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Notfall alpin
10. Aug 2020 - 8 min Lesezeit

Notfall Alpin: Pandemie – quo vadis? Teil 1

Aus gegebenem Anlass haben wir unseren Notfall Alpin-Autor Philipp Dahlmann und sein Team gebeten, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Erste-Hilfe-Maßnahmen zu betrachten. Mit dem Ziel, einen Überblick über viele bekannte Probleme für die Rettungsdienste und einige neue für die Ersthelferin - nicht nur am Berg - zu geben.

COVID-19 und die Erste Hilfe am Berg

Vorab

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Maßnahmen im Rahmen der Ersten Hilfe „nur“ ergänzt werden müssen. So ist es z.B. schon lang Standard, bei der Ersten Hilfe Handschuhe zu tragen, um sich gegen und den Patienten vor einigen Erregern zu schützen. In diese Logik reihen sich auch die Empfehlungen bei COVID-19-Verdacht ein. 

Situation 1

Zuerst einmal die „einfache“ Nachricht: Handelt es sich bei dem Verletzten um einen Kollegen aus deinem Haushalt – bzw. sehr engem Kontakt usw. – bleibt alles wie vor COVID-19. Damit wird für die meisten Leserinnen ein Großteil der zu erwartenden Erste-Hilfe-Situationen am Berg abgedeckt sein. 

Inwiefern 30:2 reanimiert werden soll, sollte situativ entscheiden werden (vgl. bergundsteigen #100).

Situation 2

Bei einer haushaltsfremden Person sieht es etwas anders aus. Einige Handlungsempfehlungen lauten dann:

Mund-Nasen-Bedeckung (MNB, Abb.1) für alle Beteiligten, wobei sich der Verletzte idealerweise z.B. den Buff schon vor Kontakt mit dem Helfer überzieht. 

Auf Seiten der Helfer ist analog vorzugehen, wobei der Nahbereich (1,5-2 Meter) so gut als möglich gemieden werden sollte. Viele Maßnahmen (Arm selber stabilisieren, Wunde abdecken, …) lassen sich auch aus dieser Entfernung einigermaßen gut anleiten oder durchführen (Verband anreichen, Rucksack/Rettungsdecke platzieren, …). 

Auch eine Einschätzung von A und B (nach unserem ABCDE-Schema) lässt sich in dieser Situation idealerweise aus der Distanz durchführen bzw. kann das situationsabhängig evtl. hintenangestellt werden. 

Abb. 1 MNS & MNB. Mund-Nasen-Schutz (MNS) ist industriell gefertigt, papierähnlich und mehrlagig – z.B: die klassische OP-Maske. Als Mund-Nasen-Bedeckung (MNB), auch Community-Maske genannt, gelten Buffs, Halstücher und alles andere, was über das Gesicht gezogen werden kann. Da Viren auch über die Schleimhäute übertragen werden können, empfiehlt sich weiters das Tragen einer (Schutz-)brille. Fotos: Archiv Dahlmann

Unkritischer Patient

Bei vielen Unfällen mit kleineren Folgen ist es mitunter vollkommen ausreichend, mit entsprechendem Abstand der Verletzten Person Beistand zu leisten und gemeinsam auf die professionelle Rettung zu warten. 

Kritischer Patient

Sollten wirklich Maßnahmen in unmittelbarem Nahbereich von A und B (Kopf überstrecken, Esmarch, …) durchgeführt werden, empfiehlt es sich, dass der Patient einen Mund-Nasen-Schutz (MNS, z.B.: industriell gefertigte OP-Maske) trägt. 

Auch wäre es denkbar, dass diese Maßnahmen durch eine anwesende Person des patienteneigenen Haushaltes erfolgen; der Ersthelfer unterstützt dabei mit Abstand und kann die Maßnahmen (ABC) auch gut „delegieren“. 

Selbstverständlich muss sein, dass die Anzahl an weiteren involvierten Personen so weit als möglich reduziert werden muss. Meist ist ein (!) Helfer im Nahbereich ausreichend. 

Wie in allen Notfall Alpin-Beiträgen mehrfach erwähnt, ist eine Abwägung zwischen Risiko und Nutzen immer geboten. Jemanden „einfach“ liegen lassen, geht gar nicht. Auch ist es nicht „sinnvoll“, dass sich um den Verletzten eine Rettungstraube bildet oder alle Präventionsmaßnahmen ignoriert werden. Daher sollte einfach immer ein Buff zur Hand sein und bei Bedarf als MNB benutzt werden. Möchte ich „besser“ vorbereitet sein oder habe eine „Sorgfaltspflicht/Verantwortung anderern gegenüber“, wäre ein Mund-Nasen-Schutz (MNS) für das Erste-Hilfe-Set sinnvoll. Dieser kann dann entweder dem Patient angelegt werden oder dient zur eigenen Verwendung.

Reanimation

Das Thema Reanimation wurde von der ERC (Europäische Fachgesellschaft für Reanimation) sehr gut für die Erste Hilfe aufgearbeitet (Abb. 2). 

Ergänzend zu diesen Empfehlungen gilt für das alpine Gelände: Reanimiere ganz normal 30:2 (vgl. bergundsteigen #100), wenn es eine haushaltseigene Person ist. Wenn nicht, fokussiere dich auf die Thorax-Kompressionen (vgl. bergundsteigen #99). 

  • 10 Sekunden für 10 Minuten
  • Eigenschutz: MNB verwenden, Schleimhütte (Augen) schützen, Handschuhe tragen
  • Einsatzprinzip:Zeitdauer im unmittelbaren Nahbereich von Mund/Gesicht reduzieren; ggf. seitlich annähern
  • Adaptierte Atmen- Kontrollebei Bewusstlosigkeit gemäß ERC: Kopf (klassisch) Überstrecken, dabei achsengerecht vorgehen > überprüfen der nun freien Atemwege (A) nur durch Beobachten der Thorax-/ Bauchbewegungen > anschließend Entscheidung über CPR (ja oder nein).
  • Vor Beginn der Thorax- KompressionenMund und Nase bestmöglich abdecken (Textil mehrlagig oder MNS verwenden)
  • Thoraxkompressionen startenund bis zum Eintreffen von Profis durchführen (siehe Ausgabe #99 & #100).

Handelt es sich um besondere Umstände wie bspw. Kind, Lawine und Ertrinkungs-Notfall, wäge ab: 

  • Wie lang brauchen die Profis noch zur Einsatzstelle? 
  • Habe ich eine Pocketmaske zur Verfügung und bin ich im Umgang mit ihr so geübt, dass ich Leckagen ausschließen kann? Stichwort Doppel C-E Griff, Maske nicht abnehmen und CPR durch min. 2 Personen.
  • Ist der Filter meiner Pocketmaske ausreichend für das Virus? Als Referenz gilt hier der HME-Filter (Heat and Moisture Exchanger, Abb. 3)in Kombination einer MBV (Masken-Beutel-Ventilation, Abb. 3).

Abb. 3 Masken-Beutel-Ventilation.Zwischen Beatmungsmaske (Doppel C-E Griff, vgl. bergundsteigen #110) und Beatmungsbeutel ist im Rettungsdienst standardmäßig ein Viren- & Bakterienfilter montiert. Wichtig ist, dass die Maske dicht sitzt und während der gesamten Reanimation nicht abgenommen wird.

COVID-19 / virale Pneumonie

Das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 löst die Krankheit „corona virus disease 2019“ aus – kurz COVID-19. Dieser Begriff fasst unterschiedliche Atemwegserkrankungen, hervorgerufen durch SARS-CoV-2, zusammen.  Beobachtet wurden bisher erkältungsähnliche Atemwegserkrankungen bis hin zu schweren viralen Lungenentzündungen.

Das Virus ist in der Lage, mehrere Zellen in unterschiedlichen Organsystemen zu infizieren, vor allem die Zellen des Lungengewebes. Jedoch kann das Virus auch Herzmuskelzellen, Darmzellen oder Zellen der Blutgefäß-Innenwand infizieren. Nach Eintritt des Virus in die Zelle beginnen vor allem zwei Prozesse. Zum einen wird die Zelle so „umprogrammiert“, dass sie weitere Viren produziert und ihre ursprüngliche Funktion verliert. Zum anderen aktiviert die infizierte Zelle das Immunsystem und eine Entzündung entsteht. 

Die Zellen in der Lunge haben die Funktion, die Blut-Luft-Schranke zu bilden. In der Lunge fließen kleine Blutgefäße (Kapillare) sehr nah an den Lungenbläschen vorbei. Der Raum dazwischen ist so dünn, dass Sauerstoff aus dem Lungenbläschen ins Blut diffundieren kann und Kohlendioxid aus dem Blut in das Lungenbläschen, um anschließend ausgeatmet zu werden. Die speziellen Lungenzellen bilden diese dünne, aber stabile Schranke. Das Prinzip der Diffusion funktioniert nur bei diesen minimalen Abständen. Zudem produzieren die Lungenzellen, genannt Pneumozyten, Substanzen, die die Lungenfunktion aufrechterhalten und der Immunabwehr dienen. Im Falle von SARS-CoV-2 werden, wie erwähnt, die Zellen der Lungen infiziert und zur Produktion neuer Viren genutzt. Sie können also ihre normalen Aufgaben, nämlich Bildung der dünnen Schranke und Produktion bestimmter Lungensubtanzen, nicht mehr erfüllen. Zudem lässt die Entzündung das Gewebe zwischen den Kapillaren und den Lungenbläschen anschwellen und weitere Zellen wandern ein. Der einst kleine Abstand wird um ein Vielfaches größer. Die Folge ist ein gestörter Gasaustausch aufgrund des vergrößerten Abstands. Der Körper wird mit weniger Sauerstoff versorgt.

Des Weiteren kann es zu einer Beteiligung des Herzmuskels, des Darms, der Gefäßinnenwand und anderer Organe kommen, eine ausgedehnte Entzündungsreaktion entsteht. Die gestörte Lungenfunktion, eventuell kombiniert mit einer ausgedehnten Entzündung und Freisetzung einiger Entzündungsmediatoren können schwere Verläufe annehmen. Im Verlauf können intensivmedizinische Therapie und Beatmung notwendig werden.

Forscher und Fachgesellschaften vermuten, gewisse Vorerkrankungen begünstigen schwere Verläufe. Diese schweren Verläufe können jedoch auch ohne Vorerkrankungen auftreten. Bei dem Großteil der PatientenInnen wird jedoch ein milder Krankheitsverlauf beschrieben.

Da der derzeitige Forschungsstand viele Krankheitsmechanismen noch nicht vollständig erforscht hat, können keine abschließenden Informationen zu COVID-19 gegeben werden.

„Jede Form einer akuten respiratorischen Infektion (mit oder ohne Fieber) mit mind. einem der folgenden Symptome, für das es keine andere plausible Ursache gibt: Husten, Halsschmerzen, Kurzatmigkeit, Katarrh der oberen Atemwege, plötzlicher Verlust des Geschmacks-/Geruchssinnes.“

(Falldefinition für eine SARS-CoV-2 Infektion entsprechend dem Gesundheitsministerium in Österreich, Mai 20)

Im Folgenden haben wir versucht, dir zahlreiche Infos rund um das Thema COVID-19 und „womit kann man sich wie anstecken“ aus aktuellen wissenschaftlichen Studien, Diskursen usw. möglichst nachvollziehbar aufzubereiten, damit du dir selbst ein Bild zur Lage machen kannst. Und ja, es ist etwas umfangreicher und aufwändiger geworden, aber es lässt sich im Bereich der Ersten Hilfe, Bergrettung usw. gut handhaben. Das ein oder andere 10-für-10 hilft dabei sicherlich weiter, gute Entscheidungen zu treffen.

Folgende Punkte gilt es dabei zu berücksichtigen: 

  • Tröpfcheninfektion durch Anhusten bzw. Face to Face möglichst reduzieren
  • Übertragungsmöglichkeit durch Aerosole berücksichtigen
  • Schmierinfektionen vermeiden

Ziel ist es, auf Grundlage dieser aktuell verfügbaren Information (Stand 25. Mai 2020) einen allgemeinen Überblick zu geben. Weder meinen Kollegen noch mir ist es möglich „in Stein gemeißelte“ Aussagen zu treffen. Dennoch sind wir der Meinung, einige wichtige Punkte herausarbeiten zu können und als Handlungsoption anzubieten. Dabei wäre unsere Erwartung, etwas mehr Handlungssicherheit im Feld der Ersten Hilfe (am Berg) zu ermöglichen. Wir wollen keinesfalls (zusätzlich) verunsichern, sondern ganz im Gegenteil jede und jeden dazu animieren Erste Hilfe zu leisten.

Teil 2: Infektionsrisiko & Erste Hilfe am Berg

Erschienen in der
Ausgabe #111 (Sommer 20)

bergundsteigen 111 (Sommer 2020) Cover