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Erschöpfungserscheinungen ohne äußere Unfalleinfluesse
08. Feb 2024 - 11 min Lesezeit

Notfall Alpin (8/9): Neurologisches Problem (D). Teil 2 be FAST

Neben den in bergundsteigen #104 durch Gewalt von außen (Trauma) verursachten neurologischen Problemen (D=Disability) kann es auch durch Erkrankungen bzw. internistischen Problemen zu einem solchen D-Notfall kommen. Im folgenden Beitrag beschäftigen wir uns mit solchen Notsituationen und haben uns als Rahmen einen Klettersteig ausgesucht.

alle Artikel der Serie: Notfall Alpin

Im Vergleich zu dem „Neurologischen Problem, z.B. nach Steinschlag beim Abseilen“ in der Ausgabe #104 steht jetzt nicht die „behelfsmäßige Bergrettung“ – hochprusiken, kapern, abseilen – im Vordergrund, sondern die Medizin – wobei es nun etwas komplexer wird (was sich schon beim Abarbeiten des Schädelhirntraumas in Ausgabe #104 angekündigt hat).

Aufbauend auf dem seit Beginn dieser Beitragsserie verwendeten ABCDE-Schema sowie unter Zuhilfenahme der angebotenen Akronyme ist es aber notwendig, etwas tiefer in das Thema einzutauchen. Das erfordert in erster Linie die Vielschichtigkeit von D-Problemen und es erscheint uns auch zumutbar, da unsere „Notfall- Alpin“ Serie nun schon recht fortgeschritten ist. An prominentester Stelle solcher nichtraumatischer D-Notfälle steht der Schlaganfall (früher Apoplex), d.h. eine akute Minderversorgung des Gehirns mit Blut und somit auch mit Sauerstoff und Glukose.

Eine fremde Person klagt am Klettersteig über Erschöpfungszustände.
Abb. 1 Ausgangssituation: Eine fremde Person klagt am Klettersteig über Erschöpfungszustände.

Im vorliegenden Szenario geht es also um das Erkennen eines Schlaganfalls sowie die entsprechende Erstversorgung. Ziel des beschriebenen Ablaufs ist es, eine sicher anwendbare Methode in die Hand zu bekommen, welche

  • die wichtigsten Symptome eines vermuteten Schlaganfalls aufzeigt (Entscheidungskompetenz)
  • die Erste-Hilfe-Maßnahmen anbietet (Skills)
  • mögliche andere Ursachen ergründet (Differentialdiagnosen)

Plötzlich erschöpfte Person in einem Klettersteig

Also: Am Klettersteig unterwegs klagt eine fremde Person, welche bereits eine Zeit lang vor uns unterwegs war, plötzlich über massive Erschöpfungszustände (Abb. 1). Im Zuge eines durchgeführten 10 für 10 (bergundsteigen #99 ff) kann die Gesamt-Situation sowohl für die betroffene Person als auch für mich als „sicher“ eingestuft werden.

erste hilfe schlaganfall am berg
Abb. 2 Der Notfallort erlaubt eine Lagerung, nachdem durch 10 für 10 die Gesamtsituation beurteilt und weiters sichergestellt wurde, dass Patientin und Retter sauber gesichert sind.

Alle Beteiligten sind mithilfe ihres Klettersteig- Sets mit dem Stahlseil verbunden und ein Abrutschen/-stürzen ist nicht möglich. Glücklicherweise befindet sich der Notfallort auch an einer weniger exponierten Stelle, so dass die Lagerung der betroffenen Person möglich ist (Abb. 2). Ein wichtiger Slogan der REGA (Schweizerische Rettungsflugwacht, zusammengesetzte Abkürzung aus Rettungsflugwacht und Garde Aérienne) verdeutlicht hier nochmals den hohen Stellenwert der Sicherheit aller Beteiligten:

„Patient/Mission first – but safety always.“ Auch in einer vermeintlich einfachen und gut überschaubaren Situation wie dem Klettersteig gilt es, die Sicherheits- bzw. Risikolage aktiv und bewusst zu verifizieren und zu artikulieren.

Ersteindruck

Im 0-ABCDE, also dem ersten (offensichtlichen) Eindruck, stellt sich die Person wie folgt dar: Die Atemwege (A=Airway) scheinen frei, da die Person spricht und dabei keine auffallenden Atemgeräusche zu hören sind.

Eine sofortige Fixierung der HWS mithilfe der Hände ist nicht indiziert, da sich die Person in unserem Beisein selbständig niedergehockt hat und wir uns sicher sind, dass kein Trauma vorliegt; das wissen wir, weil wir immer in unmittelbare Nähe waren und weder ein Sturz, Steinschlag, o.Ä. stattgefunden hat.

Die Atmung (B=Breathing) ist normal, regelmäßig und unaufgeregt. Zyanosen (Blaufärbungen der Haut, initial an den Lippen –>Sauerstoffmangel) sind nicht erkennbar.

Bei Kreislauf (C=Circulation) stellen wir Blässe und Schweiß auf der Haut fest.

Der etwas schlaffe Gesichtsausdruck fällt uns beim Überprüfen des Neurologischen Status (D=Disability) auf (Abb. 3). Ebenso die teilweise wirren Äußerungen des Patienten.

Die äußeren Einflüsse (E=Environment) sind aktuell kein Thema.

–>in D auffällig, potentiell kritisch erkrankte Person: Start ABCDE-Schema

ersteindruck, schlag anfall symptome
Abb. 3 Der Ersteindruck deutet aufgrund des neurologischen Status – schlaffer Gesichtsausdruck, wirre Äußerungen – auf ein D-Problem hin. Mit einem Notruf wird die rettungskette in Gang gesetzt.

Erster ABCDE-Durchgang

Die in allen vorangegangenen Beiträgen vermittelte primäre Bewertung (Primary Assessment) verkürzen wir an dieser Stelle (bergundsteigen #99ff.): Denn es ergeben sich in unserer Situation am Klettersteig in ABC keine Auffälligkeiten – außer Schwitzen – sowie keine Anzeichen auf ein Trauma. Wir steigen also bei D ein und führen jetzt erstmalig einen FAST-Test (Abb. 4) durch:

  • FACE Person auffordern, die Zähne zu zeigen und zu lächeln.
  • ARM Absinken im Armhalteversuch: Person schließt die Augen und streckt beide Arme mit den Handflächen nach oben 10 Sekunden vor sich aus.
  • SPEECH Sprachdefizite: Person auffordern, einen einfachen Satz nachzusprechen.
  • TIME Herausfinden, wann die Person zuletzt in normalem, neurologisch nicht verändertem Zustand angetroffen wurde.
FAST-Schema zur Bewertung des Neurologischen Status
Abb. 4 Das FAST-Schema zur Bewertung des Neurologischen Status (D=Disability).

Ergänzend – und damit aus FAST, beFAST (Abb. 5) wird – kann dazu Folgendes überprüft werden:

  • bALANCE (Gleichgewicht/Fußschwäche), d.h. die Person soll mit dem Fuss „Gas geben“ bzw. schaut man sich z.B. Gangunsicherheit an (was in unserer Situation nicht durchführbar ist.)
  • eYES (Augen), Check ob Person verändertes Sichtfeld, Doppelbilder, Sehverlust, Auffälligkeit der Pupillen aufweist (siehe bergundsteigen #104). Wie viele der hier bisher beschriebenen Notfälle ist auch der Schlaganfall sehr zeitkritisch: „Time is brain“.

Mithilfe des (be)FAST-Tests im Rahmen des D-Checks kann aber zügig ein kritischer Zustand der Person ermittelt und z.B. der Verdacht eines Schlaganfalls abgeklärt werden. Ein Schlaganfall kann vorliegen, wenn im FAST-Schema ein (!) Punkt gegeben ist.

In unserem Fall hängt ein Mundwinkel stark nach unten und kann bei der Aufforderung zum Lächeln auch nicht mehr angehoben werden. Der Armtest ist unauffällig. Die Sprache ist klar und nicht verwaschen, allerdings ist der Inhalt verwirrend (ZOPS → bergundsteigen #104).

der beFAST-Test
Abb. 5 beFAST: Der FAST-Test kann zu beFAST ergänzt werden: #1 Face = Zähne zeigen/ lächeln, #2 Arm = Augen zu & beide Arme nach vorne strecken (Handflächen oben), #3 Speech = einfachen Satz sagen, #4 Time = letzter Zeitpunkt „normal“, #5 balance = „Gas geben“, #6 eyes = Auffälligkeiten Augen checken.
befast Test: Auffälligkeiten in den Augen checken.

Als Begleitsymptomatik (vegetativ gesteuert, daher unspezifisch, ergo Zusatzindiz für eine Störung) gibt die Person Schwindel, leichten Kopfschmerz und innere Unruhe an (denkbar wäre auch Übelkeit mit/ohne Erbrechen). Daher müssen wir unverzüglich die Profis verständigen, also die Rettungskette via Notruf in Gang setzen.

➝ in D kritisch erkrankte Person: ABCDESchema (re)evaluieren

Zweiter ABCDE-Durchgang

Wir schützen die Person vor dem Auskühlen (E=Environment/äußere Einflüsse, Abb. 6). In A oder B sind keine spezifischen Maßnahmen nötig, außer die fortlaufende Überwachung. Darüber hinaus wenden wir uns der – wenn auch fremden – Person durch „umsichtige Zuneigung“ zu.

Die Betreuung hat gerade in dieser Notsituation einen hohen Stellenwert. Neben Angst und großem Unverständnis kann der Schlaganfall-Patient auch uneinsichtig sein und versuchen, die Symptome kleinzureden.

Auch kann es zu irrationalen Handlungen kommen, daher die Sicherungskarabiner des Klettersteig-Sets im Auge behalten und evtl. Redundanz schaffen. Im weiteren Verlauf evaluieren wir immer wieder unsere ABCDE-Befunde.

Bzgl. der Lagerung wäre laut Lehrbuch bei in A, B und C stabilen Patienten ein erhöhter oder aufgerichteter Oberkörper ideal. In unserer Situation versuchen wir mithilfe der Rucksäcke und durch Halten bzw. Abstützen eine solche Position einzurichten. Grundsätzlich soll hierbei aber auch der Wunsch der betroffenen Person beachtet werden.

waermeerhaltende Maßnahmen
Abb. 6 Schutz vor Auskühlung in E ist – wie immer – relevant im zweiten ABCDE-Durchgang. Besonders beim vorliegenden Problem in D, spielt die Betreuung des Patienten eine wichtige Rolle – Stichwort: „umsichtige Zuneigung“.

Zu erwartende Komplikationen

Neben der Möglichkeit eines Krampfanfalles (siehe bergundsteigen #104) ist ein Bewusstseinsverlust (WASB-Schema > Wach, vgl. bergundsteigen #104) komplikationsbehaftet. Dies kann zu zusätzlichen Problemen der Atemwege (A) führen.

Aufgrund der vorangegangenen Artikel (bergundsteigen #99ff.) wissen wir, dass dieses A-Problem mittels Chinlift/Esmarch oder als Backup stabile Seitenlage bei ausreichend spontan atmenden Personen vorübergehend gut behoben werden kann. Gerade hier (kein Trauma) ist die stabile Seitenlage ein probates Mittel.

Meines Ermessens nach ist es dabei vollkommen egal, welche Technik verwendet wird. Die sogenannte „Recovery Position“ ist dann erreicht, wenn der untere Mundwinkel tiefer liegt als der Magen (bei Seitenlage; siehe bergundsteigen #100).

Exkurs: Differentialdiagnosen (DD)

Wer D sagt, muss auch DD sagen

Zwar ist der Schlaganfall einer der am häufigsten auftretenden Notfälle, dennoch können auch andere – meist weniger schlimme Ursachen – ähnliche Symptome aufweisen. Maßgeblich beim Schlaganfall ist der abrupte Beginn des D-Problems: plötzlich, auf einen Schlag. An dieser Stelle wichtig: Gibt es kausale Gründe für die plötzliche Verschlechterung des Zustandes der betroffenen Person?

Wenn in privaten oder geführten Gruppen ein Notfallereignis eintritt, ist es hilfreich zu wissen, welche (Vor-)Erkrankungen die betroffene Person hat. So kann bspw. eine falsch dosierte Insulintherapie Schlaganfall-ähnliche Symptome (beFAST) hervorrufen. Diesen Hinweis bitte keinesfalls als Aufruf verstehen, nun Krankheitslehre zu betreiben, sondern vielmehr als Appell, zusätzlich auch nach „links und rechts“ zu denken und andere Ursachen mit in Betracht zu ziehen.

Der Grundsatz „no further harm“ hat immer seine Gültigkeit! Daher im Zweifel und bei Alarmzeichen im FAST➝ „beFAST!“: sofort einen Notruf absetzen und schnellstmöglich professionelle Hilfe organisieren. Im Folgenden möchten wir weitere Krankheitsbilder aufgreifen, die einem beim Klettersteiggehen – und anderswo – „begegnen“ können und auf den ersten Blick den zuvor beschriebenen Symptomen eines Schlaganfalls ähneln.

Als mögliche Differentialdiagnosen zu einem Schlaganfall ergeben sich z. B. Hitzeerschöpfung, Sonnenstich und Hypoglykämie. Nicht vergessen darf man, dass auch weitere Erkrankungen, die primär in B oder C Komplikationen bieten, starke D-Symptomatiken zeigen können. Hier ist an eine zerebrale Hypoperfusion zu denken, ausgelöst durch akutes Koronarsyndrom, Herzrhythmusstörungen oder Höhenlungenödem.

Auf Grund der Komplexität möchten wir nicht auf alle möglichen Differentialdiagnosen eingehen, sondern zeigen an Hand zweier ausgewählter Erkrankungen die mögliche Ähnlichkeit der Symptomatik, die unterschiedliche Maßnahmen erfordern. Wir erklären euch kurz die pathophysiologischen Unterschiede von Hitzeerschöpfung, Hypoglykämie und dem Schlaganfall:

Hitzeerschöpfung

Bei der Hitzeerschöpfung besteht ein Wasser- und Salzverlust im Rahmen von körperlicher (Über-) Anstrengung ohne eine Erhöhung der Körpertemperatur. Ohne entsprechende Zufuhr von außen durch elektrolythaltige Getränke kommt es zur Abnahme des extrazellulären Flüssigkeitsvolumen (fehlendes Blutvolumen im Körper) mit einem daraus resultierenden Versagen des Kreislaufs.

Hypoglykämie

Bei der Hypoglykämie sinkt der Serumglukosespiegel unter einen bedrohlichen Wert ab. Da viele Zellen des Körpers und vor allem die Gehirnzellen zur Energiegewinnung auf eine kontinuierliche Energiezufuhr in Form von Glucose angewiesen sind, ist es leicht verständlich, wieso eine Hypoglykämie so gefährlich werden kann. Kommt es auch hier nicht zu einer Zufuhr von gezuckerten Getränken oder Traubenzucker, kann die Hypoglykämie in eine Bewusstlosigkeit münden.

Schlaganfall

Der Schlaganfall definiert sich als akute Durchblutungsstörung oder Blutungen des Gehirns mit neurologischen Ausfällen. Es kommt zu einem regionalen Mangel an Sauerstoff und Nährstoffen und damit in weiterer Folge zum Absterben von Hirngewebe. Wird der Schlaganfall nicht schnellstmöglich in einer Klinik behandelt, so breitet sich das absterbende Areal immer weiter aus und es kann zum unmittelbaren Tod führen.

Warum eine DD?

Wird man plötzlich von einem medizinischen Notfall überrascht, „klammert“ man sich gerne an die ersten erkennbaren Symptome – insbesondere, wenn einem dazu ein passendes Krankheitsbild in den Sinn kommt. Wie die Abb. 6 zeigt, kann es aber durchaus Sinn machen, keine Scheuklappen aufzusetzen und sich auf dieses Erkrankungsbild zu fixieren, da andere Erkrankungen mit gleichen Symptomen ggf. eine komplett andere Behandlungsstrategie erfordern.

Um solche Fixierungsfehler zu vermeiden, kann man sich zwei wichtige Fragen stellen:

  • „Warum tritt das Problem gerade jetzt auf?“
  • „Gibt es kausale Gründe für die plötzliche Verschlechterung der Person?“

Um Antworten darauf zu finden, gibt es einige Punkte, die man berücksichtigen sollte:

  • Gibt es noch weitere Symptome?
  • Hat die Person bekannte Allergien oder Unverträglichkeiten?
  • Nimmt sie Medikamente ein und hat ggf. vergessen, die Medikamente einzunehmen?
  • Sind Vorerkrankungen bekannt?
  • Wann wurde die letzte Mahlzeit eingenommen (Unterzucker)?
  • Gibt es Risikofaktoren wie extreme Belastung, etc.?

Ist man mit neuen Bergkollegen/-innen oder Gästen/Kundinnen unterwegs, ist es sinnvoll, sich über bestehende Vorerkrankungen, wie beispielsweise Diabetes Mellitus, zu informieren, um im Notfall möglichst schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen und sofort helfen zu können.

Bei sportlichen Aktivitäten kommt es häufig zu Erschöpfungszuständen, Dehydration oder Hypoglykämie. Häufig lassen sich solche Erkrankungen gut selber behandeln. Dabei ist es aber wichtig, seine Fähigkeiten nicht zu überschätzen oder die Situation „runter zu spielen”. So ist es z.B. zwingend notwendig, dass eine betroffene Person noch einwandfrei schlucken kann, um Getränke oder einen Energieriegel aufnehmen zu können.

Ist dies nicht mehr möglich, ist die Person bereits instabil und benötigt dringend Hilfe durch Profis. Im Zweifelsfall sollte immer von einer ernsthaften Erkrankung ausgegangen und zügig Hilfe angefordert werden!

Take home Message

Beurteile die Sicherheit und kommuniziere. Denk an die ABCDE-Struktur. Nutze beFAST als Schema, um einen Schlaganfall zu erkennen und anschließend unverzüglich einen Notruf abzusetzen.

Zum Teil 7 der Serie Notfall Alpin: neurologisches Problem Teil 1

Zum Teil 9 der Serie Notfall Alpin: E-Problem nach Skisturz.

Erschienen in der
Ausgabe #108