern, solange ich das Risiko kontrollieren kann. Und das konnten wir hier definitiv nicht: Am Couloir gab es zwei Seracs, die jeden Moment hätten einstürzen können“, beschreibt Bielecki das Risiko, dem sich die sieben Retter ausgesetzt hatten.

Kampf um eine vermeintliche aussichtslose Rettung

Dass die Rettung des Inders überhaupt stattfand, verdankt Anurag Maloo dem unermüdlichen Einsatz seiner Familie, die trotz der objektiv aussichtslosen Lage die Rettung vorantrieb. Sie initiierten eine Petition, die in kurzer Zeit mehr als 30.000 Unterschriften erhielt, appellierten sowohl an die indische als auch die nepalesische Regierung und sammelten Spenden. So viel Zuversicht die Familie auch hatte, die Hoffnung, ihren Sohn und Bruder noch lebend zu bergen, schwand mit jeder Stunde.

„Das war eine einmalige Rettungsaktion“, schreibt Minga Sherpa von Seven Summit Treks später auf seinem Instagram-Account, wo er ein Video der Rettung veröffentlichte. Er dankt allen involvierten für die mutige und selbstlose Rettungsaktion. Gemeinsam mit Chhang Dawa Sherpa koordinierte er die Rettung vom Basislager der Annapurna. Chhang Dawa war es auch, der die beiden polnischen Extrembergsteiger Adam Bielecki und Mariusz Hatala zur Rettungsaktion dazu rief. 

Die polnischen Extrembergsteiger Adam Bielecki und Mariusz Hatala seien die einzigen gewesen, die eine solche Spaltenbergung technisch beherrschten.

Sie seien zu dem Zeitpunkt die einzigen gewesen, die eine solche Spaltenbergung technisch umsetzen konnten. Die beiden befanden sie ebenfalls am Berg, weil sie in diesem Frühjahr versuchen wollten, gemeinsam mit dem Deutschen Felix Berg eine neue Route im Alpinstil durch die Nordwestwand der Annapurna I zu eröffnen. Mittlerweile sagten sie ihren Versuch ab, die Wetterbedingungen seien einfach zu schlecht. 

Die zwei Polen glaubten noch, als sie der Rettungsaktion zugestimmt hatten, mit dem Heli zu einer Leiche geflogen zu werden, doch „nun haben wir vielleicht einen Mann gerettet“, sagte Adam Bielecki nach der geglückten Rettung. Sie seien nach der Aktion in Tränen ausgebrochen. Für sie sei „es eine Lektion, dass man niemals aufgeben darf und immer zur Rettung schreiten muss“, so Bielecki weiter. Bereits im Januar 2018 war der Pole in eine Rettungsaktion am Nanga Parbat involviert, in der er gemeinsam mit Denis Urubko die Französin Élisabeth Revol retten konnten.

Neben den beiden Polen und Tashi Sherpa, die gemeinsam in die Spalte vorgedrungen waren, halfen zudem die Nepalesen Chhepal Sherpa, Lakpa Sherpa, Dawa Nurbu Sherpa und Lakpa Nuru Sherpa bei der Rettung. Nach der Bergung flog der Hubschrauber-Pilot Sobit Gauchan den bewusstlosen Maloo wegen des schlechten Flugwetters zunächst in das Krankenhaus in Pokhara, wo das Ärzteteam stundenlang versuchte, Maloo durch Herz-Lungen-Massage am Leben zu halten. Am Abend wurde Maloo in ein größeres und modernes Krankenhaus in Kathmandu gebracht. Zu diesem Zeitpunkt versuchte er gelegentlich zu atmen, sein Herz schlug eigenständig, aber sein Gehirn reagierte nicht.

Das Rettungsteam im Annapurna Base Camp. Foto: Courtesy of Chhepal Sherpa/Sobit Gauchan
Das Rettungsteam im Annapurna Base Camp. Foto: Courtesy of Chhepal Sherpa/Sobit Gauchan

Die Saison an der Annapurna I, einer der tödlichsten Berge weltweit, war insgesamt sehr unübersichtlich. 40 Bergsteiger:innen gelang im April ein Gipfelerfolg, einigen davon ohne Flaschensauerstoff. Beim Abstieg am 17. April galt neben Anurag Maloo auch die 27-jährige, indische Bergsteigerin Baljeet Kaur als vermisst, die aber einen Tag später in einer Höhe von 7300 Metern lokalisiert und mit einem Heli ausgeflogen werden konnte. Ebenso am 17. April verstarb der nordirische Bergsteiger Noel Hanna, 56, nach seinem Gipfelerfolg an der Annapurna I in seinem Zelt in Lager vier in rund 7100 Metern Höhe. Zudem wurden mindestens vier weitere Bergsteiger aus Nepal, Indien und Pakistan, die noch am Montag den Gipfel erreicht hatten, evakuiert.

Anurag Maloo wieder bei Bewusstsein

Wie durch ein Wunder ist Anurag Maloos inzwischen wieder bei vollem Bewusstsein, die Beatmungsgeräte seien abgeschaltet worden, wie ein Vertreter seiner Versicherung in einem Statement berichtete. Anurag Maloos Zustand war über zwei Wochen nach seinem Unfall sehr kritisch gewesen. In einem Beitrag der Nachrichtenseite Himalayan Times hieß es, er sei lange an ein Beatmungsgerät angeschlossen gewesen und seine Nieren haben Dialyse benötigt. Seine Eltern seien in der Zwischenzeit nach Nepal gereist, um bei ihrem Sohn zu sein. 

Anurag Maloo hatte sich zum Ziel gesetzt, alle 14 Achttausender und die Seven Summits zu erreichen. Er bezeichnet sich auf seinem Instagram-Account als „Climate Athlete“, der sich für die Ziele der UN im Kampf für eine nachhaltige Entwicklung einsetzt. Auf seiner Website schreibt er, dass er „die Herausforderungen des Bergsteigens als kraftvolle Metapher für die Kämpfe der Menschen“ für mehr Nachhaltigkeit sieht. Bevor er sich wieder für höhere Ziele einsetzen kann, muss er nun seinen ganz eigenen Kampf gewinnen.