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kalt, kaelter, tot
16. Feb 2022 - 17 min Lesezeit

Kalt, kälter, tot: Was passiert beim Kältetod?

Die Zahl der Kältetoten in den Alpen ist vergleichsweise klein, dennoch gibt es immer wieder tragische Unfälle mit Toten. Was passiert dabei im Körper? Eine medizinische Betrachtung einiger Fälle von Hypothermie (Unterkühlung) am Berg mit bergsteigerischem Fazit.

Trotz stetig verbesserter Ausrüstung sterben auch in den Alpen immer noch jedes Jahr Menschen an oder mit Unterkühlung. Im Sommer 2021 erst zwei Italienerinnen an der Vincent-Pyramide, die in einen Schneesturm gekommen waren. Konkrete Zahlen für Unterkühlung und Kältetod am Berg zu nennen, ist allerdings schwierig. „Hypothermie tritt oft sekundär auf, etwa nach Unfällen als Folge oder in Kombination von Verletzung oder Krankheit, taucht in den Unfallberichten aber nicht gesondert erwähnt auf. Häufig fehlt auch die Möglichkeit außerhalb des Krankenhauses die Körpertemperatur zu messen. Die Dunkelziffer ist daher wahrscheinlich hoch“, schätzt Giacomo Strapazzon, Vizeleiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin in Bozen. Die Schweizer Bergrettungsorganisationen beispielsweise nennen Hypothermie in ihrer Statistik nicht. Aus den ausformulierten Kurzberichten geht allerdings hervor, dass es in den Jahren 2001–2020 insgesamt 38 Bergtote durch „Erfrieren“ gab. In der Datenbank des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit sind 49 Fälle von Unterkühlung für die letzten zehn Jahre gelistet, darunter acht Tote und 26 Verletzte.

Unterkühlung ist nicht gleich Unterkühlung

Obwohl das Prinzip bei einer Unterkühlung immer gleich ist – der Wärmeverlust ist größer als die Wärmeproduktion, was zur Verminderung der drei Lebensfunktionen Bewusstsein Atmung und Kreislauf bis hin zum Tod führen kann – ist Unterkühlung nicht gleich Unterkühlung. Neben den fünf Stadien einer Hypothermie gibt es drei verschiedene Arten von Unterkühlung, die sich anhand der Geschwindigkeit, mit der der Körper auskühlt, unterscheiden lassen:

  1. Subakute Hypothermie
  2. Akute Hypothermie
  3. Chronische Hypothermie

Während chronische Hypothermie bei Menschen auftritt, die dauerhaft Kälte ausgesetzt sind und sich im Rahmen ihrer genetischen Möglichkeiten adaptiert haben, also beispielsweise bei Obdachlosen, kommen subakute und akute Hypothermie auch bei Bergsportler*innen vor. Diesen beiden Arten können (vereinfacht) verschiedene Unfallmuster zugeordnet werden.

Stadien der Hypothermie
Die fünf Stadien der Hypothermie.

Akute akzidentelle Hypothermie

Akute akzidentelle (ungewollte) Hypothermie entsteht, wenn der Körper sehr schnell abkühlt, etwa bei einem Sturz in kaltes Wasser, eine Gletscherspalte oder bei einer Lawinenverschüttung. Im Schnee kühlen Menschen ein bis neun °C pro Stunde ab (die Abkühlungsrate hängt stark vom Individuum, von Körperbau und Bekleidung ab), im kalten Wasser bis zu fünfmal schneller als im Schnee, nämlich fünf bis zehn °C alle zehn Minuten. Das Risiko eines Herz-Kreislauf-Stillstandes besteht bei jungen Gesunden bei einer Körpertemperatur unter 30 °C, bei Älteren mit Vorerkrankungen bereits bei unter 32 °C.

Wenn zu leicht bekleidete Menschen einen Wettersturz geraten, kann es ebenfalls zu einer akuten Hypothermie kommen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Zugspitzlauf 2008, bei dem nach einem Wetterumschwung zwei Athleten kurz vor dem Ziel an Unterkühlung starben und viele weitere Läufer*innen ins Krankenhaus kamen, sechs davon mit Hypothermie zweiten Grades auf die Intensivstation. „Die fatale Kombination von Regen, Schnee und Wind hat die Läufer überwältigt. Obwohl diese Menschen extrem fit waren und sicher hochgerechnet durch das Rennen einen Grundumsatz um die 4000 Kilokalorien pro Tag hatten (mehr als das Doppelte eines Menschen in Ruhe), konnten sie den massiven Energieverlust durch Regen gefolgt von Schnee sowie Wind und Kälte nicht kompensieren“, sagt Dr. Peter Paal, Facharzt für Intensivmedizin und Anästhesie, Bergrettungsarzt und Präsident des Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit.

Die fatale Kombination von Regen, Schnee und Wind hat die Läufer überwältigt.

Dr. Peter Paal zum Zugspitzlauf 2008

Ist der Körper erschöpft und sind die Blutzucker-Energiereserven aufgebraucht, begünstigt das die Auskühlung zusätzlich, schließlich benötigt der Körper Energie, um zu zittern. Je weniger Energie er zur Wärmeproduktion durch Zittern oder Bewegung aufwenden kann, umso schneller die Unterkühlung. Deshalb komme es auch immer wieder zu Unterkühlung bei Ultraläufern, sagt Giacomo Strapazzon. Denn diese gingen an ihre Grenzen und hätten in der Regel nur wenig zusätzliche Kleidung dabei. Ohne Zwiebellook mit einer winddichten äußeren Schicht müht sich der Körper vergeblich ab, sich warm zu halten. Es gibt keine Isolation und die produzierte Wärme wird sofort weggeblasen. Der sogenannte Windchill führt dazu, dass beispielsweise 0 °C bei einer Windstärke von 30 km/h wirken wie -6,5 °C.

Ein weiterer dramatischer Bergunfall, bei dem die Kombination von Erschöpfung und Wettersturz zu schneller Auskühlung geführt haben dürfte, ereignete sich 2012 am Hochkönig. Eine Frau starb wenig unterhalb des Matrashauses, nachdem sie und ihr Begleiter auf dem letzten Steilstück des Königsjodler-Klettersteigs gegen 18 Uhr in einen Wettersturz geraten waren. Die Bergsteigerin absolvierte zum ersten Mal einen Klettersteig dieser Schwierigkeit, dazu kam die Länge der Tour. Möglicherweise war sie bereits erschöpft, als das Unwetter begann. Mit Softshell- und Windjacke unzureichend gekleidet und ohne Biwaksack und Handschuhe waren die beiden schnell von Regen und Schnee völlig durchnässt und dem 50 bis 60 km/h starken Wind schutzlos ausgesetzt. Zunehmend erschöpft und unterkühlt kamen sie immer langsamer voran, erst nach Stunden gelang es, einen Hilfeanruf an die Hütte abzusetzen. Als der Hüttenwirt und ein weiterer Helfer gegen 22:30 Uhr bei den beiden ankamen, ging es der Frau bereits sehr schlecht, sie verstarb noch während des Abtransports. Auf die Hilfeversuche hatte die Frau zunächst aggressiv reagiert, wahrscheinlich litt sie aufgrund von Unterzucker und Unterkühlung bereits an einer Bewusstseinsstörung, wie sie bei einer Hypothermie zweiten Grades auftreten kann.

Dr. Peter Paal Portrait
Dr. Peter Paal ist Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin, Bergrettungsarzt und Autor verschiedener Publikationen zum Thema Hypothermie.

„So wie die Gliedmaßen bei Kältestarre nicht mehr richtig funktionieren, kann es auch eine Fehlfunktion des Nervensystems geben. Eine Kälte-bedingte Hirndysfunktion ist ein Zwischenstadium zwischen normalem Funktionieren und Bewusstlosigkeit“, erklärt Peter Paal. „Alle Körperfunktionen können nur gut funktionieren, wenn der Grundbetrieb gewährleistet ist, dazu braucht es Sauerstoff und Zucker als Treibstoffe für das Gehirn, genug Flüssigkeit und Elektrolyte (Blutsalze) für die Funktion der Nervenzellen. Und eine normale ‚Betriebs‘-Körpertemperatur.“ Je nachdem wie viele der Faktoren wie stark gestört sind, kommt es zur Beeinträchtigung: zu paradoxem Verhalten. Von der sogenannten Kälteidiotie Betroffene spüren statt Kälte ein Hitzegefühl, manche sind aggressiv oder verwirrt. Hier kann zureden helfen, am besten durch bekannte Personen, Freund*innen oder Seilpartner*innen. Aber auch wer kein paradoxes Verhalten zeigt, spürt die Kälte irgendwann nicht mehr, da die Kälterezeptoren mit der zunehmenden Abkühlung nicht mehr funktionieren.

Subakute akzidentelle Hypothermie

Wenn Menschen über viele Stunden oder gar Tage immer weiter auskühlen, spricht man von subakuter akzidenteller Hypothermie. Zwei solche Fälle, die Aufsehen erregten, weil sie vergleichsweise glimpflich ausgingen, ereigneten sich in Gletscherspalten. Im August 2020 stürzte eine Frau Anfang 30, während sie allein über den Grenzgletscher im Monte-Rosa-Gebiet wanderte, 10 bis 15 Meter tief in eine Gletscherspalte. Sie landete auf einer Eisbrücke. Erst etwa 48 Stunden später hörte eine Gruppe Bergsteiger*innen ihre Hilfe-Rufe und alarmierte die Rettung. Obwohl die Frau nur kurze Hosen trug und barfuß war – ihre Turnschuhe hatte sie wohl beim Versuch, ihre Füße zu wärmen, verloren – hatte sie immer noch eine Körpertemperatur von 34 °C. Sie hatte zwar keinen Biwaksack dabei, sich laut Medienberichten aber in einen nassen Schlafsack und eine Decke gewickelt.

Windchill-Faktor

Ganze sechs Tage harte ein 70-jähriger 2012 in einer Spalte in zehn Meter Tiefe im Längentalferner im Stubai aus. Wie in bergundsteigen 2/13 bereits ausführlich beschrieben wusste er sich gut zu helfen: Er setzte sich auf seinen Rucksack, wickelte sich in eine Rettungsdecke und atmete unter seiner Jacke aus, um möglichst wenig Wärme zu verlieren. Außerdem rationierte er seinen Proviant. „In einer Gletscherspalte herrscht ein Mikroklima wie in einem Iglu, es hat konstant circa 0 °C, auch wenn es draußen deutlich kühler ist, außerdem ist die Luftfeuchtigkeit hoch“, sagt Peter Paal.

Wenn Wasser in einer Spalte steht, und man dorthinein stürzt und vielleicht auch noch eine Menge Schnee von oben auf einen fällt, ist die Abkühlung mit mehreren °C pro Stunde ausgeprägt.

Peter Paal

„Wenn Wasser in einer Spalte steht, und man dorthinein stürzt und vielleicht auch noch eine Menge Schnee von oben auf einen fällt, ist die Abkühlung mit mehreren °C pro Stunde ausgeprägt. Der Mann hatte allerdings das Glück, dass er auf einem trockenen Absatz landete und die Spalte recht breit war, sodass er etwas umhergehen konnte und keinen konstanten Kontakt zur Eiswand hatte.“ Außerdem befand er sich in einer windstillen Querspalte.

Kaum Sicht und starker Wind.
Kaum Sicht und starker Wind: auf manchen Touren nur ungemütlich, auf anderen schnell gefährlich.
Foto: Franziska Haack

Nach seiner Rettung wurde im Krankenhaus eine Körperkerntemperatur von 33,5 °C gemessen, was einer milden Unterkühlung entspricht. Seinem Körper war es anscheinend durch Zittern und die Wärmeproduktion des Braunen Fettgewebes in Kombination mit mehrlagiger Kleidung inklusive Kopfbedeckung, Rettungsdecke und etwas Bewegung gelungen, den Wärmeverlust recht gering zu halten. Allerdings erlitt er Nicht-Erfrierungskälteschäden (Non Freezing Cold Injuries), eine lokale Kälteschädigung von Fußnerven, welche auch noch ein halbes Jahr später zu einem unsicheren Gang führten.

Lokale Kälteschädigungen ohne Erfrierung können entstehen bei langer Exposition in nasskalter Umgebung (wie in einer Gletscherspalte) und langsamem Auskühlen des Gewebes (unter 15 °C). Langanhaltende Gefäßverengungen und Mangeldurchblutung können zu bleibenden Nerven- und Gewebeschäden führen. Mögliche Folgen sind chronische Schmerzen und Missempfindungen.

Auch im Zusammenhang mit Blockierungen kann es zu subakuter Hypothermie kommen. Hier seien exemplarisch drei dramatische Unfälle genannt, zwei Anfang des Jahrtausends im Ortlergebiet, einer an der Punta San Matteo und der andere an der Suldenspitze, sowie der Unfall an der Pigne d’Arolla im April 2018. Bei allen dreien waren Gruppen auf Skitour gezwungen eine Nacht im Freien zu verbringen, weil sie auf Grund von schlechtem Wetter an einer schwierigen Stelle nicht den richtigen Weg fanden. An der Punta San Matteo half Bruno Hasler, SAC-Ausbildungsleiter und Bergführer, bei der Rettung. Zuvor war er der Gruppe am Gipfel begegnet. „Sie sind in unserer Spur raufgekommen, aber erst eine Zeit nach uns abgefahren, anscheinend haben sie dann den Durchschlupf nicht gefunden. Als sie nicht in der Hütte ankamen, machten wir uns Sorgen, konnten aber wegen des starken Windes nicht losziehen. Wir nahmen an, dass sie sich sicher im Schnee eingraben würden.“ Allerdings war es an dem Punkt, wo die Gruppe sich niederließ – wie beim Unfall an der Pigne d’Arolla – nicht möglich, ein ordentliches Biwak zu graben. Die Skitourengeher*innen errichteten mit dem wenigen Schnee dürftige Mauern und versuchten, sich mit Rettungsdecken zu schützen, die aber vom starken Wind weggerissen wurden. Nach einer bitterkalten, stürmischen Nacht – an der Hütte wurden -20 °C gemessen – konnte die Gruppe nach Bergung in tiefere Lagen mit Helikoptern gerettet werden. Eine Person starb. 

Das Problem war hier der tröpfchenweise Informationsfluss

Olaf Reinstadler, Leiter der Bergrettung Sulden

Beim Vorfall an der Suldenspitze stieg eine 17-köpfige Gruppe über den Suldenferner Richtung Suldenspitze auf, am Janninger Joch gerieten sie in schlechtes Wetter und verloren die Orientierung. Jeweils zu zweit verbrachten sie die Nacht in Schneehöhlen (ohne Biwaksäcke), die sie über den Hang verteilt gegraben hatten. Der Tourenleiter, der die ganze Nacht zwischen den verschiedenen Löchern umhergegangen war, um nach den Teilnehmer*innen zu sehen und sie wach zu halten, war am Ende so erschöpft und ausgekühlt, dass er noch in der Nacht starb. Am nächsten Morgen wollte eine Person die Bergrettung kontaktieren, wusste allerdings die Nummer nicht, weshalb sie beim Skiverleih in Sulden anriefen, dessen Nummer auf ihrem Leihski stand. Im Skiverleih alarmierte man die Einsatzkräfte. „Das Problem war hier der tröpfchenweise Informationsfluss“, sagt Olaf Reinstadler, Leiter der Bergrettung Sulden. Da keine Telefonverbindung zur Gruppe bestand und diese ihren Standort falsch angegeben hatte, verzögerte sich die Rettung. Außerdem wussten die Bergretter nicht, wie groß die Gruppe war und dass es bereits einen Toten gab. Sie rückten nur zu viert aus und mussten nachalarmieren, wodurch die Rettung weiter verzögert wurde. Zwei stark unterkühlte Frauen und ein unterkühlter Mann wurden huckepack von den Bergrettern per Ski nach unten transportiert, die anderen von den übrigen Rettungskräften nach unten geführt.

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Immer wieder muss die Air Zermatt zu Spaltenbergungen ausrücken. Im Sommer 2020 überlebte eine nur mit Shorts bekleidete Frau zwei Tage in einer Spalte im Wallis und konnte noch rechtzeitig geborgen werden.
Foto: Air Zermatt / Menno Boermans

„Zu versuchen wachzubleiben, ist prinzipiell eine gute Idee, weil dann die Wärmeproduktion größer bleibt“, sagt Peter Paal. In diesem Fall setzte sich der Leiter allerdings konstant dem Wind und der Kälte aus und verbrauchte damit die wertvollen letzten Ressourcen. Wenn Absteigen nicht möglich ist, sollte man sich einen möglichst geschützten Ort suchen, sich möglichst auf eine isolierende Unterlage setzen, und sofern noch vorhanden, Essen und Trinken zu sich nehmen, um den Körper mit den nötigen Nährstoffen zu versorgen. Auch wer als Ersthelfer zu Personen mit subakuter Unterkühlung milden Grades kommt, sollte überlegen, was er oder sie an Kleidung, Riegeln, Tee etc. teilen kann, so der Mediziner. Bei fortgeschrittener Hypothermie sei hingegen mit süßem Tee nichts mehr zu machen, da Kältezittern nicht mehr möglich ist und nicht ausreicht, um den Körper wiederzuerwärmen.

Zu versuchen wachzubleiben, ist prinzipiell eine gute Idee, weil dann die Wärmeproduktion größer bleibt

Peter Paal

Grade der Unterkühlung

Doch wie erkennt man, um welchen Grad der Unterkühlung es sich handelt? Im Gelände ist es auch für Rettungskräfte schwierig, die Körperkerntemperatur zu messen, je nach Methode versagen die Geräte bei zu großer Kälte, die Patient*innen müssten entkleidet werden etc. Daher galt Kältezittern lange als guter Indikator zur Unterscheidung der ersten beiden Stadien der Hypothermie: Das Zittern hört in der Regel ab einer Körperkerntemperatur von unter 32 °C, also der Schwelle zu Stufe II auf. Allerdings kann dies von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein. Außerdem ist das Zittern bei sehr schnellem Abkühlen auch in Stufe I mitunter unterdrückt.

Generell gilt: Je kälter eine Person ist, umso getrübter ist ihr Bewusstsein, sofern keine Drogen, Krankheiten oder Verletzungen im Spiel sind.

Peter Paal

Peter Paal und andere Wissenschaftler*innen haben daher die Schweizer Klassifizierung der Stadien der Hypothermie überarbeitet. In der neuen Version dienen Bewusstseinszustand und Vitalzeichen als Gradmesser. Ist die Person beispielsweise schon nicht mehr ganz klar bei Bewusstsein, reagiert aber noch auf Ansprache, entspricht das einer Hypothermie zweiten Grades (siehe rechter Teil der Tabelle: Stadien der Hypothermie). „Generell gilt: Je kälter eine Person ist, umso getrübter ist ihr Bewusstsein, sofern keine Drogen, Krankheiten oder Verletzungen im Spiel sind“, erklärt Peter Paal. Je schläfriger ein*e Patient*in umso größer das Risiko für einen kältebedingten Herzstillstand. In solchen Fällen muss die Bergung möglichst bewegungsarm in horizontaler Lage erfolgen.

Die Windeltechnik mit Rettungsdecke

Abb. 1: Bei der „Windeltechnik“ wird die Rettungsdecke am Rücken, auf der untersten Kleidungsschicht, z.B. unter einer Jacke durchgezogen. Anschließend wird die Folie auseinandergefaltet. Dabei wird der untere Teil der Rettungsdecke zwischen den Beinen ähnlich einer Windel durchgezogen und am Bauch bzw. am Hosenbund fixiert (Abb. 2). Der obere Teil wird wie ein Kopftuch über den Kopf gezogen und fixiert. Es ist empfehlenswert, noch eine weitere Rettungsdecke auf der untersten Bekleidungsschicht über den Brustkorb zu legen. Der große Vorteil der „Windeltechnik“ ist die erhaltene Bewegungsfähigkeit und der Schutz der Folie vor Beschädigung durch Wind oder spitze Gegenstände. Beim Unfall an der Pigne d’Arolla berichtete ein Überlebender, dass die Rettungsdecken nutzlos waren, weil sie ohne Windeltechnik im Starkwind weggefegt wurden. Ursprünglich kommt die Technik aus dem Militär und wurde von der Bergrettung Tirol fürs Bergsteigen adaptiert. Die bergundsteigen-Redaktion hat die Windeltechnik auf Expedition in einem geplanten Wandbiwak getestet und sie funktioniert tatsächlich gut.

Allerdings: Bei stark unterkühlten Personen sind die Vitalfunktionen auf ein Minimum heruntergefahren, um jeweils sechs Prozent pro Grad Abweichung von der Normaltemperatur. Das bedeutet einerseits, dass es schwieriger ist, Lebenszeichen zu erkennen. Eine Person atmet möglicherweise nur noch drei, vier Mal pro Minute, darum sollte man immer für die Dauer von einer Minute die Vitalzeichen prüfen (als Laie konzentriert man sich dabei auf die Atmung). Andererseits liegt im Runterfahren des Körpers eine Chance, denn er braucht viel weniger Sauerstoff.

Bei einer Körperkerntemperatur von 18 °C verkraftet das Gehirn einen Herzstillstand zehnmal so lange, also bis zu einer Stunde anstatt von fünf Minuten bei Normaltemperatur von 37 °C. Am besten stehen die Chancen bei einem sogenannten gesichteten Herzkreislaufstillstand. „Wird dann sofort mit Herz-Lungen-Wiederbelebung (kardiopulmonale Reanimation) begonnen, kann der Patient ohne Nervenschäden überleben, auch nach stundenlanger Herz-Lungen-Wiederbelebung“, sagt Peter Paal. Zum Abbrechen der Reanimation (und zum Erklären des Todes) bedarf es eines Arztes oder einer Ärztin.

Fazit

Was können wir nun aus bergsteigerischer Sicht aus den geschilderten Unfällen lernen? Es ist zwar eine Binsenweisheit: Aber, dass Rettungsdecke und mindestens ein Biwaksack pro zwei Personen in jeden Hochtourenrucksack gehören, kann nicht oft genug mantraartig betont werden. In den angesprochenen Fällen von Blockierung führte jeweils eine Verkettung von Problemen oder Fehlern letztlich zum Tod von Personen. „Im Nachhinein aus Unfällen zu lernen ist schwierig, wenn man nicht dabei war und nicht alle Details und die einzelnen Glieder der Fehlerkette kennt“, sagt Walter Würtl, Bergführer, Sachverständiger und langjähriger bergundsteigen – Redakteur. Es gebe aber zumindest einige markante Eckpunkte, an und zu denen wir uns selbst und die von uns Auszubildenden – auch wenn es für viele bergundsteigen – Leser*innen banal und selbstverständlich wirkt – immer und immer wieder hinterfragen sollten.

1. Orientierung

Habe ich ein Backup zu meinem Handy oder GPS-System?

2. Sich nicht auf das Ziel fixieren

Wenn ich beizeiten erkenne, dass mein Plan nicht aufgehen könnte, sollte ich mir Alternativen überlegen. Nicht immer ist es (problemlos) möglich unterwegs abzubrechen und umzudrehen. So wie am Königsjodler. „Da gab es nur noch die Flucht nach vorne. Und nur noch eine Möglichkeit zu haben, ist immer schlecht“, so Walter Würtl.

3. Rechtzeitiges Alarmieren

Frühzeitig sich einzugestehen, dass ich Hilfe brauche, erfordert viel Mut (Stichwort: Dunkelheit und weitere Wetterverschlechterung).

4. Biwak-Knowhow

„Wenn es mir gelingt, einen guten Biwakplatz zu schaffen, wird eine Nacht am Berg zwar ungemütlich und kalt, aber nicht lebensbedrohlich“, sagt Walter Würtl. „Anders als oft empfohlen, ist das Eingraben in eine Wechte oder einen Windkolk keine gute Idee, beziehungsweise nur bei Windstille. Denn durch den turbulenten Wind im Lee der markanten Geländeformen kühlt man beim Graben schneller aus, außerdem herrscht Erstickungsgefahr, wenn der Wind den Eingang bzw. die Biwakhöhle nach und nach wieder zuweht. Besser ist ein Panzerknacker-Iglu, bei dem man einen Schneehaufen über seinen Rucksäcken errichtet und dann aushöhlt.“ Wie man ein Panzerknacker-Iglu genau baut, haben Walter Würtl und Peter Plattner in bergundsteigen 1/12 beschrieben.

Walter Würtl beim Bau eines Panzerknacker-Iglus. Siehe ausführlich dazu bergundsteigen #78 (1/12)

Aber auch das richtige Timing ist wichtig. „Oft wird viel zu lange nach dem richtigen Weg gesucht, plötzlich ist es dunkel, man ist völlig erschöpft und möglicherweise an einer ungünstigen Stelle“, sagt Bruno Hasler. „Wenn man sich rechtzeitig für ein Biwak entscheidet, hat man noch Zeit und Kraft einen geeigneten Ort zu suchen, der windgeschützt(er) ist (weg von Graten, Kuppen, Gipfeln) und genug weichen Schnee bietet. Es ist auch nicht zu unterschätzen, wie langwierig und anstrengend das Biwakbauen ist.“

Erschienen in der
Ausgabe #117 (Winter 21-22)

bergundsteigen #117 cover